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WERKSTEIN UND MEHRSCHALIGE WANDKONSTRUKTIONEN Stefan M. Holzer

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WERKSTEIN

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Werkstein

WERKSTEIN UND MEHRSCHALIGE WANDKONSTRUKTIONEN Stefan M. Holzer

Zu allen Zeiten der Baugeschichte war die Verwendung sorgfältig stein- metzmässig bearbeiteten Natursteins («Werkstein») eine besondere Aus- zeichnung für einen Bau. Naturstein ist dauerhaft gegen Witterungsein- flüsse, hat eine hohe Festigkeit (10 – bis 100mal so druckfest wie Backsteine) und kann – je nach Sorte – durch Farbigkeit und Oberflächenstruktur eine sehr aufwendige architektonische Gestaltung ermöglichen. Das grosse Vor- bild für den Natursteinbau boten in Mittelalter und Neuzeit die Bauten der klassischen Antike: Eindrucksvoll standen die aus riesenhaften Blöcken mörtellos gefügten Ruinen der Tempel und sonstigen Repräsentationsbau- ten vor Augen und inspirierten zur Nachahmung. Sieht man von einzelnen wenigen aufwendigen Bauwerken ab, so erlebte das Bauen mit mittel- und grossformatigen Natursteinen nach der Antike erst nach einer längeren Pause etwa um das Jahr 1000 wieder neuen Aufschwung. Vorher domi- nierte das Bruchsteinmauerwerk, das auch weiterhin bei weniger wichtigen Bauaufgaben und Bauteilen oder in Regionen mit nur schwer zu bearbei- tenden Steinsorten eine grosse Rolle spielen sollte.

Im Unterschied zu den antiken Grosssteinbauten sind Natursteinkonst- ruktionen des Mittelalters und der Neuzeit in der Regel als «mehrschaliges Mauerwerk» konzipiert. Dies bedeutet, dass sich im Inneren der schein- bar massiven, homogenen und solide ausgeführten Werksteinkonstruktion normalerweise ein wesentlich weniger sorgfältig hergestellter «Kern» aus Bruchsteinmauerwerk befindet (Abb. 1). Die Aussenschalen sind nur einen Stein stark und binden mit ihrer meist unregelmässig gestalteten Rückseite in den Kern ein. Im Unterschied zur Antike wurden in Mittelalter und Neu- zeit Werksteinkonstruktionen fast ausnahmslos als vermörteltes Mauer- werk ausgeführt. Das kleinteilige, unregelmässige Material des Kerns wird durch reichlich Mörtel verfestigt, und auch die Stoss- und Lagerfugen der Werkstein-Aussenschalen sind vermörtelt.

Dem Mörtel kommt beim Bauen mit Werkstein besondere Bedeutung zu. Da es sehr aufwendig ist, einem Quader aus Naturstein perfekt glatte Oberflächen zu geben, besteht bei der Werksteinbauweise ohne Mörtel die Gefahr, dass die nicht ganz perfekten Quader aufeinanderliegender Lagen sich nur an wenigen Punkten wirklich berühren. Unter der Last der darü- ber liegenden Wand drohen dann einzelne Quader zu brechen. Der Fugen- mörtel, der auch in ausgehärtetem Zustand meist viel weniger druckfest und auch viel weniger steif ist als das Steinmaterial, gleicht die kleinen Une- benheiten der Quader aus und sorgt für eine gleichmässige Kraftübertra- gung. Ausserdem verhindert er natürlich das Eindringen von Wasser und Pflanzenwuchs in die Fugen und gewährleistet so eine hohe Dauerhaftigkeit der Konstruktion.

Bei vermörteltem Natursteinmauerwerk in mehrschaliger Konstruk- tion müssen nicht alle Seiten des Quaders gleich sorgfältig bearbeitet sein (Abb. 2). Die horizontalen Lagerfugen, die die einzelnen Steinschichten voneinander trennen, müssen allerdings wenigstens an der Ansichtsseite der Wand einigermassen dicht schliessen, insbesondere dann, wenn das fertige Mauerwerk an eine antike mörtellose Konstruktion gemahnen soll.

Oftmals sind daher die Lagerfugen als sogenannte «Pressfugen» ausgebildet, das bedeutet, dass die wahre Stärke der Mörtelfuge im Inneren der Mauer

Abb. 1: Werksteinmauerwerk als Verkleidung eines Mauerkerns aus kleinteiligem, mörtelreichem Material («mehrschaliges Mauerwerk»; Abtei Jumièges, Nor- mandie)

Abb. 2: Verschiedene Seiten eines Quaders und zuge- höriger Bearbeitungsgrad bei Verwendung in der Aus- senschale mehrschaligen Mauerwerks. Oben Einzelstein in Perspektive, unten Schnitt durch die Werksteinschale.

A Quaderhaupt; B Lagerfuge; C Stossfuge; D Hinter- haupt; E Pressfuge; F Füllmauerwerk aus kleinsteinigem Material und Mörtel.

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

grösser ist, als sie am sauber bearbeiteten Vorderrand in Erscheinung tritt.

Auch an den vertikalen Stossfugen, die jeden Stein von seinen Nachbarn derselben Lage trennen, sind manchmal solche Pressfugen ausgebildet.

Die Rückseite des Steins kann hingegen fast ganz unbearbeitet bleiben, denn eine unregelmässige Rückseite der Aussenschale verbessert deren Verzahnung mit dem kleinteiligen Mauerkern. Im Mauerkern können all die Bruchstücke und Abfälle verbaut werden, die bei der Produktion der schönen Quader der Aussenschale entstehen. Dadurch stellt die mehrscha- lige Bauweise eine optimierte Konstruktion dar, denn es wird kein Material unnötigerweise auf die Baustelle transportiert, ein wesentlicher Aspekt in Zeiten schwierigen und teuren Transportes.

Der Bearbeitungsgrad der die Wandaussenfläche bildenden Quaderseite wird nicht nur durch technische, sondern vielmehr ganz wesentlich auch durch gestalterische Anforderungen bestimmt. Sorgfältig bearbeitet wird die Sichtseite des Quaders in der Regel dann, wenn der Stein unverputzt bleiben soll und das Gebäude höheren Ansprüchen genügen soll.

Die mehrschalige Bauweise von Wänden war durch die Antike vorge- prägt, und zwar durch die altrömische Bauweise mit opus caementicium.

Dieser sogenannte «römische Beton» (eigentlich eine mörtelreiche Bruch- steinbauweise, kein Beton im modernen Sinn), der zwischen «verlorenen Schalungen» aus Backstein , Kleinquadermauerwerk, opus reticulatum oder anderen Aussenschalen eingebracht worden war, erwies sich über Jahrhun- derte als äusserst dauerhaft. Dies lag daran, dass der Mörtel des «römischen Betons» in Italien nicht mit normalem Quarzsand, sondern mit Puzzo- lanerde, einem feinen Sand aus vulkanischen Ablagerungen, angemacht wurde, der dem normalen Kalkmörtel «hydraulische Eigenschaften» ver- lieh (Erhärten auch ohne Luftzutritt, schnelles Erhärten, Erreichen hoher Festigkeiten, Unlöslichkeit des Bindemittels in Wasser).

Im Mittelalter und der Neuzeit kam hingegen in aller Regel normaler Kalkmörtel zum Einsatz, der allenfalls schwach hydraulisch war, wenn der Kalk aus tonhaltigem Kalkstein gebrannt wurde (Mergel). Da im Inneren der mehrschaligen Wand und bei grossen Wandstärken der Kontakt mit der zum Erhärten des Kalkmörtels nötigen Umgebungsluft erschwert ist, erreichte die Füllung der mehrschaligen Wände des Mittelalters und der Neuzeit selten die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des opus caementicium.

Ausserdem wurde im Wandinneren der Mörtel oft gemagert (Herabsetzen des Bindemittelanteils oder Ersatz durch weniger leistungsfähige Bindemit- tel wie Lehm), da zum Brennen des Kalks ausserordentlich viel Brennmate- rial erforderlich war und daher Kalk möglichst sparsam verwendet wurde.

Man muss bei allen mehrschaligen Wänden des Mittelalters und der Neu-

zeit daher damit rechnen, dass ein Grossteil der Last über die Aussenscha-

len abgetragen wird. Dringt Wasser in die mehrschalige Wand ein, kann

überdies das Bindemittel des Mauerkernes aufgelöst und ausgespült werden

(reiner Kalk ist wasserlöslich). Auch kann der Mauerkern innen in solchen

Fällen unbemerkt absacken. Dann ist ein Versagen der Aussenschale durch

Ausbauchen unter dem Druck der Füllung oder des eingedrungenen Was-

sers vorprogrammiert. Manchmal sieht man mehrschalige Konstruktionen,

bei denen die Aussenschale abgefallen oder auch durch die übertragene

Last überlastet ist. In solchen Fällen sind Wandsanierungen durch Injek-

tion und Rückverankern der Aussenschale notwendig. Dasselbe gilt, wenn

in eine mehrschalige Wand grössere Einzellasten eingeleitet werden sollen

(z. B. durch neu eingezogene Anker). Dies müssen fest im Kern der Wand

sitzen und nicht nur an der Aussenschale hängen. Der Verankerungsbe-

reich muss daher grossflächig «vernadelt» und mit geeignetem Injektions-

mörtel verpresst werden, der die entstandenen Hohlräume ausfüllt und das

Gefüge wieder verfestigt.

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Werkstein

Werksteinarchitektur und Steinsorten

Je grösser der Repräsentationsanspruch eines Bauwerkes ist, desto grös- sere Quaderformate und desto sorgfältigere Bearbeitungstechniken der Sichtseite werden gefordert. Der Stein wird in einem Steinbruch gebrochen und dann in grob zugerichtetem Zustand in die Nähe der Baustelle trans- portiert. Je regelmässiger die Höhe der angelieferten Steine ist, desto regel- mässiger kann das Mauerwerk des Bauwerks werden. Bei Werksteinbauten des Mittelalters bis zur Hochgotik sieht man oft Schichten mit Versprüngen oder unterschiedliche Schichthöhen und ad hoc angepasste Steinblöcke.

