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Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber Bloß keine Festschrift, darauf bestand Anselm Doering-Manteuffel wiederholt

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Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

Bloß keine Festschrift, darauf bestand Anselm Doering-Manteuffel wiederholt– zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Das gründet nicht allein in dem von ihm vielfach zum Ausdruck gebrachten und inzwischen von vielen anderen geteilten Unbehagen gegenüber dieser Textgattung im Allgemeinen, sondern entspringt auch der–berechtigten–Überzeugung, dass es noch zu früh sei für eine Coda zu seinem wissenschaftlichenŒuvre. Doch da der langjährige Direktor des Tübinger Seminars für Zeitgeschichte am 19. Januar 2019 siebzig Jahre alt geworden ist, möchten und können wir ihn nicht ungewürdigt davonkommen lassen. Keine Festschrift also, aber eine Werkschau, die einen Einblick in sein wissenschaftli- ches Denken und Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten gewährt. Wie wenige andere hat Anselm Doering-Manteuffel die deutsche Zeitgeschichtsschreibung des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts geprägt sowie durch seine Interpretamente angeregt, bereichert und vorangebracht. Historismus und Anti- historismus, Westernisierung und „Nach dem Boom“ sind nur drei prägnante Deutungsangebote, welche auch die vorliegende Sammlung ausgewählter Auf- sätze bestimmen. Der Geehrte hat nicht allein das Fach, auch durch seine enga- gierte Mitarbeit in vielen Gremien und Institutionen, mitgeprägt, sondern gleichfalls eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern. Sprechen für den Zeit- historiker Anselm Doering-Manteuffel seine wissenschaftlichen Beiträge, so wird der akademische Lehrer, seine Wirkung und besondere Ausstrahlung, in ihnen allenfalls in Ansätzen erkennbar. Deshalb möchte dieses Vorwort zumindest in einigen Sätzen auch seinen Denkstil und Habitus aufscheinen lassen, indem es einen kursorischen Blick in die Danksagungen von Arbeiten wirft, die er in den vergangenen drei Jahrzehnten inspiriert und begleitet hat. Dadurch sollen ex- emplarisch zudem auch andere Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen, die den Tübinger Denkraum ebenfalls prägten, wenngleich sie nicht für den vorlie- genden Band verantwortlich zeichnen. Denn Vorworte sind nicht nur ergiebig, um Auskunft über Netzwerke, Machtstrukturen und strategische Interessen im wis- senschaftlichen Feld zu geben, sie lassen auch weichere Faktoren zu Tage treten, denen wissenschaftsgeschichtlich für gewöhnlich geringere Relevanz zuge- schrieben wird: Welches Arbeitsklima und welche Debattenkultur, welcher Ton und welche Atmosphäre herrschen an einem Institut?¹

Mit dem Seminar für Zeitgeschichte und insbesondere dem dort beheimateten Oberseminar, so der basso continuo, prägte Anselm Doering-Manteuffel eine

Jan Plamper, Danke, danke, danke, in: Die Zeit, 31 vom 24. Juli 2008, URL: https://www.zeit.de/

2008/31/PS-Danksagung/komplettansicht, zuletzt eingesehen am 03.01.2019.

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akademische Atmosphäre von Seltenheitswert: einen„Freiraum“(Günther 2004, Goller 2012), der von Anfang an bestimmt war von einer„persönlich freundlichen und wissenschaftlich anregenden Atmosphäre“ (Sauer 1999) und in dem sich

„intellektuelle Herausforderungen mit einer menschlichen Atmosphäre ideal verbanden.“(Metzler 1997). Es handelte sich vor allem um einen„weitestgehend von Allüren freien Raum“, in dem alle Beteiligten ihr „wissenschaftliches In- strumentarium gegenseitig schärfen konnten“(Reichherzer 2012). Das ist in einem von Wettbewerb und Eitelkeiten geprägten System alles andere als selbstver- ständlich.Viele der Schülerinnen und Schüler verbanden–und verbinden–über Generationen hinweg enge Freundschaften: Das Oberseminar bot nicht nur

„fachlichen und freundschaftlichen Rückhalt“(Eichenberg 2011), sondern sorgte manchmal gar für„Freude und Vergnügen“(Esposito 2011).

