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Grundlagen der Produktentwicklung und Konstruktion
Übung 2: Allgemeine Funktionsstruktur (AFS)
1 Einleitung
Bei der Entwicklung von Produkten ist es erforderlich, sich ausgehend von einer konkreten technischen Aufgabenstellung Klarheit über die geforderte Funktionsweise des technischen Systems zu verschaffen. Mithilfe der Allgemeinen Funktionsstruktur (AFS) kann die
Hauptfunktion des Produktes in Teilfunktionen zerlegt und der Wirkzusammenhang zwischen den einzelnen Teilfunktionen aufgezeigt werden. Die funktionalen Zusammenhänge werden losgelöst von technischen Realisierungsmöglichkeiten auf einem hohen Abstraktionsgrad, in z.B. Form eines Blockschaltbildes dargestellt. Im weiteren Verlauf des Entwicklungsprozesses werden auf Grundlage dieser lösungsneutralen Darstellung mithilfe intuitiver und diskursiver Methoden Teillösungen für die einzelnen Teilfunktionen erarbeitet. Die ermittelten
Wirkprinzipien werden zu Wirkstrukturen kombiniert und in der Folge weiter zu Prinzipiellen Lösungen detailliert.
Eine AFS beschreibt die Funktion eines Systems auf Grundlage der allgemeinen Größen Stoff, Energie und Information und deren Zuständen bzw. Zustandsänderungen durch
standardisierte allgemeine Operationen. Als allgemeine Operationen stehen dabei Speichern, Leiten, Wandeln und Verknüpfen zur Verfügung.
Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass durch eine AFS nicht die physikalische Realität beschrieben wird, sondern ausschließlich gewollte Funktionen dargestellt werden.
1.1 Ziele und Zweck der AFS
Folgende Ziele werden mit der Anwendung einer Allgemeinen Funktionsstruktur verfolgt:
Erkennen von Funktionen durch Loslösen von technischen Realisierungen.
Zerlegen der Hauptfunktion in Teilfunktionen, für die durch Anwenden von Lösungsfindungsmethoden Teillösungen gefunden werden können.
Auffinden neuer Lösungen durch Variationen.
Diese Übung führt in die Arbeit mit den abstrakten Begriffen und formalen Darstellungen der Allgemeinen Funktionsstruktur ein. Ausgehend von einer konkreten Aufgabenstellung und den formulierten Teilaufgaben sollen Allgemeine Funktionsstrukturen aufgestellt werden. In einer weiteren Übung werden dann komplexere Beispiele bearbeitet.
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1.2 Operationen zur Veränderung der Allgemeinen Größen
Speicher können Quellen, Senken oder Zwischenspeicher sein. Leitungen werden nur dann dargestellt, wenn sie für die gewünschte Funktion von Bedeutung sind. Bei der Operation Verknüpfen werden das Vereinen und das Trennen unterschieden. In Tabelle 1 sind einige Beispiele zu den Allgemeinen Größen und Operationen aufgeführt.
Tabelle 1: Beispiele allgemeiner Funktionen
Allgemeine Größen
Stoff Energie Information
Allgemeine Operationen
Speichern
Leiten
Wandeln
Verknüpfen
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1.3 Vorgehensweise zum Erstellen einer AFS
In Bild 1 ist die grundsätzliche Vorgehensweise zur Erstellung einer Allgemeinen Funktionsstruktur dargestellt. Wie aus dem Ablauf erkennbar ist, lassen sich zwei
Vorgehensweisen unterscheiden, die im Rahmen der Übungen durchgeführt werden sollen.
Zum einen können die Erkenntnisse aus der Aufgabenklärung, z.B. aus der Anforderungsliste, als Basis für die Formulierung von Sätzen aus Objekt und Prädikat verwendet werden. Zum anderen kann alternativ die Analyse eines bereits vorhandenen Systems die Ausgangsbasis für die Abstraktion darstellen, aus der dann die Allgemeinen Funktionen abstrahiert werden.
Bild 1: Vorgehensweise beim Aufstellen einer AFS
1.4 Variationsoperationen für Allgemeine Funktionsstrukturen
Damit die Funktionsstrukturen an geänderte Randbedingungen, z.B. geometrische oder physikalische Randbedingungen, angepasst werden können oder weitere
Lösungsmöglichkeiten bzw. Varianten erschlossen werden können, gibt es verschiedene Variationsoperationen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden:
Schaltungsvarianten interpretierend bewerten und auswerten
5
Gewählte Varianten in geeignete Teilaufgaben zerlegen
6
Schaltung variieren
4
Aus der Aufgabe incl. Klärung der Produkt- umgebung und der Anforderungsliste funktionelle
Aussagen extrahieren. Zweckmäßig in Form von Sätzen aus Objekt und Prädikat und dazugehörigen logischen Bedingungen.