Erst ab der Hochgotik werden gleichmässig durchlaufende Schichten ein- heitlicher Höhe zum Regelfall. Für durchlaufende, horizontale Schichtfu- gen und die Ausbildung eines völlig regelmässigen Mauerwerksverbandes sind Steine gleicher Höhe erforderlich. Sedimentgesteine wie Kalkstein und Sandstein, die von Natur aus horizontal geschichtet vorkommen und sich im Steinbruch längs der Schichtfugen von anstehenden Gestein ablö- sen lassen, sind daher bevorzugte Natursteine für den Werksteinbau. Die Höhe des Rohlings entspricht bei solchen Steinen etwa der Schichthöhe der entsprechenden Gesteinsschicht im Steinbruch. Der Stein wird im Natur- steinmauerwerk fast ausnahmslos so eingebaut, dass die Schichtung des Mauerwerks der natürlichen Schichtung des Gesteins entspricht («en lit»).

Nur für hochkant gestellte dünne Verkleidungsplatten (Orthostaten) und für dünne, lange Säulchen (z. B. freistehende Dienste in gotischen Bauwer- ken) werden Natursteine auch so eingebaut, dass die Schichtung des Steines in eingebautem Zustand senkrecht steht (Einbau «en délit»).

Kalkstein und Sandstein haben neben der natürlichen, oftmals gleich- mässigen Schichtung auch noch denjenigen Vorteil, dass es sich um Gesteine mittlerer Festigkeit und Härte handelt, die einerseits ausreichend dauerhaft sind und andererseits mit stählernen Werkzeugen relativ einfach bearbeitet werden können. Eruptivgesteine wie vulkanischer Tuff sind gegebenenfalls auch geschichtet und leicht bearbeitbar, jedoch oftmals nicht sehr dauerhaft, sondern wegen der Porosität verwitterungsanfällig. Magmatische Gesteine wie Granit und Basalt und metamorphe Gesteine wie Marmor oder Gneis zeigen hingegen keine Schichtung und sind daher schlecht als Ausgangs- material für den Werksteinbau geeignet. Sehr harte Gesteine sind allerdings polierfähig und gestatten daher die Herstellung besonders aufwendiger und dauerhafter Verkleidungen und monolithischer Bauteile.

Gut bearbeitbare Kalksteine sind insbesondere in Frankreich fast über-

all verfügbar, ganz besonders in dem den grössten Teil Nordfrankreichs

einnehmenden sogenannten «Pariser Becken». In Süddeutschland sind im

Schichtstufenland neben Kalksteinen auch Sandsteine weit verbreitet. Im

Schweizer Mittelland ist fast überall leicht bearbeitbarer Molassesandstein

verfügbar, überdies in der Juraregion Kalk. Der Jurakalk ist allerdings sehr

hart und daher nicht so leicht zu bearbeiten wie die meisten französischen

Kalksteine. In Italien wurde viel mit vulkanischen Tuffen und mit Kalkstei-

nen wie dem aus Süsswassersedimenten gebildeten Travertin gebaut. Die

Gesteine der Zentralalpen, des Apeninnenhauptkamms oder des französi-

schen Zentralmassivs sind hingegen weniger geeignet für die Werksteinar-

chitektur. In der norddeutschen Tiefebene und den Niederlanden besteht

Mangel an geeigneten Ausgangsgesteinen für die Werksteinarchitektur, so

dass dort Bruchsteinbauweise (mit Lesesteinen) und Backsteinbauweise

dominieren. Aufgrund der natürlichen Gegebenheiten sowie der auch noch

nach Jahrhunderten zahlreich erhaltenen altrömischen Werksteinbauwerke

sollten Frankreich und Spanien zu den Zentren der mittelalterlichen und

neuzeitlichen Kultur des Bauens mit Werkstein werden. Insbesondere in

Frankreich wurde der Werksteinbau zur Perfektion geführt. Sowohl die

Werkzeuge als auch die zugehörigen Bearbeitungstechniken wurden meist

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

in Frankreich eingeführt und verbreiteten sich von dort über ganz Europa.

Aufgrund der herausragenden Rolle Frankreichs im Werksteinbau wer- den im Folgenden viele Beispiele aus Frankreich besprochen, und auch die zugehörigen französischen Fachbegriffe werden stets in Klammern den deutschen Begriffen beigesetzt.

Grobes Zurichten des Blockes

Der Steinblock kommt aus dem Steinbruch als Rohling, der auf der Sichtseite und den Fugenseiten noch überschüssiges Material (Bosse) auf- weist. Dieser sogenannte «Werkzoll» muss abgearbeitet werden, um den einbaufertigen, massgenauen Stein zu erhalten. Auf dem Transportweg schützt die rohe «Bosse» («bossage») den Stein vor Beschädigung. Auf dem Werkplatz geht es nun darum, die gewünschten ebenen Oberflächen herzu- stellen. Dazu muss zunächst die endgültige Form des Quaders definiert und auf den Stein übertragen werden. Der Steinmetz legt hierzu an einer der sechs Seiten des Quaders (und nachher auch auf den anderen Seiten, unter Verwendung des Winkels) eine genau rechteckige, ebene Oberfläche an (Abb. 3). Diese Rechteckfläche wird durch einen sogenannten «Randschlag»

(«ciselure périmétrique») angegeben: Der Randschlag ist ein wenige Zen- timeter breiter Streifen, der die Quaderfläche an allen vier Seiten umgibt.

Der Steinmetz beginnt mit der Herstellung des Randschlages an einer der beiden kürzeren Quaderseiten.

1

Dort legt er mit Hilfe eines Meissels

Abb. 3: Vom Rohling zum Bossenquader. 1: Der Rohling kommt als grob quaderförmiger Block auf dem Werkplatz an. 2: Zum Anlegen einer ersten rechtecki- gen, ebenen Quaderfläche wird zunächst längs einer Kante ein Randschlag hergestellt. Dazu kommen «Schlageisen» (Meissel) und Klüpfel zum Einsatz. 3: Auch an der gegenüberliegenden Seite wird ein Randschlag hergestellt. 4: Die beiden Randstreifen müssen in derselben Ebene liegen, was durch «Visieren» mit dem

«Richtscheit» gewährleistet wird. 5: An den verbleibenden Kanten wird ebenfalls ein Randstreifen gemeisselt. In der Mitte der Quaderfläche bleibt die «Bosse»

stehen. 6: Mit dem «Zweispitz» oder mit dem «Spitzeisen» wird die Bosse «abgespitzt».

1 Unsere Beschreibung folgt der Darstellung in historischen Lehr- büchern wie Weiss 1820, dort S. 122–123.

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Werkstein

(«ciseau») einen glatten, geraden Streifen an (Abb. 4); die Ebenheit und Geradlinigkeit dieses ersten Randstreifens wird durch ein Lineal («Richt- scheit») überprüft. Sodann wird an der gegenüberliegenden schmalen Quaderseite ein gleichartiger Streifen hergestellt. Die beiden Streifen müs- sen genau parallel zueinander verlaufen und dürfen nicht gegeneinander verschwenkt («windschief») sein, da sonst kein ebener Quaderspiegel ent- stehen kann. Die Parallelität der beiden Randstreifen wird durch Anle- gen von Richtscheiten (Lineal; «règle») und «Visieren» (Peilen mit dem Auge) sichergestellt (Abb. 5). Sind die beiden Randstreifen wunschgemäss hergestellt, werden sie durch zwei weitere Randstreifen längs der beiden Längsseiten des Quaderspiegels verbunden und bilden dann zusammen mit diesen den «Randschlag» des Quaderspiegels.

In der Mitte des Quaderspiegels bleibt nun noch die «Bosse» stehen (Abb. 6). Alle folgenden Operationen haben das Ziel, die Bosse abzuschla- gen und den Quaderspiegel einzuebnen, sorgfältig zu glätten oder gar zu polieren. Für diese sukzessiven Bearbeitungsschritte steht dem Steinmet- zen ein ganzes Arsenal verschiedener Werkzeuge zur Verfügung. Welches Werkzeug konkret zum Einsatz kommt, hängt zum einen von der Bearbei- tungsstufe zwischen grobem Bossieren und finaler Glättung ab, zum ande- ren natürlich von der verwendeten Gesteinssorte, ausserdem auch noch von regionalen Gegebenheiten und Traditionen, Wissenstransfers und der historischen Situation insgesamt. Jedes Werkzeug hinterlässt auf dem Stein charakteristische, unwillkürliche Spuren, die auch nach Jahrhunderten auf die historische Bearbeitungstechnik zurückschliessen lassen.

Abb. 4: Herstellen des Randschlages mit Schlageisen und Klüpfel, Steinmetzmeister Stuhlfel- der, Dombauhütte Regensburg

Abb. 5: «Visieren» der beiden ersten Randschläge mit Hilfe von zwei Richtscheiten (Weiss v. Schleussenburg 18202).

2 Weiss, Franz: Lehrbuch der Baukunst zum Gebrauche der k. k.

Ingenieurs-Akademie. Wien: k. k. Ingenieurs-Akademie, 1820.

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Zur Interpretation der Bearbeitungsspuren

Diese Bearbeitungsspuren ermöglichen es sehr häufig, Bauphasen eines historischen Bauwerkes zu identifizieren und einzelne Bauteile die- sen Bauphasen zuzuweisen, eine relative Chronologie (Entstehungs- und Umbaugeschichte des individuellen Bauwerks) zu etablieren oder sogar eine absolute Datierung vorzunehmen. Letzteres ist allerdings mit Vorsicht zu geniessen, da der Einsatz bestimmter Werkzeuge nicht nur durch eine geschichtliche Epoche, sondern auch durch die Gesteinsart, Traditionen und individuelle Vorlieben der einzelnen Meister bestimmt wird, so dass auch verschiedene Werkzeuge und Bearbeitungsstrategien nebeneinander am gleichen Bauwerk zur gleichen Zeit vorkommen können, oder sehr ähnliche Bearbeitungstechniken zu weit auseinanderliegenden Zeiten und an weit auseinanderliegenden Orten. Nicht selten wurde Werksteinmauer- werk auch in späteren Epochen überarbeitet, z. B. im Barock verputzt, der Putz dann wieder abgeschlagen und (meist im 19. Jahrhundert) die Werk- steinoberfläche «restauriert». In solchen Fällen können die Spuren der Steinbearbeitung eine Restaurierungsgeschichte erzählen. Manchmal ist es nicht einfach, zwischen originalen Spuren und Spuren einer Überarbeitung zu unterscheiden, zumal man etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Restaurierung mittelalterlicher Monumente auch die neu eingebau- ten Steine mit einer der alten Steinbearbeitungstechnik nachempfunde- nen Bearbeitung versah.