Das gründete nicht zuletzt in der Art und Weise, wie Anselm Doering-Man- teuffel wissenschaftlich anregte und akademisch betreute:„Seine wissenschaft- liche Neugier und seine große Offenheit“ waren und sind uns „Vorbild und Richtschnur“(Gerstung 2016). Wiederholt ist zudem von„großer Freiheit“(Etze- müller 2001, Mende 2011),„Laissez-faire-Politik“(Eichenberg 2011) oder„freier Hand“(Kruip 1999) die Rede. Offenbar verabreichte er vielen die richtige„Dosis von Freiheit, Vertrauen und Ratschlägen“(Reichherzer 2012). Als akademischer Lehrer hat er sowohl„fordernd motiviert“(E. Conze 1995) als auch weitgehend auf ein„intellektuelles Gängelband“(V. Conze 2003) verzichtet und dennoch „auf subtile Art“überzeugt (Esposito 2011). Er zeigte„unerschütterliches Vertrauen“

(Angster 2012) und fand die richtige Mischung von„zuversichtlicher Distanz und engagiertem Interesse“(Angster 2003); er sorgte dafür, „dass man weder sich selbst noch das, was man tut, zu ernst nimmt“(Mende 2011). Anselm Doering- Manteuffel ist also jemand, der „den Denkstil zu prägen vermag, obgleich er dieses gar nicht beabsichtigt“(Esposito 2011)–ein„unprätentiöser“ „Meister der flachen Hierarchien“(Leendertz 2006).

In seinen eigenen Forschungen spiegelt sich diese geistige Liberalität auf vielfältige Weise wider. Thesen werden nicht in der Abgeschiedenheit der Stu- dierstube, sondern vielmehr im steten Gespräch und engagierten Austausch entwickelt. In den Diskussionen galt das an sich Selbstverständliche, in der Realität aber keineswegs immer Übliche: Es zählt das Argument und nicht die akademische Stellung seines Urhebers. Von größter Bedeutung ist indes die Be- reitschaft, die eigene Perspektive zu hinterfragen wie auch den eigenen Standort zu kontextualisieren. Es gehört zu den markantesten Strukturmerkmalen im Denken von Anselm Doering-Manteuffel, dass die Historisierung des Historikers bei sich selbst zu beginnen habe.Vielleicht gründet auch darin seine Affinität zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit selbst erlebten und beobachteten VIII Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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Phänomenen: Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden und ihre wissen- schaftliche Behandlung also.

Dies hat sicher auch mit seinem akademischen Werdegang zu tun: Auf seine Marburger Studienjahre zwischen 1969 und 1975 ist Anselm Doering-Manteuffel immer wieder zurückgekommen. Die Erfahrung einer gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften ideologisierten Universität, durchzogen von tiefen Gräben und scharfen Konflikten, die mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung kaum noch etwas zu tun hatten, hat ihn einerseits abgestoßen, andererseits jedoch früh sein Interesse an den Zusammenhängen von Ideologie und Sozialkultur–nicht nur im Mikrokosmos einer Universität–geweckt. Das brachte ihn mit Ernst Nolte in Verbindung, der nach dem Erfolg seines Buches„Der Faschismus in seiner Epoche“² 1965 einem Ruf an die Philipps-Universität gefolgt war. In der Per- spektive einer Ideologiegeschichte der Moderne fiel in die Marburger Zeit Doering- Manteuffels Noltes Arbeit an seiner Studie„Deutschland und der Kalte Krieg“, die 1974 erschien.³ Von ihr gingen wichtige Impulse auf Doering-Manteuffel aus, der Nolte Mitte der 1970er Jahre nach Berlin folgte. Die 1980 am Friedrich-Meinecke- Institut abgeschlossene Dissertation über die Haltung der deutschen Katholiken zur Wehrfrage in der Ära Adenauer, die im Jahr darauf unter dem Titel„Katholi- zismus und Wiederbewaffnung“ publiziert wurde,⁴ war zum einen ein auch programmatisch wichtiger Beitrag zu einer nicht in der Kirchengeschichte be- ziehungsweise den theologischen Fakultäten angesiedelten Kirchlichen Zeitge- schichte. Mit ihr war eine Entwicklung angestoßen, die wenige Jahre später zur Begründung der sich programmatisch von konfessionellen Limitierungen, auch institutionellen, lösenden und zugleich einer simplen Säkularismusthese wider- sprechenden Veröffentlichungsreihe „Konfession und Gesellschaft“ (seit 1988) führte. An dieser Reihe wirkte Doering-Manteuffel als Gründungsherausgeber und–immer wieder–als Autor mit.⁵