1
Schaltbild schrittweise aus Funktionen aufbauen
3
Sätze auf Allgemeine Funktionen abstrahieren
2
Analyse und Abstraktion
einer vorhandenen
Lösung
1/2
Hauptaufgabe als Allgemeine Funktion formulieren
0
Alternative
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Wandler oder Leiter einfügen
z.B. um Rückwirkungen zu mindern oder günstigere räumliche oder wirtschaftliche Eigenschaften zu erzielen oder um Ein- und Ausgänge anzupassen
Reihenfolge von Schaltelementen vertauschen
z.B. um Verträglichkeit mit Nachbarsystemen zu verbessern oder räumlichen Anforderungen zu genügen, wie etwa das Vertauschen von Wandlern und Leitern
Mehrere Elemente zusammenfassen: "Funktionsintegration"
z.B. um Fertigungs- und Montagekosten zu sparen oder um Bauraum zu verkleinern
Elemente weiter differenzieren: "Funktionstrennung"
z.B. um extreme Anforderungen spezifisch zu lösen
Anzahl gleicher Elemente erhöhen oder verringern
z.B. Redundanz erhöhen oder vermindern, um übertriebene Sicherheiten abzubauen oder zusätzliche Sicherheit zu gewährleisten
Systemgrenze verschieben
z.B. um externe Funktionen wie die Energielieferung oder Stellinformation nach innen in das System zu legen, um die Systemunabhängigkeit zu vergrößern
Rückführschleifen einfügen oder entfernen
z.B. Steuerung durch Regelung ersetzen oder umgekehrt, um Unabhängigkeit und Anpassungsfähigkeit zu erhöhen oder um Kosten zu senken, also zu vereinfachen
Informationsflüsse energetisch verstärken
z.B. um größeren Störabstand zu erzielen oder um Stellenergien bereitzustellen
Kombinieren von Varianten
z.B. um modulare Baustrukturen zu erhalten
2 Übungsaufgabe
Antrieb für ein Mobilitätskonzept
Lokale Luftverschmutzung, Lärm und Platzmangel sind nur einige Gründe dafür, dass Gemeinden und Städte zunehmend darum bemüht sind, den Verkehr mit konventionellen Autos einzuschränken. Ebenso wandelt sich auch das Bewusstsein der Bevölkerung, sodass umweltschonende Fortbewegungsmittel zunehmend beliebter werden und die Bereitschaft, auf das Auto zu verzichten, wächst.
Die Fußgängerzonen in Städten wie Braunschweig sind in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Natürlich bedeuten diese Zonen mit reduziertem Autoverkehr auch eine Einschränkung der Mobilität. Um eine Fußgängerzone zu durchqueren, müssen große Strecken zurückgelegt werden, was besonders älteren Menschen schwer fallen kann. Aber auch junge gesunde Menschen, die auf Schnelligkeit bei ihren Erledigungen bedacht sind, wünschen sich eine vielseitige Mobilität. Ausgehend von den aktuellen Entwicklungen muss also nach einer Alternative für das Auto in Städten gesucht werden.
In Bild 2 ist ein solches Mobilitätskonzept als Alternative für das Auto dargestellt. Es stellt ein Dreirad dar, das von zwei Personen durch Pedalbewegung angetrieben werden kann und mit einem zusätzlichen Antrieb ausgestattet ist. Der zusätzliche Antrieb soll durch einen
Elektromotor erfolgen, der aus einer eingebauten Batterie gespeist wird. Über Ladestationen ist eine Aufladung der Batterie möglich.
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Bild 2: Mobilitätskonzept für die Fortbewegung in einer autofreien Zone
Zur Realisierung dieses zusätzlichen Antriebs gibt es verschiedene topologische Varianten, die zur besseren Vergleichbarkeit mithilfe einer Allgemeinen Funktionsstruktur (AFS) gegenübergestellt werden sollen. Folgende Varianten sollen betrachtet werden:
Parallele Anordnung (Konstantfahrt)
Bei der parallelen Anordnung von Pedalantrieb und Elektromotor (siehe Bild 3) sind der mechanische und der elektrische Teil voneinander getrennt und erst hinter dem Elektromotor werden die mechanischen Leistungen von Motor und Pedalen überlagert.
Serielle Anordnung mit Generator (Konstantfahrt)
In einer seriellen Anordnung gibt es keine direkte Verbindung zwischen den Pedalen und den Rädern. Die mechanische Energie wird über eine elektrische Zwischenstufe (Generator) schließlich auf den Antrieb der Räder übertragen.