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Die Geschichte der Werksteinbearbeitung setzt nach der Antike erst wieder etwa um das Jahr 1000 ein. Zwar wurden zwi- schen der Spätantike und dem 11. Jahrhundert hier und dort auch einzelne anspruchsvolle Bauwerke in Werksteinbauweise errichtet, die überlieferte Bausubstanz reicht jedoch bei weitem nicht aus, um für diesen Zeitraum eine kohärente Geschichte des Werksteinbaus zu schreiben. Dabei wäre z. B. die Geschichte der karolingischen Steinbearbeitung von höchstem Interesse, da sich möglicherweise noch Traditionen der Spätantike erhalten hatten und mit Neuerungen des Frühmittelalters überlagerten.

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Abb. 6: Quader mit Randschlag und «sprechend» stehengebliebener (teilweise abgespitzter) Bosse an einem Zweckbau, Klostermühle Maulbronn (S. Holzer)

3 So bestand zum Beispiel Viollet-le-Duc bei der Restaurierung der Basilika von Vézelay darauf, dass bei der Restaurierung an den romanischen Partien die Glattfläche, an den gotischen hingegen die Zahnfläche zum Einsatz kam.

4 Einen Überblick über die Mauertechnik der Karolingerzeit in Deutschland und der Schweiz bieten Papajanni/Ley 2016 (vgl.

Lit.-Verz.). Allerdings weisen nur wenige der in diesem Sammel- band besprochenen Bauwerke Werksteinelemente auf.

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Werkstein

Werkzeuge und zugehörige Bearbeitungsspuren

Grundsätzlich verwendet der Steinmetz drei Typen unterschiedlicher Werkzeuge. Die erste Gruppe ist jene der beil- und hammerartigen Werk- zeuge, mit denen direkt auf die Steinoberfläche geschlagen wird (Hieb- werkzeuge, «outils à percussion lancée»). Hierzu zählen insbesondere die Steinbeile, vom Steinmetz «Fläche» genannt («marteau taillant»), und der Bossierhammer zum groben Abschlagen der Bosse, sowie die pickelartigen Werkzeuge. Mit den Hiebwerkzeugen kann der Schlag nicht millimeterge- nau platziert und in seiner Wirkung nicht bis ins Kleinste dosiert werden, weshalb in der Nähe von Ecken und Kanten möglichst nicht direkt mit dem Hiebwerkzeug gearbeitet wird, um unkontrollierte Ausbrüche zu vermei- den. Der zuvor hergestellte Randschlag ermöglicht es, bei der Weiterbear- beitung des Quaderspiegels mit dem Hiebwerkzeug einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum Rand einzuhalten.

Die zweite Gruppe (Abb. 7) ist jene der Meissel, welche mit der linken Hand gehalten, auf die Bauteiloberfläche aufgesetzt und mit einem Schlag- werkzeug vorgetrieben werden, das in der rechten Hand gehalten wird (Schlagwerkzeuge, «outils à percussion posée»). Der Steinmetz nennt die Meissel «Eisen» («ciseau»). Als Vortriebswerkzeug («percuteur»), mit dem auf den Kopf des Meissels geschlagen wird, kommt in der Regel ein hölzerner

«Klüpfel» (Schlägel, «maillet») zum Einsatz, nur im Spezialfall ein eiserner, hammerartiger «Fäustel» («massette», nur bei Hartgestein). Der hölzerne Klüpfel erzeugt einen «weichen» Schlag auf den Stein, so dass einerseits das längere Arbeiten weniger schädlich für die Gesundheit des Steinmetzen ist und andererseits das unkontrollierte Abplatzen von Gesteinsstücken gezielt vermieden werden kann. Insbesondere an Ecken und Kanten von Werkstü- cken wird daher in der Regel immer mit dem leicht kontrollierbaren Meis- sel und dem Holzklüpfel gearbeitet.

Die dritte Werkzeuggruppe kommt nur bei der letzten Bearbeitungsstufe des Glättens bzw. Polierens zum Einsatz, nämlich jene der schabenden und

Abb. 7: Klüpfel und verschiedene glatte und gezahnte Eisen ,Maison de l’outil, Troyes5 (S. Holzer)

5 Die Maison de l’Outil et de la Pensée Ouvrière in Troyes, Dept.

Aube, Frankreich, ist ein Museum, das auf eine private Samm- lung von Werkzeugen zurückgeht, die im frühen 20. Jahrhundert angelegt worden ist. Das Museum umfasst Tausende historischer Werkzeuge und ist in seiner Art einmalig.

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

kratzenden Werkzeuge («outils posés sans percuteur»). Sie werden ohne schlagende Wirkung auf die schon fast fertig hergerichtete Steinoberfläche angesetzt.

Der Randschlag wird mit einem relativ schmalen (2 – 4 cm) Meissel hergestellt, dem sogenannten «Schlageisen» («ciseau»). Für alle folgenden Schritte der Steinbearbeitung können Hiebwerkzeuge oder Meissel fast aus- tauschbar eingesetzt werden. Zu verschiedenen historischen Zeiten waren die Vorlieben bei der Herstellung der Quadersteine unterschiedlich. In der Bildhauerei spielen jedoch die Schlagwerkzeuge und die kratzend-scha- benden Werkzeuge eine ungleich wichtigere Rolle als die Hiebwerkzeuge, während die Steinbeile bei der Quaderherstellung zu allen Zeiten wichtig waren.

Für die im Folgenden betrachtete Entwicklung der Steinbearbeitung vom Mittelalter bis zum Industriezeitalter geben uns zahlreiche Bildquellen Auskunft über die verwendeten Bearbeitungstechniken. Im Abgleich dieser Bildquellen mit den vorgefundenen Spuren am Stein sowie mit historischen und modernen Werkzeugen ist es meist eindeutig möglich, die historische Bearbeitungstechnik eines konkreten Steines am Bau zu identifizieren. Die Beobachtung von Spuren der Steinbearbeitung gehört daher zu den wich- tigsten Erkenntnisquellen der historischen Bauforschung.

Um Steinbearbeitungsspuren am Bau beobachten zu können, ist tan- gentiales Licht von grösstem Nutzen. Im Auflicht treten die schwachen Oberflächenstrukturen kaum zutage, doch im natürlichen Streiflicht oder im entsprechend gesetzten Licht einer Taschenlampe oder eines Scheinwer- fers werden sie – je nach Einfallswinkel des Lichtes – deutlich oder sogar überdeutlich. Die im Folgenden abgedruckten Fotos von Steinoberflächen sind meist im Streiflicht entstanden. Bei der Betrachtung unter normalem Auflicht sind die Spuren viel schwächer zu sehen.

Wir werden nun charakteristische Beispiele von Bearbeitungsspuren besprechen und deren Stellung im Bearbeitungsprozess, aber auch in der historischen und regionalen Entwicklung angeben. Dabei ist zunächst zu beachten, dass an ein und demselben Bauwerk Werksteine mit unterschied- lichem Bearbeitungsgrad vorkommen können. Für den normalen Besucher nicht sichtbare Bauteile wie die zum Dachstuhl gekehrten Rückseiten von Giebeln, Sargwände oberhalb von Gewölben und dergleichen sind in der Regel weniger sorgfältig bearbeitet als ausgesprochene Sichtflächen. Dar- über hinaus kann auch der Rang des Bauwerkes als solcher erheblichen

Abb. 8: Zweispitz (Sammlung IDB, ETH Zürich) Abb. 9: Abspitzen der Bosse mit dem Zweispitz (Ency-

clopédie, 17676).

6 Recueil de Planches, sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, Bd. 4. Paris: Briasson, David und Le Breton, 1767.

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Werkstein

Einfluss auf die Bearbeitungssorgfalt haben. An einem Zweckbau wie einer Mühle oder Werkstatt findet man nicht dieselbe Bearbeitungstiefe wie im Inneren einer Kirche oder an einer Schaufassade. Für unsere Belange ist dies sehr günstig, da wir auf diese Weise die charakteristischen Spuren unterschiedlicher Bearbeitungsschritte oftmals am selben Bauwerk ablesen können.

Welches Werkzeug zum Einebnen und Glätten des Bauteils zum Einsatz kommt, ist auch von der Form des Bauteils selbst abhängig. Neben ein- fachen Mauerwerksquadern kommen ja auch noch Profile für Gesimse, Säulenschäfte, Basen und Kapitelle sowie Bauornamentik vor. Sobald ein Bauteil Hinterschneidungen oder tiefe Kehlen aufweist, ist in der Regel das Arbeiten mit dem Meissel (oder sogar mit dem Bohrer) angezeigt, wäh- rend ein Quaderspiegel ohne Probleme und gegebenenfalls sogar effizienter und schneller mit dem einfachen Steinbeil geglättet werden kann. Manche Werkzeugspuren lassen sich daher besonders häufig an Basen und Profi- len identifizieren. Unser Hauptaugenmerk liegt jedoch auf dem einfachen Wandquader.

Abspitzen der Bosse

Zum Abarbeiten der Bosse («dégrossir») kommt zunächst der «Zwei- spitz» («pic» oder «pioche») in Frage (Abb. 8). Der Zweispitz ist ein kleiner Pickel, der an beiden Enden spitz zuläuft. Der Zweispitz hinterlässt kurze, scharfe Furchen in der Steinoberfläche. Da der Steinmetz zum Arbeiten mit dem Zweispitz den Stein schräg vor sich aufbaut (Abb. 9), verlaufen die Hiebspuren meist leicht bogenförmig auf dem Stein, wie es der Stellung des Arbeiters entspricht (Abb. 10). Beim Betrachten der Spuren wird also der Arbeitsprozess lebendig.