Die Dissertation war aber zum anderen ein wichtiger, nicht zuletzt ideen- historisch akzentuierter Beitrag zu der sich seit den 1970er Jahren herausbilden- den historischen Bundesrepublikforschung. Die Entwicklungen, die die Studie aufgriff, lagen in den Jahren, in denen sie entstand, gerade einmal etwa zwei Jahrzehnte zurück. Sie waren, wie es Doering-Manteuffel fast vier Jahrzehnte

Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus. München 1963.

Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg. München 1974.

Anselm Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948–1955. Mainz 1981.

Zum konzeptionellen Profil der Kirchlichen Zeitgeschichte s. vor allem:Anselm Doering-Man- teuffel/Kurt Nowak(Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Stuttgart 1996.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber IX

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später nennen würde, Vorgeschichte der Gegenwart,⁶auch wenn der Struktur- bruch der 1970er Jahre die Ära Adenauer als eine weit entfernte Zeit erscheinen ließ. Gegenwartsnahe Entwicklungen, das war der entscheidende Punkt, lassen sich historisieren. Aus geradezu zeitgenössischer Nähe kann dennoch analytische Distanz entstehen, wie es auch das einflussreiche zweite Buch „Die Bundesre- publik in der Ära Adenauer“(1983) demonstrierte, das auf dieser Grundlage zur Historisierung der jungen Bundesrepublik beitrug.⁷ Innovativ war an dieser Bundesrepublikgeschichtsschreibung, dass sie die westdeutsche Geschichte nicht primär in eine nationalhistorische Perspektive stellte, sondern konsequent in das internationale und transnationale Bezugssystem des Ost-West-Konflikts. Was Doering-Manteuffel hier, zunächst gerichtet auf die Zeit nach 1945, zu interes- sieren begann, waren, wie es auch der in diesem Band abgedruckte Aufsatz„Im Kampf für Frieden und Freiheit“ deutlich werden lässt, die Konkurrenz von Ordnungsentwürfen sowie die Logik des Ost-West-Gegensatzes jenseits der blo- ßen Machtpolitik und des sozioökonomischen Antagonismus.⁸

Der Wechsel an die Universität Erlangen-Nürnberg 1983 bot die Möglichkeit, sich weiter auf dem Feld einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte zu bewegen. Mi- chael Stürmer und Horst Möller prägten in den 1980er Jahren die Neuere Ge- schichte an der fränkischen Universität. Beide standen für die Nähe von Geschichte und Politik, auch für eine politische Historie, einschließlich der Nähe zur Macht.

Von intellektueller oder wissenschaftlicher Provinzialität konnte keine Rede sein.

Nicht zuletzt wirkte die Omnipräsenz der„deutschen Frage“im politischen und akademischen Diskurs der Jahre vor 1989 hinein in das Habilitationsprojekt, in dem es um die Rolle und die Gestalt Deutschlands in Europa im 19. Jahrhundert ging und um die britische Europa- und Deutschlandpolitik – Europapolitik als Deutschlandpolitik–nach dem Wiener Kongress und angesichts der Revolution von 1848. Außenpolitik, darauf zielte die Untersuchung konzeptionell, ließ sich nicht nur diplomatiegeschichtlich analysieren– „Männer und Mächte“ –sondern als Geschichte eines von Ordnungsvorstellungen geleiteten politischen Handelns.