Bild 3: Parallele Anordnung für den Antrieb des Mobilitätskonzepts bei Konstantfahrt
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Bei der Erstellung der AFS sollen folgende Komponenten betrachtet werden:
Pedalantrieb zur Umwandlung der Körperenergie in mechanische Energie
Batterie zur Speicherung der elektrischen Energie
Ladegerät zum Aufladen der Batterie aus externer Stromquelle (Ladestation)
E-Motor zur Umwandlung elektrischer in mechanische Energie
Generator zur Umformung der mechanischen Energie durch Pedalantrieb oder Bremsrekuperation in elektrische Energie (optional)
ein oder mehrere (Schalt-)getriebe zur Übersetzung der Tret- und der Motordrehzahl (optional)
Übertragungselemente (elektrische und mechanische)
Räder, die die rotatorische Bewegung in eine translatorische Bewegung des gesamten Fahrzeuges überführen
Darüber hinaus können die beiden Fahrer als Energiequelle angenommen werden. Der Ausgang des betrachteten Systems ist die erzielte Antriebsleistung an den Hinterrädern.
1. Skizzieren Sie die Hauptaufgabe der beschriebenen Antriebskonzepte unabhängig von der topologischen Variante mithilfe der allgemeinen Funktionen.
2. Zeichnen Sie eine detaillierte Allgemeine Funktionsstruktur für das Antriebskonzept mit einer parallelen Anordnung (Konstantfahrt). Zeichnen Sie ebenfalls die Systemgrenze ein.
3. Versuchen Sie mithilfe der Variationsoperationen die serielle Anordnung mit Generator (Konstantfahrt) darzustellen.
4. Bei Verzögerung (Rekuperation) soll die kinetische Energie zum Laden der Batterie genutzt werden. Stellen Sie das Antriebskonzept im Rekuperationsmodus als Allgemeine Funktionsstruktur dar.
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3 Übungsaufgabe
Spielgerät
Ein Hersteller von Spielzeuggeräten möchte ein innovatives Spielgerät für Kinder entwickeln.
Da die Handhabung der eines Fahrrades ähneln soll, werden Sie beauftragt, als
Entwicklungsbasis eine Allgemeine Funktionsstruktur für ein handelsübliches Fahrrad (siehe Bild 1) zu erstellen.
Bild 1: Prinzipskizze Fahrrad
Funktionsbeschreibung des Fahrrads als Ausgangssystem
Der Fahrradfahrer treibt durch Muskelkraft die Pedale an. Die Drehbewegung wird über die Tretkurbeln auf das Kettenblatt übertragen. Über die Kette wird ein Zahnkranz am Hinterrad in Rotation versetzt, sodass sich das Hinterrad dreht und das Fahrrad bei Bodenkontakt nach vorne bewegt wird. Durch eine Drehung des Lenkers kann die Richtung der
Vorwärtsbewegung beeinflusst werden.
Bearbeiten Sie folgende Aufgaben:
1. Beschreiben Sie die Hauptaufgabe des Systems Fahrrad verbal!
2. Skizzieren Sie die Hauptaufgabe eines Fahrrads mit Hilfe der bekannten Operationssymbole der Allgemeinen Funktionen.
Benennen Sie die Eingangs- und Ausgangsgrößen!
3. Erstellen Sie mit Hilfe der Informationen in der verbalen Beschreibung und der Darstellung in Bild 1 eine detaillierte allgemeine Funktionsstruktur für das Fahrrad.
Zeichnen Sie ebenfalls die Systemgrenze ein.
Tretkurbel Pedal
Kettenblatt
Hinterrad Vorderrad
Kette Zahnkranz
Lenker Rahmen
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Hinweise:
Schließen Sie den Radfahrer als Energiequelle in die Betrachtung mit ein.
Vernachlässigen Sie zunächst:
Bremsen
Gangschaltung
Neigung des Rades/ Querkräfte
Ordnen Sie den Elementen der AFS die Bezeichnungen aus der Funktionsbeschreibung und aus Bild 1 zu.
Zeichnen Sie quer auf eine Seite.
Verwenden Sie zum Zeichnen der AFS einen Bleistift.
Erweiterung des Systems
Das beschriebene System Fahrrad soll nun um eine Felgenbremse (siehe Bild 2) erweitert werden.
Bild 2: Felgenbremse (links Bremshebel, rechts Bremsmechanismus am Rad) [1], [2]
Das Fahrrad verfügt über eine Felgenbremse, die über einen Bremshebel am Lenker manuell betätigt wird. Ein Bowdenzug überträgt die Bremskraft auf einen Hebelmechanismus, über den die beiden Bremsklötze an die Felge des Vorderrades oder Hinterrades gedrückt werden. Durch die resultierenden Reibkräfte wird das jeweilige Rad abgebremst.
4. Ergänzen Sie die Allgemeine Funktionsstruktur aus Aufgabenteil 3 um eine detaillierte Darstellung einer mechanischen Felgenbremse für das Vorderrad.
Hinweis:
Zeichnen Sie die Lösung dieser Teilaufgabe als neue Skizze. Kennzeichnen Sie in beiden Skizzen (aus Teilaufgabe 3 und 4) die Anschlussstellen der neuen Elemente und bezeichnen Sie diese eindeutig (z.B. mit A, B etc.).
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Literatur
[1] https://www.paul-lange.de/tradepro/shop/artikel/E-BLT780BPAL_detail.jpg [2] http://geizhals.at/p/253785.jpg