Längere und gerade Furchen als beim Abspitzen mit dem Zweispitz ent- stehen, wenn man die Bosse mit einem Meissel abschlägt. Das hierfür einge- setzte Werkzeug nennt der Steinmetz «Spitzeisen» («broche» oder «pointe»;

Abb. 11). Es handelt sich um einen runden oder viereckigen Stahlstab, der vorne in eine scharfe pyramidenförmige Spitze zuläuft. Wie zahllose Spuren zeigen, war das Spitzeisen schon in der Antike ein beliebtes Werkzeug zum groben Abschlagen der Bosse. Die Furchen, die das Spitzeisen erzeugt, sind durchgehend, da man das Werkzeug nach dem einzelnen Schlag mit dem

Abb. 10: Grob mit dem Zweispitz abgespitzte Bosse. Deutlich sind die kurzen, insgesamt bogen-

förmig angeordneten Hiebe zu erkennen, Maulbronn, sog. «Eichelboden», 15. Jh. (S. Holzer) Abb. 11: Spitzeisen, Maison de l’outil, Troyes (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Klüpfel nicht von der Steinoberfläche abhebt, sondern sofort den nächsten Schlag ausführt. Alternativ zu Zweispitz und Spitzeisen stehen zum groben Abschlagen der Bosse auch noch der sogenannte «Bossierhammer» («mar- teau têtu») und die gezahnten Meissel («gradine», mit stumpfen Zähnen;

«ciseau grain d’orge», mit nadelspitzen Zähnen) zur Verfügung, über deren Einsatz im Mittelalter wenig bekannt ist, deren Verwendung aber in der frühen Neuzeit oft dokumentiert ist.

In der Regel wird der Quader an einem anspruchsvollen Bau an Sicht- flächen nicht im einfach abgespitzten Zustand belassen. Es gibt jedoch Ausnahmen. In diesen Fällen wird die Abspitzung mit besonderer Sorgfalt ausgeführt, so dass sich ein dekoratives Muster der Furchen auf der Qua- derfläche ergibt («taille smillée»). Diese Art der Endbearbeitung ist für die ersten grossen Werksteinbauten des Mittelalters typisch. Besonders schöne Beispiele für solche Quader finden sich im Bodenseeraum um 1000, zum Beispiel in der Klosterkirche von Schienen (Landkreis Konstanz; Abb. 12).

Anstatt mit dem Zweispitz oder dem Spitzeisen kurze Furchen in den Stein zu schlagen, kann man auch mit der Spitze punktförmige Einschläge innerhalb des durch den Randschlag umzogenen Quaderspiegels setzen («gepickter Quaderspiegel», «taille pointée»). Diese Bearbeitungsart wird zu gewissen Zeiten gern als dekorativer Endzustand des Werksteins eingesetzt.

Um 1000 (so auch in Schienen) und dann wieder im 17. Jahrhundert lassen sich solche Quader öfters beobachten. An reinen Zweckbauten sind abge- spitzte oder gepickte Quader zu allen Zeiten häufig anzutreffen, vor allem bei Kleinquadermauerwerk (Quader im Format von Backsteinen).

Einebnen des Quaderspiegels

Nach dem Abspitzen der Bosse wird die Quaderoberfläche eingeebnet.

Hierfür kam im Mittelalter vor allem das Steinbeil zum Einsatz, und zwar zunächst das Beil mit glatter Schneide, ganz ähnlich, wie man es auch aus der Holzbearbeitung kennt, die sogenannte «Fläche» («marteau taillant»;

Abb. 13). Die romanische Baukunst (10.-12. Jh.) ist in ganz Europa durch die Verwendung des Steinbeiles mit glatter Schneide gekennzeichnet.

Zur Unterscheidung von der später aufkommenden Fläche mit gezahnter Schneide wird die Fläche mit ungezahnter Schneide präzise als «Glattflä- che» bezeichnet. Unzählige mittelalterliche Abbildungen zeigen neben der

Abb. 12: Schienen (Landkreis Konstanz), ehemalige Klosterkirche, Mittelschiffspfeiler. Dekora- tive Abspitzung mit dem Spitzeisen, um 1000. Frühes Beispiel eines anspruchsvollen mittelal- terlichen Werksteinbaus (S. Holzer)

Abb. 13: Steinmetz-Selbstporträt mit Richtscheit und Glattfläche, Münster Bern, 1517 (S. Holzer)

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Werkstein

Reinform der Fläche auch ein Kombinationswerkzeug, das die Funktionen von Zweispitz und Fläche in sich vereinigt, die sogenannte «Spitzfläche»

(«pic-taillant»; Abb. 14). Selbstverständlich hinterlässt das spitze Ende der Spitzfläche auf dem Stein dieselben Spuren wie der Zweispitz, das glatte Ende hingegen dieselben Spuren wie die Fläche. Das Kombinationswerk- zeug war wohl deswegen so beliebt, weil man durch einfaches Umdrehen die Funktion ändern konnte. Ausserdem konnte der Steinmetz auf diese Weise immer ein Exemplar des Werkzeugs vom Schmied nachschärfen lassen, während er mit dem anderen weiterarbeitete. Für sein Werkzeug war der Steinmetz selbst verantwortlich, es wurde nicht vom Auftraggeber gestellt. Die jederzeitige Funktionsfähigkeit des Werkzeugs war daher für den Handwerker von vitalem Interesse.

Mit der Fläche können – ähnlich wie beim Glätten eines hölzernen Werkstücks mit dem Beil – kleine «Späne» von der Steinoberfläche abge- schlagen werden, indem das Werkzeug in einem sehr spitzen Winkel (fast tangential) zum Stein geführt wird (Arbeiten «im Stich», vgl. Abb. 14; «taille oblique au marteau taillant»). Um diese Arbeitsweise zu ermöglichen, wird der Stein so aufgestellt, dass die zu bearbeitende Seite fast senkrecht, leicht zum Arbeiter hin geneigt ausgerichtet ist – ähnlich wie beim Abspitzen.

Da der Arbeiter seine Position dabei nicht ständig ändert, entstehen beim Arbeiten im Stich in der Regel diagonal und leicht fächerförmig über die Steinoberfläche verlaufende Spuren.

Diese Bearbeitungsart ist typisch für die Romanik. Abb. 15 zeigt als Bei- spiel einen Stein von den westlichen Vierungspfeilern der normannisch-ro- manischen Kirche St. Etienne in Caen (Normandie) aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Die Spuren auf dem Stein entsprechen der von drei ver- schiedenen Standpunkten des Handwerkers aus hergestellten Bearbeitung.

Das immer noch sehr grobe Erscheinungsbild ist typisch für die norman- nisch-romanische Baukunst, kommt aber auch in ganz anderen Regionen Europas bis weit in das 12. Jahrhundert vor, dann allerdings meist an nicht so leicht einsehbaren Stellen. In Abb. 15 ist (wie an den meisten Bauten der normannischen Romanik) kein Randschlag zu sehen. Diese sorglose Art der Herstellung der Werksteine ist charakteristisch für die Frühphase der Wiedereinführung grosser Natursteinblöcke. In manchen Fällen werden

Abb. 14: Der Steinmetz im Vordergrund arbeitet mit der breiten Schneide an der senkrecht stehenden Vorderseite des Steins («im Stich»). Dabei kommt das Kombinationswerkzeug

«Spitzfläche» zum Einsatz, das in zahllosen mittelalterlichen Abbildungen ähnlich dargestellt ist wie hier. Ausschnitt aus einem Farbglasfenster in der Kirche Sainte-Madeleine, Troyes: Der heilige Ludwig lässt das Hospital der Quinze-Vingts in Paris bauen, 1517 (S. Holzer)

Abb. 15: Caen, St. Etienne. Fächerförmig verlaufende, sich überlagernde, grobe Hiebe mit der Fläche «im Stich», kein Randschlag. 2. Hälfte 11. Jh. (S. Holzer)

Abb. 16: Auxerre, Abteikirche Saint-Germain, Westwerk (11. Jh.). Dekorativ angeordnete Hiebe mit der Fläche «im Stich», ganz grober Randschlag (S. Holzer)

Abb. 17: Kombinationswerkzeug aus Glattfläche und Dechsel («polka») (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

in der Frühromanik die Schläge auch derart geführt, dass ein dekoratives Muster entsteht. Abb. 16 zeigt ein charakteristisches Beispiel, bei dem eine recht schmale Fläche eingesetzt worden ist. In dem in Abb. 16 dargestell- ten Beispiel aus dem frühen 11. Jahrhundert ist ein ganz grober Randschlag erkennbar, der wahrscheinlich auch mit einer schmalen Fläche und nicht mit dem Schlageisen hergestellt worden ist.

In Sonderfällen kommen auch Steinbeile zum Einsatz, deren Klinge nicht parallel zum Stiel verläuft, sondern quer dazu (sog. «Dechsel»). In Frankreich ist bis heute ein Kombinationswerkzeug gebräuchlich, das Flä- che (Klinge parallel zum Stiel) und Dechsel (Klinge quer zum Stiel ausge- richtet) in sich vereinigt, die sogenannte «polka» (Abb. 17). Selten sieht man Steinoberflächen, deren Endzustand mit der quer stehenden Klinge erzielt worden ist. Ein bekanntes Beispiel sind die Säulen und Pfeiler in der karo- lingischen Krypta der Kirche Saint-Germain in Auxerre (Yonne) aus der Mitte des 9. Jahrhunderts (Abb. 19). Charakteristisch sind die mehrere Zen- timeter langen, untereinander parallel verlaufenden flachen Hiebspuren.

Anstatt mit der Fläche «im Stich» zu arbeiten, um kleine Steinstückchen von der Oberfläche abzulösen, kann man mit ihr auch mehr oder weniger senkrecht auf die Steinoberfläche schlagen. Der Stein muss dafür so aufge- bockt werden, dass die zu bearbeitende Fläche horizontal und nach oben ausgerichtet ist (Arbeiten «auf der Bank», «taille perpendiculaire au marteau taillant», Abb. 20). Nun werden wiederum von einigen festen Standpunkten aus mit der beidhändig geführten Fläche Hiebe auf die Steinoberfläche aus- geführt, die dort zu schmalen rillenförmigen Vertiefungen führen. Dicht an dicht angeordnet, bilden die Hiebe eine sehr gleichmässige, aus einiger Distanz «glatt» wirkende Oberfläche aus.