Und solche Ordnungsvorstellungen, auch außenpolitische,wiederum speisten sich aus sozialen Dynamiken, im englischen Falle dem Aufstieg der bürgerlichen Mit- telschichten und dem Bedeutungsgewinn ihrer Interessen. Die 1991 veröffentlichte

Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer(Hrsg.), Vorgeschichte der Ge- genwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016.

Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963. Darmstadt 1983.

Vgl. dazu auchAnselm Doering-Manteuffel, Ernst Noltes„Deutschland und der Kalte Krieg“im zeitgenössischen Kontext der frühen siebziger Jahre, in: Nipperdey, Thomas u.a. (Hrsg.), Welt- bürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Berlin 1993, S. 315–345.

X Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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Habilitationsschrift,⁹der zwei Jahre später in der Reihe„Enzyklopädie deutscher Geschichte“(EDG) der wichtige Band über„Die deutsche Frage und das europäi- sche Staatensystem 1815–1871“folgte,¹⁰ war aber nicht nur ein Beitrag zu einer sich erneuernden Politikgeschichte, sondern sie gehörte, damit zusammenhän- gend, auch zu jener Entwicklung, die in der deutschsprachigen Geschichtswis- senschaft der Internationalen Geschichte den Boden bereitete, die seit 1996 in der Reihe„Studien zur Internationalen Geschichte“, zu deren Gründungsherausgebern Doering-Manteuffel gehörte, ihr wohl wichtigstes Forum fand. Nicht zuletzt ging es darum,„die internationale Geschichte aus der Verengung auf eine Beziehungsge- schichte diplomatischer Eliten herauszuführen“und theorieaffin und methoden- bewusst einem„umfassenden Verständnis von internationaler Geschichte“Rech- nung zu tragen. Doering-Manteuffels eigene Überlegungen in diesem Kontext richteten sich insbesondere auf eine Perspektivierung internationaler Geschichte als Systemgeschichte. In die konzeptionelle Auseinandersetzung mit den Ent- wicklungsbedingungen und der Dynamik internationaler Systeme, geleitet von der Frage nach Strukturen und Handlungsmustern, flossen Überlegungen aus den Studien zum Kalten Krieg und zur europäischen Politik des 19. Jahrhunderts ein.¹¹ Die Systemperspektive überwand die traditionelle, weithin national beziehungs- weise nationalhistoriographisch verengte Außenpolitikgeschichte, ohne Außen- politik als geschichtswissenschaftliches Untersuchungsfeld zu diskreditieren. Das eröffnete zugleich Möglichkeiten, soziopolitischen und sozialkulturellen Wandel in einzelnen Gesellschaften mit inter- und transnationalen Dynamiken zu korrelieren.

Für die seit der Berufung an die Universität Würzburg 1988 Gestalt annehmende Westernisierungsforschung war das eine entscheidende Voraussetzung.

Nach nur drei Jahren in Würzburg wurde Anselm Doering-Manteuffel 1991 als Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an die Universität Tübingen berufen.

Dieses umfasste neben seinem eigenen Lehrstuhl für Zeitgeschichte eine Professur für westeuropäische Geschichte und eine Professur für amerikanische Geschichte und war mit einer eigenständigen Seminarbibliothek ausgestattet. An diesem Ort, im Hegelbau an der Wilhelmstraße in Tübingen, dem,wie er es formulierte,„letzten Monument der klassischen Moderne“aus bröselndem Beton, mit Linoleumböden und Spanholzmöbeln, entwickelte er seine Themenfelder und Forschungsansätze weiter. In den alltäglichen Diskussionen in der Kaffeeküche, vor allem aber im

Anselm Doering-Manteuffel,Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856. Göttingen u. a. 1991.

 Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–

1871. München 1993.

 Vgl. dazu den Beitrag Internationale Geschichte als Systemgeschichte, in diesem Band, S. 67–99.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber XI

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Oberseminar des Lehrstuhls, begann zudem ein Gesprächskontext, der seine

‚Schülerinnen und Schüler‘alle sehr geprägt hat. Dieses Oberseminar versammelte wöchentlich von 1991 bis 2016 im sogenannten „Quellenraum“ die Hilfskräfte, Doktorandinnen und Doktoranden, die AssistentInnen und Postdocs. Hier fand eine intensive Diskussion über Texte statt, ohne Semesterplan und Scheinerwerb.

Es war eine kontinuierliche intellektuelle Suchbewegung innerhalb einer sehr stabilen Gruppe. Die Folge waren gemeinsame Begrifflichkeiten, eine offene Dis- kussionskultur unter Gleichen und eine gemeinsame Vorstellung davon, wie Ge- schichtswissenschaft aussehen sollte und könnte. In diesem Kontext entstanden die Forschungsprojekte und -themen, die Anselm Doering-Manteuffel über die Jahre beschäftigt haben.

Das Interesse am Staatensystem, an den politischen Konfliktlagen der Ade- nauer-Ära und die programmatische Einordnung der Zeitgeschichtsschreibung in die allgemeine Geschichtswissenschaft, die um 1990 noch nicht selbstverständ- lich war, hatte er aus Würzburg mitgebracht. Dort war, im unmittelbaren zeitli- chen Umfeld des Mauerfalls, auch die Idee entstanden, die grundlegenden Ord- nungsvorstellungen des Westens zu historisieren. Daraus wurde in den frühen 1990er Jahren in Tübingen das Projekt zur„Westernisierung“der Bundesrepublik Deutschland.¹² Das Ende des Kalten Krieges öffnete den Blick für die Bedeutung der handlungsleitenden Ideen für die Politik auch des Westens; zugleich wurde im Kontext der deutschen Einheit deutlich, wie weit sich die beiden deutschen Ge- sellschaften auseinanderentwickelt hatten. Die Bundesrepublik, so die Annahme des Projekts, hatte sich in der Nachkriegszeit unter dem Einfluss der amerikani- schen Deutschlandpolitik, insbesondere der‚Kulturdiplomatie‘, zu einem‚west- lichen‘Land entwickelt; eine Entwicklung, die für die Stabilität der jungen De- mokratie von zentraler Bedeutung war. In diesem Projekt kamen zwei für das historische Denken und Arbeiten von Anselm Doering-Manteuffel wesentliche Ansätze zum Ausdruck: Zum einen war dies die Frage nach den ideengeschicht- lichen Prägefaktoren für die politische und gesellschaftliche Ordnung und Praxis, ein Ansatz, der sich als eine Gesellschaftsgeschichte der handlungsleitenden Ideen bezeichnen lässt.¹³ Hier wurde die alte Trennung der Geistesgeschichte von

 Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Wes- ternisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999;Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung.

Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, S. 357–391.

 Lutz Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Bemer- kungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogrammes, in: Raphael, Lutz/Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München 2006, S. 11–27.

XII Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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den Feldern der Politik- und Sozialgeschichte aufgehoben. Anders formuliert war dies die konsequente Hineinnahme kulturgeschichtlicher Perspektiven und Me- thoden in die Geschichtsschreibung zu„harten Themen“ –ein Ansatz, um den zu der Zeit in der westdeutschen Sozialgeschichte noch erbittert gestritten wurde.

Zum anderen fragte dieses Forschungsprojekt der frühen 1990er Jahre bereits ganz selbstverständlich nach transnationalen Bezügen: Westernisierung meinte den Kontakt mit und die Übernahme und Anverwandlung von Ideen, Praktiken und Institutionen aus einer anderen Gesellschaft in die westdeutsche: eine transat- lantische Transfergeschichte, die sich auch für den Einbau des Transferierten in den indigenen Kontext interessierte.

