Monatsthema
8 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 9-2013
Das Gesamtsystem der Altersvorsorge un
terliegt den Folgen der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Die Auswir
kungen auf das System der ersten Säule (AHV) unterscheiden sich jedoch von jenen auf das System der zweiten Säule (berufliche Vorsorge). Das Umlageverfahren der ersten Säule, das ein Gleichgewicht zwischen den Erwerbstätigen (laufende Einnahmen) und den Rentnern (Ausgaben) voraussetzt, steht auf dem Prüfstand. Grund dafür sind die strukturellen Veränderungen der Alterspyra
mide aufgrund der tieferen Geburtenraten und der längeren Lebenserwartung. Das Ka- pitaldeckungsverfahren der zweiten Säule hin
gegen ist von der längeren Rentenbezugs
dauer betroffen. Das bedeutet, dass die individuellen Guthaben auf einen immer längeren Zeitraum verteilt werden müssen.
Die konjunkturellen Entwicklungen wi
derspiegeln sich in den beiden Systemen ebenfalls unterschiedlich: Die AHV profitiert von einer guten konjunkturellen Entwick
lung, weil eine solche in der Regel zu einer Erhöhung der Lohnsumme führt. Langfristig steigt damit auch die Rentensumme. Da aber die Renten auf der Grundlage des Mischin
dexes (arithmetisches Mittel aus Lohnindex und Preisindex) festgesetzt werden, steigen die Renten etwas moderater als die Löhne.
Dieser Mechanismus hat somit eine dämp
fende Wirkung auf die Ausgaben der AHV.
Für die berufliche Vorsorge gilt dieser kon
junkturelle Zusammenhang grundsätzlich nicht. Einerseits wird sie vom Lohnsummen
bzw. vom Beschäftigungswachstum nur am Rande beeinflusst; andererseits ist die Wir
Grundlagen für die Berechnung der Altersvorsorge
Die Alterung der Gesellschaft wird in den kommenden Jahren spürbare Wirkungen auf die Alters vorsorge ausüben. Eine sorgfältige Abschätzung der künf
tigen Entwicklung der demogra
fischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist zur Sicherstellung der langfristigen Finanzierung der Alterswerke unabdingbar. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) stützt sich hierbei auf aktualisierte wirtschaftliche Eckwerte und verbesserte demografische Sze
narien.
Dr. Thomas Borek Bereich Mathematik, Bundesamt für Sozial- versicherungen BSV, Bern
Dr. Thomas K. Friedli Leiter Bereich Mathe- matik, Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Bern
Wanderungssaldo Bruttoerwerbsquote in %
Bruttoerwerbsquote «tief» Bruttoerwerbsquote «mittel» Bruttoerwerbsquote «hoch»
Wanderungssaldo «tief» Wanderungssaldo «mittel» Wanderungssaldo «hoch»
2012 2017 2022 2027 2032
0 10000 20000 30000 40000 50000 60000 70000 80000
42 43 44 45 46 47 48 49 50
Quelle: BSV / Die Volkswirtschaft Grafik 1
Entwicklung der Bruttoerwerbsquoten und Migrationssaldi für drei Szenarien, 2012–2035
Monatsthema
9 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 9-2013
Annahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung sind in Tabelle 1 dargestellt.
Finanzierungsperspektiven der AHV Dank verschiedener finanzieller Massnah
men, die seit Ende der 1990erJahre umge
setzt wurden, sowie den positiven Einflüssen der bilateralen Abkommen und der Migra
tion üben die demografischen Faktoren heu
te noch keinen beachtlichen Druck auf die Rechnung der AHV aus. Gleichwohl wird die sinkende Geburtenrate – zusammen mit der längeren Lebenserwartung – das Verhält
nis von Rentenberechtigten zu den Aktiven vergrössern. Dieses Ungleichgewicht dürfte sich in den 2030erJahren, wenn die zweite Welle der BabyboomGeneration der 1970er
Jahre ins Rentenalter kommt, noch akzentu
ieren.1
Der AHVFonds ist heute ausreichend ausgestattet, um die ersten Defizite des Um
lageergebnisses, welches die Differenz aus den jährlichen Einnahmen ohne Zinserträge und den Ausgaben ausweist, zu decken. Im Jahr 2011 überstiegen die Einnahmen der AHV von 39 Mrd. Franken die Gesamt
ausgaben von 38 Mrd. Franken und führten zu einem Überschuss von 1 Mrd. Franken.
Die Trennung des AHVFonds und des IV
Fonds brachte eine Überweisung von 5 Mrd.
Franken à fonds perdu an den IVFonds mit sich. Per Ende 2011 deckte der AHVFonds 105,5% einer Jahresausgabe. Damit lag diese Grenze über der gesetzlichen Anforderung.2 Gemäss den Finanzszenarien der AHV dürf
te das Umlageergebnis zwischen 2013 und 2015 negativ werden. Danach dürften die Kapitalerträge das Defizit beim Umlageer
gebnis bis ungefähr 2020 auffangen können.
Ab diesem Zeitpunkt muss in immer stärke
kung der konjunkturellen Entwicklung auf die Anlagerenditen ungewiss. Zu bedenken ist auch, dass die Anlagerenditen zu einem nicht unwesentlichen Teil von den im Aus
land erwirtschafteten Erträgen abhängen.