Die aus dem 18. und 16. Jahrhundert stammenden Abbildungen 18 und 20 zeigen, dass Fläche und Spitzfläche keineswegs immer so massiv ausge- sehen haben, wie es die schematischen mittelalterlichen Abbildungen sug- gerieren. Vielmehr handelt es sich um recht leicht, schlanke Werkzeuge, die ein sehr präzises Arbeiten erlauben. Abb. 18 gestattet uns ausserdem einen interessanten Einblick in die spätmittelalterliche Steinmetzwerkstatt. Der Steinmetz vorne links arbeitet «auf der Bank» an einer grossen Steinplatte.

Mit einem ledernen Schurz schützt er sich gegen die wegfliegenden Stein- splitter, die beim Arbeiten entstehen und überall herumliegen. Links liegt der einbeinige Steinmetzstuhl auf dem Boden, der beim Arbeiten im Stich

Abb. 18: Steinmetzwerkstatt. Der Steinmetz vorne links arbeitet mit der Spitzfläche an einem Block «auf der Bank» (Holzschnitt des sogenannten Petrarca-Meisters aus dem Buch «Von der Artzney bayder Glück», 1532).

Abb. 19: Schaft eines achteckigen Pfeilers in der Krypta von Saint-Germain in Auxerre. Hier wurde mit dem Dechsel gearbeitet, Mitte 9. Jh. (S. Holzer)

Abb. 20: Arbeiten mit der Fläche «auf der Bank»

(anonymes Ölgemälde «Wiederaufbau der Stiftskirche Lindau», Stadtmuseum Lindau, 1748).

Abb. 21: Quader mit sorgfältigem Randschlag und diagonal geführten Hieben mit der Glattfläche. Spiegel gegenüber dem Randschlag minimal erhöht. Dom zu Gurk, Kärnten, 12. Jh. (S. Holzer)

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Werkstein

und mit Meissel und Klüpfel zum Einsatz kommt. Auf der Steinplatte liegen ein Schlageisen und ein Winkel. Rechts vorne auf dem Boden sieht man Klüpfel und Richtscheit. Der Steinmetz auf der rechten Bildseite arbeitet mit Klüpfel und Spitzeisen, dem typischen Bildhauerwerkzeug, an einer Statue.

Die Illustration stammt aus einem der schönsten illustrierten Bücher des frühen 16. Jahrhunderts, das durch die zahlreichen aus dem Alltagsleben entnommenen, lebendigen Darstellungen grosse Berühmtheit erlangt hat.

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Die ältesten Beispiele für Quader, die mit der Fläche «auf der Bank»

bearbeitet worden sind, zeigen meist noch ein recht unregelmässiges Hieb- muster (Abb. 21). Um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert beobachtet man jedoch eine Tendenz, die Hiebe einheitlich auszurichten, meist dia- gonal zur Quaderfläche (Abb. 21 und 23). Fein geflächte Quader mit regel- mässiger Hiebführung sind ein oft bei Bauten der Romanik des 12. Jahr- hunderts anzutreffendes Merkmal. Das Vorhandensein eines Randschlages wird nun zur Selbstverständlichkeit. Das Innere des Quaderspiegels kann je nach Bearbeitungsart mit dem Randschlag in ein und derselben Ebene liegen oder auch leicht erhöht oder eingetieft sein (man vergleiche Abb. 21 und 22).

Neben der Bearbeitung der Quaderspiegel mit der Fläche muss auch während der Romanik mit dem Einsatz von Meisseln gerechnet werden, wenngleich diese viel seltener verwendet wurden als die allgegenwärtige Glattfläche. Ein Relief im Kreuzgang des Grossmünsters in Zürich aus dem 12. Jahrhundert zeigt als Beleg für die Verwendung des Schlagwerkzeugs in dieser Zeit einen Steinmetzen mit Klüpfel und einem sehr breiten Schlagei- sen in der Hand (Abb. 24).

Manche Quader des 12. Jahrhunderts weisen sehr regelmässige deko- rative Muster auf, zum Beispiel einige Quader aus den unteren Lagen der Querhauskapellen der Klosterkirche Maulbronn (Abb. 25). Solche Muster sprechen wohl eher für die Verwendung eines Schlageisens als die einer Glattfläche.

8

Abb. 22: Mit der Glattfläche «im Stich» geebnete Quaderspiegel mit breitem Randschlag.

Spiegel gegenüber dem Randschlag minimal eingetieft. «Eulenturm» der Abteikirche Hirsau, Anfang 12. Jh. (S. Holzer)

Abb. 23: Diagonal geflächter Quader mit feinem Rand- schlag, Vézelay, Burgund, Abteikirche, Langhaus, 12. Jh.

(S. Holzer)

7 Petrarca, Francesco: Von der Artzney bayder Glück. Augspurg:

Heynrich Stayner, 1532. Das Buch wurde bis ins 17. Jahrhundert sehr häufig nachgedruckt.

8 Früher war die Meinung verbreitet, diese Quader aus Maul- bronn seien mit der Fläche bearbeitet. Siehe dazu jedoch jüngst Völkle 2016, S. 114–115.

Abb. 24: Steinmetz mit Klüpfel und Schlageisen, Relief aus dem Kreuzgang des Grossmünsters Zürich, wohl um 1200 (S. Holzer)

Abb. 25: Quader mit fischgratförmiger Bearbeitung, wohl mit dem Schlageisen und nicht mit der Glattfläche hergestellt, Maulbronn, Klosterkirche, Querhauskapelle, um 1150 (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Die Gotik und die gezahnten Werkzeuge

Um die Mitte des 12. Jahrhunderts setzt in der mitteleuropäischen Stein- bearbeitung ein grundlegender Umbruch ein. Die Werkzeuge mit glatter Schneide werden durch solche mit gezahnter Schneide abgelöst. Zwar waren, wie Spuren beweisen (Abb. 27), gezahnte Werkzeuge in der griechi- schen und römischen Antike weit verbreitet gewesen, das Mittelalter hatte sie bis dahin jedoch nicht gekannt – sieht man von einzelnen Vorkommen in der Karolingerzeit ab, die vielleicht noch direkt der spätantiken Tradi- tion entstammten.

9

Die Wiederentdeckung der gezahnten Werkzeuge fällt zusammen mit dem Aufkommen des gotischen Baustils, also räumlich in das Zentrum Frankreichs (Île de France, Burgund) und zeitlich in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts.

10

Ausgehend von Frankreich breitete sich das gezahnte Werkzeug im 12. und 13. Jahrhundert in ganz Europa aus. Auch gotische Bauten in Deutschland und Italien zeigen sehr häufig Spuren gezahnter Werkzeuge.

Es gibt sowohl Meissel als auch Beile mit gezahnter Schneide. Besondere Bedeutung hat in der gotischen Baukunst die gezahnte Fläche («Zahnflä- che»; «bretture») erlangt. Die Zähne können entweder pyramidal-spitz oder auch trapezförmig-schneidezahnartig ausgebildet sein. Die Zahnfläche kommt auch als Kombinationswerkzeug mit einer glatten und einer gezahn- ten Schneide vor (Abb. 26). Die Zahnfläche kann genau wie die Glattfläche

«im Stich» oder «auf der Bank» gebraucht werden. Je nach Einsatz entste- hen unterschiedliche Spuren. Bei Führung der Zahnfläche senkrecht zur Oberfläche hinterlässt das Werkzeug eine punktierte Furche; bei Führung im spitzen Winkel entstehen kurze parallele Rillen (Abb. 28, 30 und 31). Die Zahnfläche ist hinsichtlich der Steinbearbeitung das wichtigste «Leitfossil»

des gotischen Baustils überhaupt. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhun- dert verdrängt sie in fast ganz Europa die bis dahin dominierende Glatt- fläche. Über die Gründe für den Siegeszug des neuen Werkzeugs kann man nur spekulieren:

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Zunächst fanden die gezahnten Werkzeuge wohl Eingang bei der Herstellung der zunehmend komplexeren Bauplastik der Gotik. Möglicherweise liessen sich die Steinmetze des 12. Jahrhunderts auch von Beobachtungen an noch stehenden altrömischen Bauten inspirieren.

Dass die gezahnten Werkzeuge in Gestalt der Zahnfläche auch die Herstel- lung normaler Quader binnen eines halben Jahrhunderts revolutionieren

Abb. 26: Fläche mit einer glatten und einer gezahnten Schneide, Maison de l’outil, Troyes (S.Holzer)

9 Papajanni/Ley 2016, S. 76, 77, 181 u. ö.

10 Diese bisher immer wieder «aus dem Bauch heraus» konsta- tierte Beobachtung wurde jüngst eindrucksvoll statistisch relevant belegt durch Doperé 2018, S. 44–93.

11 Die folgenden Argumente werden von Doperé 2018, S. 409, so vorgetragen.

Abb. 27: Detail eines Kranzgesimses vom Jupitertem- pel in Baalbek (Syrien), 2. Jh. n. Chr. Spuren des Zahnei- sens, Pergamon-Museum Berlin (S. Holzer)

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Werkstein

konnte, hing aber sicherlich nicht nur mit solchen Einflüssen, sondern ganz einfach mit der höheren Arbeitseffizienz zusammen, die sich ergab: Das gezahnte Werkzeug trägt mit einem einzigen Schlag mehr Material ab als die Glattfläche. Dies gilt auf jeden Fall für die weichen Kalksteine («calcaire tendre») des Pariser Beckens, also für die Region, in der die neue Bearbei- tungstechnik sich zuerst auf breiter Front etablieren konnte. Nur in Gebie- ten mit harten, stark quarzhaltigen Gesteinen konnten sich die gezahnten Werkzeuge kaum etablieren, da dort die Zähne zu schnell verschlissen.

12

Auch in der Schweiz kam die Zahnfläche im frühen 13. Jahrhundert an, zum Beispiel im Langhaus der Stiftskirche Saint-Ursanne im Jura (Abb. 29).

Auch an den bedeutenden gotischen Kathedralen von Freiburg im Üecht- land (FR) und Lausanne (VD) dominiert die Zahnfläche und kann sich dort bis ins späte 15. Jahrhundert (teilweise sogar noch länger) halten.