Schon in den Arbeiten dieser frühen Tübinger Phase wird die ganz grundle- gende Bereitschaft Anselm Doering-Manteuffels deutlich, den eigenen Standpunkt, die eigene Perspektive als Historiker konsequent zu historisieren. Und schließlich resultierten aus diesem Projekt auch die Überzeugung, dass die Zäsuren und Kontinuitätslinien nicht unbedingt den politischen Entwicklungen folgten, und das Interesse an der Analyse solcher tieferliegenden, strukturellen und ideellen seis- mischen Verschiebungen. Themenfelder, an denen diese Perspektive weiterentwi- ckelt wurde, sind etwa der Antihistorismus oder die Beschleunigung der Alltags- welt im frühen 20. Jahrhundert.¹⁴Das nächste große Forschungsfeld, das diese Perspektive konsequent weiterverfolgte, war jedoch zugleich der erneute und jetzt programmatische Schritt in die gegenwartsnahe Zeitgeschichte: das Projekt„Nach dem Boom“, das Anselm Doering-Manteuffel gemeinsam mit Lutz Raphael durch- führte.¹⁵Es untersuchte den tiefgreifenden Strukturbruch, den die westlichen In- dustriegesellschaften seit den 1970er Jahren durchliefen, den Weg von der keyne- sianisch gesteuerten Industriegesellschaft zur postindustriellen, post-fordistischen Dienstleistungsgesellschaft und zum‚neoliberalen‘Wettbewerbsstaat.

Die Wurzeln dieser Kooperation liegen in den langjährigen, sehr fruchtbaren und für alle Beteiligten prägenden Debatten mit den zeithistorischen Lehrstühlen von Lutz Raphael, Ulrich Herbert und Hans-Günter Hockerts. Die alljährlichen gemeinsamen Workshops führten zu einem vertrauensvollen und eingespielten Gesprächskontext zwischen ursprünglich recht verschiedenen methodischen und

 Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in diesem Band, S. 191–221;Anselm Doering-Manteuffel,Mensch, Ma- schine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 157–190.

 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitge- schichte seit 1970. 3. Aufl., Göttingen 2012;Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer(Hrsg.), Vor- geschichte der Gegenwart;Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinui- täten der Industriemoderne seit 1970, in diesem Band, S. 392–423.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber XIII

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inhaltlichen Zugriffen auf die Zeitgeschichte, die sich im Lauf der Zeit in gewissem Maße auch annäherten. Dieser beförderte auch die Öffnung für das neue The- menfeld und das Interesse an stärker strukturgeschichtlichen Fragen.

Die Beschäftigung mit dem Ende der Industriemoderne schärfte die Auf- merksamkeit für die grundlegenden Zäsuren des langen Jahrhunderts und deren tiefere Ursachen. Die Perspektive Anselm Doering-Manteuffels auf das 20. Jahr- hundert ist durch die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert geprägt. So liegt der postulierte Epochenbruch seit den 1970er Jahren eben darin, dass die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ordnungsvorstellungen der „Hochmoderne“, die strukturellen und ideellen Grundlagen der westlichen Industriegesellschaften, hier ihre Prägekraft verlieren. Diese Fragen nach den großen, handlungsleitenden Strukturen und Ideen beeinflussen seinen Blick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Ansatz derZeitbögensetzt dies konsequent um, indem hier Brüche, Überlappungen und Kontinuitäten der deutschen Geschichte zum ord- nungsstiftenden Prinzip einer Geschichtsschreibung der langen Strecke gemacht werden.¹⁶Die nationale, deutsche, Geschichte wird dabei in ihren transnationa- len, europäischen und atlantischen Kontext eingebettet. Die Reihe„Ordnungs- systeme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit“, die er entwickelt hat und bis heute mit herausgibt, bildet diesen Ansatz sehr gut ab.