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In Italien gab es möglicherweise eine kontinuierliche Tradition der

Abb. 28: Oben: Mit der Zahnfläche «auf der Bank» bearbeitete Quader, Vézelay, Chor, 2. H.

12. Jh. (S. Holzer)

Abb. 29: Unten: Mit der Zahnfläche leicht «im Stich» bearbeiter Quader aus dem Langhaus der Stiftskirche Saint-Ursanne, JU, 1. H. 13. Jh. (S. Holzer)

Abb. 30: Mit der Zahnfläche bearbeitete Werksteine.

Oben: Pfeilervorlage aus dem Chor von Saint-Martin- des-Champs, Paris, 2. H. 12. Jh. (S. Holzer)

Abb. 31: unten Säulchen aus dem Chorumgang der Kathedrale von Rouen (S. Holzer)

12 Völkle 2016, S. 120.

13 Völkle 2016, S. 118–122.

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

gezahnten Werkzeuge von der Antike bis ins hohe Mittelalter.

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Jedenfalls lassen sich Spuren der Zahneisen an weit auseinanderliegenden Orten an romanischen Kapitellen nachweisen, zum Beispiel in den Krypten der Kathedralen von Modena (Emilia-Romagna, frühes 12. Jh.) und Acquapen- dente (Latium, um 1200). Als universelles Werkzeug zur Bearbeitung der Sichtseite ganz normaler Quader geht aber auch in Italien die Ausbreitung der Zahnfläche Hand in Hand mit dem gotischen Baustil, zum Beispiel im Dom von Florenz und in Santa Croce in Florenz oder im Dom in Orvieto.

Letzteres Bauwerk (1. Hälfte 14. Jh.) bietet ein interessantes Beispiel für das Nebeneinander von Glattfläche und Zahnfläche (Abb. 32): Der ganze Dom besteht aus abwechselnden Lagen von schwarzem vulkanischem Tuffstein und weissem Kalk (Travertin). Durchgängig ist der poröse vulkanische Tuff mit der Glattfläche bearbeitet, während der mutmasslich etwas härtere, sehr kompakte weisse Kalkstein mit der Zahnfläche behandelt wurde.

Wesentlich für die Ausbreitung des gotischen Baustils für den deut- schen Sprachraum war im 12./13. Jahrhundert der aus Burgund stammende Zisterzienserorden. Mit der Ankunft gotischer Stilformen setzten sich in Deutschland auch die gezahnten Werkzeuge durch. Besonders eindrucks- voll kann dieser Wandel der Bearbeitungstechnik an der noch ganz roma- nisch begonnenen, jedoch gotisch weitergeführten Anlage des Zisterziens- erklosters Maulbronn nachvollzogen werden. Die Steinbearbeitung an der hervorragend erhaltenen Klosteranlage bietet besonders eindrucksvolle Beispiele für beide Bearbeitungsarten, sowohl die romanische mit der Glattfläche als auch die gotische mit den gezahnten Werkzeugen. Ein sonst nicht so häufig anzutreffendes Merkmal in Maulbronn ist die Verwendung des gezahnten Dechsels, also eines Steinbeils mit quer zum Stiel ausgerich- teter, gezahnter Schneide. Die Spuren dieses Werkzeuges (Abb. 33) zeich- nen sich dadurch aus, dass sie jeweils aus mehreren zueinander parallelen Streifen bestehen, deren jeder einem Zahn des Werkzeugs entspricht. Dass

Abb. 32: Steinbearbeitung am gotischen Dom von Orvieto. Die weissen Steine sind mit der Zahnfläche, die schwarzen mit der Glattfläche bearbeitet, 1. H.14. Jh.

(S. Holzer)

14 Völkle 2016, S. 118.

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Werkstein

nicht mit der Zahnfläche gearbeitet wurde, lässt sich aus der parallen (nicht leicht bogenförmigen) Ausrichtung der einzelnen Hiebe und aus der Länge der jeweiligen Spuren erschliessen.

Die Zahnfläche hielt sich nicht in allen Regionen Europas gleich lang.

Wie wir noch sehen werden, war sie in Frankreich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts präsent. Andernorts wurde sie schon am Anfang des 14. Jahrhunderts wieder durch die Glattfläche und durch andere Bearbei- tungstechniken abgelöst. Über die Gründe kann man nur spekulieren.

Man kann jedoch ab dem 15. Jahrhundert eine generelle Tendenz zu sehr gleichmässigen, seriellen Steinbearbeitungen feststellen, die wenigstens aus einiger Distanz den Eindruck einer sehr glatten Oberfläche ergeben und von Stein zu Stein nicht mehr die Individualität, sondern das Gleichmass unterstreichen. Möglicherweise widersprach die recht strukturierte, stets individuell charakterisierte Oberfläche der mit der Zahnfläche bearbeiteten Steine diesem neu aufkommenden Stilideal.

Abb. 33: Spuren des Zahndechsels, Herrenrefektorium Maulbronn, um 1200 (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Steinmetzzeichen

Etwa um dieselbe Zeit, als der Paradigmenwechsel vom glatten zum gezahnten Werkzeug in der europäischen Baukunst einsetzt, tritt auch ein neues Merkmal des Werksteinbaus auf, nämlich das «Steinmetzzeichen»

(«marque de tâcheron»). Steinmetzzeichen sind Symbole oder Buchstaben, die gut sichtbar – meist mitten auf dem Werkstück – mit sichtlicher Sorg- falt angebracht sind (Abb. 34). Sie dürfen nicht verwechselt werden mit den meist unsichtbar in der Fuge oder auf der Rückseite der Steine angebrachten Versatzzeichen, die meist einer Numerierung folgen. Ganz im Gegensatz zu den Spekulationen des 19. Jahrhunderts, als man in den Steinmetzzeichen

«Bundeszeichen» eines geheimnisvollen Bundes der Steinmetze (bzw. der Freimaurer) sehen wollte,

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kann man gerade an den frühesten auftretenden Steinmetzzeichen deutlich erkennen, dass sie einfach ganz profane «Her- stellermarken» des jeweils verantwortlichen Steinmetzen sind. So findet sich z. B. in der Klosterkirche Maulbronn an einem Keilstein am Eingang zum südlichen Querhausarm der voll ausgeschriebene Name «Hennrici»

nebst einem einzelnen «h», welches auf den übrigen (mit dem Zahndech- sel bearbeiteten) Steinen derselben Zeit in grosser Zahl wiederzufinden ist.

Auch die übrigen Zeichen in Maulbronn sind meist Buchstaben, mutmass- lich Anfangsbuchstaben der Namen der jeweiligen Handwerker. Etwa um dieselbe Zeit (2. H. 12. Jh.) tauchen in dem frühgotischen, mit der Zahnflä- che bearbeiteten Umgangschor der Basilika von Vézelay in Burgund ähn- liche aus Buchstaben bestehende Steinmetzzeichen auf, während an den wenige Jahre älteren romanischen Bauteilen des Langhauses, die noch mit der Glattfläche hergestellt wurden, keine Steinmetzzeichen zu finden sind.

In einzelnen Fällen kann man in Vézelay aber neben den Buchstaben auch aufwendig gearbeitete Symbole als Steinmetzzeichen finden (Abb. 34).

In der Hoch- und Spätgotik etablierten sich Steinmetzzeichen als feste, individuelle Marke der einzelnen Steinmetzmeister bzw. der verantwortli- chen Architekten. Die Form der ursprünglich vielfältigen Buchstaben und Namenssymbole vereinfachte sich dabei radikal in Richtung einer mit den üblichen Steinmetzwerkzeugen schnell auszuführenden, schematischen Gestalt. Die Meisterzeichen wurden den Meistern bei ihrer Meisterprü- fung von der Zunft bzw. der Bauhütte zugesprochen; dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass die Zeichen eindeutig und individuell identifizier- bar blieben (Abb. 35). Einzelne besonders hervorragende Werkstücke oder Skulpturen werden oft unübersehbar durch das Meisterzeichen markiert, das wie ein Wappen auf einem eigenen Schild präsentiert wird. Auch der Meister Burkhard Engelberg aus Augsburg war sichtlich stolz, die gewalti- gen statischen Probleme der Wölbung des Ulmer Münsters gelöst zu haben, und brachte daher sein Zeichen im Inneren der Kirche in riesiger Form an (Abb. 37). Die Steinmetzzeichen der Hoch- und Spätgotik erlauben es aufgrund ihrer Individualität, die Wanderungen einzelner Gesellen und Meister nachzuvollziehen.

Der ursprüngliche Grund für die Einführung der Zeichen im 12. Jahrhun- dert mag im individuellen Stolz des Steinmetzen auf die vollbrachte Leis- tung gelegen haben – die Bedeutung wäre also ähnlich jener einer Signatur auf einem Gemälde. Bei schlichten, normalen Quadern dürfte diese Funk- tion aber eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Vielmehr deutet die flä- chendeckende Einführung der Steinmetzzeichen eher darauf hin, dass die Steine zunehmend seriell gefertigt wurden – vielleicht auch abseits von der eigentlichen Baustelle auf einem Werkplatz – und gleichartige Steine von verschiedenen Handwerkern nebeneinander zur Einbaustelle transportiert wurden, ohne dass der Hersteller des Steins selbst auch mit dem Einbau befasst war. Damit kam den Zeichen eine wichtige Funktion bei der Iden- tifikation der Arbeitsleistung der einzelnen Baubeteiligten zu, die auch für

Abb. 35: Zug, Pfarrkirche St. Oswald. Steinmetzzeichen des späten 15. Jahrhunderts (S. Holzer)

Abb. 34: Vézelay (Burgund), Steinmetzzeichen an einem Bündelpfeiler des Chorumgangs, spätes 12. Jahrhundert (S. Holzer)

15 Vgl. z.B. zusammenfassend Ržiha, Franz: Studien über Stein- metz-Zeichen. Wien 1881.

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Werkstein

die Entlohnung massgeblich war. Das Steinmetzzeichen ist also Ausdruck sich wandelnder Bauprozesse; es findet seinen Platz im Übergang von der Einzelanfertigung vor Ort zu einer seriellen, aber noch nicht «industriali- sierten» Produktion, also bei einer Produktionsweise, bei der jedes Stück immer noch eine gewisse Individualität besitzt, so dass noch nicht allein nach gelieferter Masse oder Stückzahl abgerechnet werden kann.

Die Steinmetzzeichen verschwinden fast ganz beim Übergang von der Spätgotik zur Frühen Neuzeit. Mit der zunehmenden Bevorzugung völ- lig glatter Mauerflächen mussten die auffälligen Zeichen als Störfaktor erscheinen, den man eliminierte. Nur im reinen Zweckbau – vor allem bei Festungsbauten – bleiben die Steinmetzzeichen bis zum Ende des 18. Jahr- hunderts präsent. Bei den völlig gleichartigen Quadern der barocken Fes- tungsanlagen dominieren wiederum die einfachen Buchstaben als Stein- metzzeichen (Abb. 36). Das Weiterleben im Zweckbau unterstreicht die Bedeutung des Steinmetzzeichens als Abrechnungshilfe.

Spätgotik und Frühe Neuzeit

Wie schon erwähnt, verschwand die Zahnfläche bereits im 14. Jahrhun- dert vielerorts wieder aus dem Repertoire des Werksteinbaus, während sie sich andernorts noch lange halten konnte. Abb. 38 zeigt ein Beispiel eines Bauwerks aus dem 14. Jahrhundert, in dem wieder die Glattfläche verwen- det worden ist. Allgemein werden im 14. und 15. Jahrhundert sehr feinglied- rige Oberflächenstrukturen bevorzugt. Auch dort, wo sie sich halten kann, wird die Zahnfläche daher in ihrer Form und in ihrem Einsatz verändert.

Das Arbeiten «im Stich» verschwindet weitgehend, und es wird nur noch mit einer sehr fein gezahnten Fläche «auf der Bank» gearbeitet.

Im Verlaufe des 15. Jahrhunderts stellt sich im deutschen Sprachraum ein erneuter, tiefgreifender Paradigmenwechsel ein. Die Verwendung des Hieb-

Abb. 36: Steinmetzzeichen an einer barocken Festungsmauer, Festung Rosenberg, Kronach (S.

Holzer) Abb. 37: Gemaltes Meisterzeichen des Augsburger

Meisters Burkhard Engelberg an der Ostwand des nördli- chen Seitenschiffs des Ulmer Münsters (S. Holzer)

Abb. 38: Colmar, Münster. Abkehr von der Zahnfläche und Rückkehr zur Glattfläche (14. Jh.). Das auffällige Steinmetzzeichen ist sicher ein «sprechendes» Zeichen, das mit dem Namen des Steinmetzen korrespondiert (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

werkzeugs zur Herstellung der endgültigen Quaderoberfläche verschwindet ganz, und die letzte Bearbeitung wird ausschliesslich mit dem Meissel vor- genommen. Abb. 39 zeigt ein charakteristisches Beispiel für diese Bearbei- tungsart. Der unter etwa 45° diagonal zur Quaderfläche ausgerichtete Meis- sel von etwa 4 – 5 cm Breite wird bahnenweise über die Oberfläche geführt, so dass der Eindruck einer engmaschigen «Schraffur» der Steinoberfläche entsteht. Ein allfälliger Randschlag wird dabei mit überarbeitet. Die gleich- mässige «Schraffur» des Quaderspiegels wird als «Scharrierung» bezeich- net. Die diagonale Ausrichtung des Werkzeuges ist sehr charakteristisch für die Spätgotik des deutschen Sprachraums.

Im Verlaufe des 16.–18. Jahrhunderts löst in Mitteleuropa die Scharri- erung alle anderen Oberflächenbearbeitungen fast komplett ab. Die ein- gesetzten Eisen werden dabei immer breiter (Abb. 40 und 42). Die Breite der Scheide eines barockzeitlichen «Scharriereisens» («charrue») kann 25 cm erreichen. Damit ist eine effiziente und ausgesprochen gleichförmige Scharrierung möglich. Die Ausrichtung der Scharrierung erfolgt im 17.

und 18. Jahrhundert nicht mehr diagonal, sondern parallel zu den Quader- kanten. Bild 41 zeigt charakteristische Beispiele für solcherart scharrierte Steinoberflächen an Bauten des 18. und 19. Jahrhunderts.

Mit dem tiefgreifenden stilistischen Wandel von der Gotik zur Renais- sance ging in ganz Europa ein Wandel auch in der Steinbearbeitung einher.

Kurz gesagt handelt es sich um die möglichst vollständige Vermeidung sicht- barer Spuren der steinmetzmässigen Arbeit am fertigen Bauwerk. Motiv für diesen erneuten Paradigmenwandel war sicher die genauere Beschäf- tigung mit der altrömischen Architektur. Oberflächen und freistehende monolithische Bauglieder bedeutender Bauten der römischen Architektur wurden fast immer aus Hartgesteinen wie Marmor, Granit oder Porphyr ausgeführt. Diese Gesteine sind polierfähig und wurden in der Regel auch so poliert, dass keinerlei Spuren der Bearbeitung mehr ablesbar sind. Der

Abb. 39: Zug, Pfarrkirche St. Oswald. Diagonal scharrierter Quader des späten 15. Jh (S. Holzer)

Abb. 40: Scharriereisen verschiedener Breite, Maison de l’outil, Troyes (S. Holzer)

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Werkstein

Aufwand des Polierens war aber sicher gewaltig und nur durch Einsatz von Sklavenarbeit zu gewährleisten. Auch der Antransport der Hartgesteine aus entfernten Regionen wie dem Niltal und Nordafrika war extrem aufwendig.

Die Bauwerke der florentinischen Frührenaissance und auch jede der französischen Renaissance bestehen jedoch im Gegensatz zu den altrömi- schen Vorbildern nicht aus Hartgestein. Dennoch war man bemüht, auch bei Einsatz der lokalen, steinmetzmässig bearbeitbaren Gesteine dem opti- schen Erscheinungsbild der antiken Bauten möglichst nahe zu kommen.

Dem Arbeitsschritt des Einebnens der Oberfläche schliesst sich daher ein letzter Schritt an, jener des Glättens mit schabenden und reibenden Werk- zeugen. In Florenz kann man solche Oberflächen in der Kirche San Lorenzo sehen (Abb. 43).

In Frankreich war zum Glätten von Oberflächen schon im frühen 15. Jahr- hundert das «Schabeisen» («ripe») beliebt (Abb. 43). Dieses wurde vor allem an komplizierten Profilen eingesetzt, um verbleibende Unregelmässigkei- ten nach der Ausarbeitung von Hohlkehlen abzuarbeiten. Abb. 44 zeigt ein charakteristisches Detail von einer im 15. Jahrhundert in das Nordquerhaus der Kathedrale von Rouen eingebauten Treppe zum benachbarten Haus der Kanoniker. Das Schabeisen (Abb. 44) weist eine klauenartige Form auf und besitzt eine glatte oder gezahnte Schneide. Das Eisen wird mit der einen Hand auf den Stein gedrückt und mit der anderen Hand gleichzeitig gezo- gen. Bei der Bearbeitung mit dem Schabeisen entstehen charakteristische, nicht allzu tiefe und meist nicht völlig geradlinig verlaufende flache Fur- chen in der Oberfläche, die nur bei extremem Streiflicht sichtbar werden (Abb. 45). Auf der Oberfläche normaler Mauerquader tritt das Schabeisen erst im 16. Jahrhundert auf (Abb. 46), also genau zur Zeit der Aufnahme von Architekturformen der Renaissance. Die Anwendung des Schabeisens ist nur bei weichen Kalk- und Kreidegesteinen möglich, wie sie im Pariser

Abb. 41: Scharrierte Oberflächen des 18. Jahrhunderts (links, Kathedrale St. Gallen) und des 19. Jahrhunderts (rechts, Ludwigskirche München, um 1832) (S. Holzer)

17 Viollet-le-Duc, Eugène Emanuel: Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Bd. 9. Paris: Morel, 1868.

Abb. 42: Arbeiten mit dem Scharriereisen (Christoff Weigel, Ständebuch, 169816). Das Scharrieren mit dem breiten Eisen ist zur charakteristischen Tätigkeit des Steinmetzen geworden.

Abb. 43: Säulenbasis aus San Lorenzo in Florenz.

Der Bearbeitung mit dem Eisen folgte eine Glättung (S.

Holzer)

Abb. 44: Schabeisen (Viollet-le-Duc 186817)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Becken häufig vorkommen.

An französischen Renaissancebauten des 16. Jahrhunderts lassen sich neben den Spuren des Schabeisens auch völlig geglättete Quader antreffen.

Ein Beispiel ist die nach Vorbild der Jesuitenkirche Il Gesú in Rom errich- tete Jesuitenkirche Saint-Paul-Saint-Louis in Paris (Abb. 47). Trotz der sehr durchgreifenden Glättung meint man hier an einigen Stellen immer noch die Spuren einer vorausgehenden Bearbeitung mit der Zahnfläche mit cha- rakteristischer fächerförmiger Anordnung der Hiebe erkennen zu können.

Die über die Fugen hinweggehenden Schleifspuren deuten darauf hin, dass ein letzter Arbeitsgang des Abschleifens am fertig versetzten Bauwerk vorgenommen wurde (sog. «ravalement»). Ein solches Vorgehen ist auch für das 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich dokumentiert, zum Beispiel bei dem makellos glatt erscheinenden Natursteinmauerwerk der Brücken Jean-Rodolphe Perronets. Die Glättung wie in Abb. 46 wurde vermutlich mit ungezahnten Schabeisen, bei sehr glatten Oberflächen auch durch Abschmirgeln mit Sandstein erzielt.

18

Dass sich die Zahnfläche in Frankreich auch im 17. und 18. Jahrhundert noch unverminderter Beliebtheit als wichtigstes Werkzeug zum Einebnen des Quaderspiegels erfreute, lässt sich anhand einzelner eindrucksvoller Beispiele belegen. So findet man an der Kapelle Saint-Louis im Kranken- haus Salpetrière in Paris unverkennbare, nur wenig abgeschliffene Spuren der Zahnfläche (Abb. 48).