Die Verbindung von Strukturgeschichte und Ideengeschichte einerseits, und von nationaler und transnationaler Perspektive andererseits, lässt sich vielleicht als Leitmotiv dieses Werks bezeichnen. Die in diesem Band versammelten Auf- sätze sollen dies abbilden. Es ist eine repräsentative Auswahl für die von Anselm Doering-Manteuffel bearbeiteten Themen, die zugleich ein Licht wirft auf sein geschichtswissenschaftliches (Selbst‐) Verständnis wie auch auf die drei Zeitbö- gen, die seine deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts konturieren. In Teil IDie Ordnung der Zeitgeschichtefinden sich Aufsätze, die das Jahrhundert in seiner Gänze in den Blick nehmen. Zeitgeschichte ist für Anselm Doering-Manteuffel immer mehr als‚nur‘das 20. Jahrhundert oder gar allein die Zeit nach 1945, sie ist stets auch vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Dies zeigt nicht zuletzt ein Aufsatz zum europäischen Staatensystem, der zudem sein kon- tinuierliches Interesse an der Internationalen Geschichte unterstreicht. Der zweite TeilSuchbewegungen in der Modernewidmet sich dem Zeitbogen von 1890 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die fortwährenden Auseinandersetzungen mit dem Fortschritt und dem Liberalismus werden zur bestimmenden Konfliktlinie, welche die deutsche Geschichte auch über den Zivilisationsbruch hinaus strukturieren.

 Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 33–66.

XIV Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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Die schrittweise und keineswegs unumstrittene Etablierung des westlich-libera- len Ordnungsmodells in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seine Neujus- tierung oder gar seine erneute Infragestellung zu seinem Ende hin sind Gegen- stand des dritten TeilsOst-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms.

Dass sich eine Einordnung dieser jüngsten Entwicklungen einer abschließenden Bewertung entzieht, betont Anselm Doering-Manteuffel in seinen Beiträgen im- mer wieder. Dies macht zugleich die charakteristische Herausforderung, aber auch den besonderen Reiz einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte aus, die, so sein oft wiederholtes Bonmot, bis zur„Tagesschau von gestern“reicht.

Der älteste in dieser Sammlung enthaltene Aufsatz zu denDimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaftstammt aus dem Jahr 1995, der jüngste hingegen ist 2018 erschienen und handelt vonDeutschlands 20. Jahrhun- dert im Wandel zeithistorischer Narrative.Wir haben eine formale Vereinheitli- chung vorgenommen und die Aufsätze durch eine eigenständige Bibliographie ergänzt. Auf eine Aktualisierung der Literatur haben wir in Absprache mit dem Autor in allen Fällen verzichtet. Offensichtliche Errata wurden stillschweigend behoben, ansonsten sind die Beiträge aber in ihrer ursprünglichen Fassung be- lassen worden.

Last but not leastist an dieser Stelle Dank abzustatten. Martin Rethmeier vom Verlag Oldenbourg/De Gruyter hat die Idee dieser Werkschau von Anfang an begrüßt und sich für ihre Umsetzung eingesetzt. Ebenfalls bei Oldenbourg/

De Gruyter hat Rabea Rittgerodt das Vorhaben geduldig und engagiert begleitet.

Jörg Baberowski und Lutz Raphael waren mehr als offen für die Aufnahme des Bandes in die 1998 von Anselm Doering-Manteuffel mitbegründete Reihe„Ord- nungssysteme“. Ohne unsere Hilfskräfte hätte dieser Band nicht entstehen kön- nen: Daher gilt unser großer Dank Marius Huber und Frank Kell aus Mannheim, Fabian Fehl und Michael Kubacki aus Marburg sowie insbesondere Philipp Körtgen und Christian Leroy aus Tübingen.

Eigentlich müssten alle Schülerinnen und Schüler von Anselm Doering- Manteuffel Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes sein, in dem sich ihrer aller Dank an den akademischen Lehrer und Mentor ausdrückt und zugleich der gemeinsame Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag. In diesem Bewusstsein und als Vertreterinnen und Vertreter eines viel größeren Personenkreises haben wir als Herausgeberinnen und Herausgeber das Buch geplant und auf den Weg gebracht und widmen es Anselm Doering-Manteuffel zum 19. Januar 2019.

Mannheim, Marburg, Tübingen und München, Januar 2019 Julia Angster–Eckart Conze–Fernando Esposito–Silke Mende

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber XV

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