Noch überraschender als dieses Beispiel aus der Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. mag der Nachweis der Zahnfläche an einem Hauptwerk des französischen Klassizismus erscheinen: Das Grand Théâtre in Bordeaux, Initialbau des bürgerlichen repräsentativen Theaters des 19. Jahrhunderts, wurde 1773 – 80 nach Plänen von Victor Louis errichtet. Es weist einen streng klassizistischen Portikus korinthischer Ordnung auf und verfügt über ein repräsentatives Vestibül mit Prunktreppe, ebenfalls in Naturstein.

Abb. 45: Mit dem Schabeisen geglättete Profilelemente, Treppe im nördlichen Querhaus der Kathedrale Rouen, 15. Jh. (S. Holzer)

Abb. 46: Mit dem Schabeisen geglättete Quader, Troyes, Saint-Nizier, Turm, 16. Jh. (S. Holzer)

Abb. 47: Zahngeflächte, abgeschabte und geglättete Quader (Jesuitenkirche Saint-Paul-Saint-Louis, Paris, spätes 16. Jh.). Spuren eines die Fugen übergreifenden

«ravalement» nach Versatz der Quader (S. Holzer)

18 Dazu Weiss 1820, S. 122.

Abb. 48: Zahngeflächte Quader mit Randschlag aus der Kapelle Saint-Louis-de-la-Salpetrière, Paris, ab 1670 (S. Holzer)

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Werkstein

Im Auflicht erscheinen alle Steinoberflächen dieses Baus geradezu perfekt glatt. Bei extremem Streiflicht kann man jedoch eine Reihe interessante Beobachtungen machen (Abb. 49): Die realen Steinformate entsprechen nicht der vorgetäuschten Quaderung. Die Fugen der realen Steine gehen willkürlich durch die Spiegel der scheinbaren Quader hindurch. An diesen Stellen ist an mehreren Stellen noch der Randschlag des ursprünglichen Blockes erkennbar. Die Quaderspiegel der grossen Blöcke wurden, wie ver- bliebene Hiebspuren bezeugen, mit der Zahnfläche bearbeitet und danach abgeschliffen. Wahrscheinlich erfolgte auch hier die endgültige Bearbei- tung und das Schleifen erst nach dem Versatz der Steine.

Leider gibt es im Gegensatz zur Literatur zur mittelalterlichen Steinbe- arbeitung kaum Untersuchungen zur Weiterentwicklung der Techniken in der Frühen Neuzeit, insbesondere auch nicht zur Anpassung der Bearbei- tungstechnik an die verschiedenen Gesteinsarten. Daher und wegen der schwierigen Beobachtung der Spuren an den glattgeschliffenen Oberflä- chen müssen viele Fragen zur nachmittelalterlichen Steinbearbeitung noch offen bleiben.

«Sprechende Steinbearbeitung» der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts

Mit der Negierung der eigentlichen, «echten» Steinbearbeitungsspuren in der frühen Neuzeit geht die Entstehung speziell gestalteter Oberflächen einher, die als «sprechende Steinbearbeitung» den architektonischen Cha- rakter des jeweiligen Bauwerkes unterstreichen. Diese Tendenz beginnt fol- gerichtig schon im 15. Jahrhundert in der florentinischen Frührenaissance mit der absichtlich geradezu brachial gestalteten «Rustika» bzw. «Bossie- rung» der Palazzi Strozzi und Pitti in Florenz.

Diese Quaderung unterstreicht die Wehrhaftigkeit und Potenz nicht des

Abb. 49: Steinbearbeitung im Vestibül des Grand Théâtre de Bordeaux. Oben Ansicht im nor- malen Auflicht, unten Ansicht im Streiflicht (S. Holzer)

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Werkstein und mehrschalige Wandkonstruktionen

Bauwerks, sondern des Bauherrn selbst. An Bauten der Renaissance und des Frühbarocks nördlich der Alpen findet man häufig an architektonisch wichtigen Stellen Quader mit einem ausgeprägten, dekorativ ausgeführten Randschlag und einem leicht eingetieften Quaderspiegel, der mit Spitzeisen oder Zweispitz gepickt worden ist. Auch bei Wehrbauten gehört schon im Mittelalter, besonders aber in der Renaissance- und Barockzeit die bewusst gestaltete Bossenquaderung zum selbstverständlichen Repertoire (Abb. 36).

Ähnliche Konnotationen militärischer Stärke soll wohl die künstlich rauh gehaltene Haut der grossen Rustikaquader an der Porte Saint-Martin von Pierre Bullet in Paris (1674) vermitteln (Abb. 51).

Neben diesen Kuriosa, denen leicht weitere aus der Barockzeit hinzu- zufügen wären, ist auch die Steinbearbeitung historistischer Bauten des 19. Jahrhunderts zu nennen. Während manche dieser Bauten der Stilkopie unbekümmert die Steinbearbeitung ihrer Entstehungszeit einsetzen, kann man an manchen Bauten konstatieren, dass sich ihre Architekten offenbar sehr genau mit der Steinbearbeitung der mittelalterlichen Vorbilder ausei- nandergesetzt hatten. Besonders eindrückliche Beispiele dafür lieferte der Karlsruher Architekt Heinrich Hübsch, der an verschiedenen Landkirchen im Grossherzogtum Baden in den 1830er Jahren sein Konzept eines allge- mein an mittelalterliche Vorbilder angelehnten, synthetischen «Rundbo- genstils» entwickelte.

Abb. 52 zeigt als Beispiel einen Ausschnitt aus der aus kleinen Quadern bestehenden Aussenwand der Kirche von Bauschlott (Baden), die Hein- rich Hübsch 1838 fertigstellen konnte. Die Steine sind mit einem sorgfäl- tigen Randschlag versehen und auf dem Spiegel teils mit der Zahnfläche (erkennbar an der fächerförmigen Ausrichtung der Hiebe), teils auch mit dem Zahneisen bearbeitet. Die Sorgfalt der Steinbearbeitung und die fühl- bare Bemühung zur Nähe zum mittelalterlichen Vorbild erstaunt an einem Bau, der als bescheidene Landkirche unter engen finanziellen Restriktionen erstellt werden musste, und beweist, dass die handwerklichen Fähigkeiten zur Herstellung solcher Bauten auch im 19. Jahrhundert noch unvermindert verfügbar waren.

Abb. 52: Am mittelalterlichen Vorbild ausgerichtete Steinbearbeitung an der Kirche Bauschlott, Randschlag und Bearbeitung des Spiegels mit gezahnten Werkzeu- gen (S. Holzer)

Abb. 50: Absichtlich grob gestaltete Bossenquader am Palazzo Strozzi in Florenz, 2. H. 15. Jh.

(S. Holzer) Abb. 51: Künstlich unregelmässig gestaltete Steinober-

fläche an der Porte Saint-Martin, Paris 1674 (S. Holzer)

(27)

Werkstein

Neue Werkzeuge und die rationelle Steinbearbeitung des 19. Jahrhunderts Im Widerspruch zu der gepflegten Steinbearbeitung an den Landkirchen Heinrich Hübschs und anderer historistischer Bauten steht die Steinmetz- technik des 19. Jahrhunderts auch heute noch in einem schlechten Ruf. Der Grund dafür ist der häufige Einsatz neuerer Werkzeuge, die ein rationelles Arbeiten erlauben, aber ein gegenüber der mittelalterlichen Steinbearbei- tung gleichförmigeres, als «langweilig» oder «öde» empfundenes Erschei- nungsbild erzeugen, welches von den Theoretikern des dogmatischen His- torismus des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts bereits heftig kritisiert wurde. Bei den im 19. Jahrhundert beliebten neuen, im Mittelalter kaum anzutreffenden Werkzeugen handelt es sich insbesondere um den Stock- hammer und den Krönel.

Der Stockhammer («boucharde»; Abb. 54) ist ein Hammer, dessen qua- dratische Schlagfläche von einem Raster pyramidenförmiger Spitzen ein- genommen wird. Bei neueren Werkzeugen ist diese Schlagfläche mit den Zähnen auswechselbar. Der Stockhammer hat seine Ursprünge in der Bearbeitung von Hartgestein. Im 17. Jahrhundert wird erstmals von André Félibien in seinem Baulexikon «Des Principes de l’Architecture» (Paris 1676) das Stockeisen, die Meissel-Variante des Stockhammers, als Werkzeug des Marmorbildhauers besprochen und abgebildet. Der Stockhammer war aber offenkundig schon deutlich früher verbreitet. In Ostfrankreich, etwa in Dijon oder Besançon, also in den Gebieten des relativ harten Jurakalkes, kann man seine Spuren an vielen Bauwerken finden.

19

Der genaue Zeitpunkt seiner Einführung ist schwer zu bestimmen, weil es sich bei Stockhammer- spuren an mittelalterlichen Bauwerken auch sehr oft um nachträgliche Überarbeitungen des 19. Jahrhunderts im Rahmen von «Restaurierungen»

handelt.

Der Stockhammer wird senkrecht auf die Steinoberfläche geschlagen und hinterlässt im Normalfall ein regelmässiges Muster, das an die Spu- ren eines Fleischklopfers erinnert (Abb. 53). Mit dem Stockhammer kann man ohne grössere Mühe eine Fläche einebnen oder auch eine z. B. durch Abschlagen von Putz beschädigte Fläche «reparieren», was im 19. Jahrhun- dert oft gemacht wurde. Wird der Stockhammer bei weicherem Gestein, z. B. bei Sandstein, eingesetzt, lockert er das Gefüge der Oberfläche auf und bewirkt rasche Verwitterungsschäden.

Nicht immer ist es einfach, die Spuren des Stockhammers von jenen

des Krönels zu unterscheiden. Auch Krönel und Zahnfläche können sehr

19Dijon, Palais Vogüé, um 1620; Kirche Saint-Bénigne, Langhaus, wohl Überarbeitung des 19. Jh.; diverse Stadtpalais und Kirchen in Besançon.

Abb. 53: Spuren des Stockhammers am Hôtel de Vogüé, Dijon, 1620 (S. Holzer) Abb. 54: Stockhammer (abgenütztes, stumpfes Exemp- lar) Maison de l’outil, Troyes (S. Holzer)

Abb. 55: Krönel (Sammlung IDB, ETH Zürich)

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