Entscheidend für die Nachhaltigkeit der be
ruflichen Vorsorge ist, dass langfristig un
abhängig von der Konjunktur eine Rendite erreicht wird, die höher ist als das Lohn
wachstum und die Inflation.
Szenarien der langfristigen Perspektiv
rechnungen bis 2045
In den kommenden Jahrzehnten wird sich die Altersstruktur der schweizerischen Be
völkerung verändern. Die geburtenstarken Jahrgänge der BabyboomGeneration wer
den in den kommenden Jahren in Pension gehen. Zudem ist die Geburtenrate stark ge
sunken und die Lebenserwartung steigt weiter an, sodass sich das Verhältnis zwi
schen der Anzahl älterer Personen und der Anzahl Personen im Erwerbsalter immer mehr verschiebt. Das BSV stützt sich bei der Ausarbeitung der Langzeitperspektiven auf ein Bevölkerungsszenario des Bundesamts für Statistik BFS (Referenzszenario A17
2010) ab und rechnet mit einem jährlichen Wanderungssaldo von +40 000 Personen ab 2030. Zusätzlich werden zwei Bandbreiten
szenarien mit höherer und tieferer Migration berechnet. Grafik 1 zeigt für die drei Szena
rien die Verläufe der Migrationssaldi und der Erwerbstätigenquote in Vollzeitäquiva
lenten.
Die wirtschaftlichen Eckwerte beruhen auf den Annahmen, welche auch dem Bud
get und dem Finanzplan des Bundes aktuell zugrunde liegen. Für die Bandbreitenszena
rien wurden sie entsprechend variiert. Die
Jahr 2013 2014 2015 2016 2017 ab 2018
Lohnindex (SLI)
Szenario «hoch» 1.0 0.6 1.2 1.7 2.1 2.4 Szenario «mittel» 0.8 0.4 1.0 1.5 1.7 2.2 Szenario «tief» 0.6 0.2 0.8 1.3 1.3 2.0 Strukturwandel
Szenario «hoch» 0.4 0.4 0.4 0.4 0.4 0.4 Szenario «mittel» 0.3 0.3 0.3 0.3 0.3 0.3 Szenario «tief» 0.2 0.2 0.2 0.2 0.2 0.2
Zinssatz 2.1% 1.7% 2.2% 2.5% 3.0% 3.5%
Preis 0.6 0.2 0.7 1.0 1.0 1.5
Wanderungssaldo
Jahr 2020 2030 2035 2040 ab 2045
Szenario «hoch» 58 900 50 000 50 000 50 000 50 000 Szenario «mittel» 48 900 40 000 40 000 40 000 40 000 Szenario «tief» 38 900 30 000 30 000 30 000 30 000 Tabelle 1
Wirtschaftliche Eckwerte (Zuwachsraten) und Wanderungssaldi (absolute Werte) für die drei Szenarien
Quelle: BSV / Die Volkswirtschaft
1 Zur Entwicklung der Altersquotienten vgl. Grafik 1 im Artikel von Brechbühl auf S. 5 in dieser Ausgabe.
2 In Art. 107 Abs. 3 AHVG wird gefordert, dass der Ausgleichsfonds in der Regel nicht unter den Betrag einer Jahresausgabe sinken soll.
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rem Masse das Vermögen der AHV in Anspruch genommen werden, um die lau
fenden Renten zu zahlen (siehe Grafik 2).
Ende 2012 betrug das Kapital der AHV 42,2 Mrd. Franken. Davon waren 14,4 Mrd.
Franken Schulden der IV. Wenn die verfüg
bare Liquidität der AHV (d.h. ohne die Be
rücksichtigung der Schulden der IV) unter 70% einer jährlichen Ausgabe liegt, ist eine Schwelle erreicht, die eine schnelle finanziel
le Verschlechterung der Versicherung erwar
ten lässt. Die künftige Entwicklung der Li
quidität der AHV ist unter anderem von der Rückzahlung der Schulden der IV abhängig.
Sämtliche Finanzierungszenarien der AHV zeigen, dass der zusätzliche Finanzbe
darf ab 2020 mit den heute verfügbaren Mit
teln nicht mehr gedeckt werden kann. Im Jahr 2020 wird die Lücke bereits 1,2 Mrd.
Franken betragen; im Jahr 2030 werden es 8,6 Mrd. Franken sein. Grafik 3 zeigt, wel
chen Gegenwert diese Finanzierungslücke in Lohnbeitrags und in Mehrwertsteuerpro
zenten ausmacht.
Finanzierungsperspektiven der beruflichen Vorsorge
Die berufliche Vorsorge ist seit zehn Jah
ren mit einem Rückgang der durchschnittli
chen Kapitalrendite konfrontiert. Der Zins
satz der 10jährigen Bundesobligationen sank seit dem Jahr 2000 von rund 4% auf das Rekordtief von 0,5% gegen Ende 2012 und liegt derzeit wieder etwas über 1%. Die durchschnittliche jährliche Rendite des Pic
tet BVGIndexes 2005 BVG25 plus, der das typische Anlageportefeuille von Schweizer Vorsorgeeinrichtungen abbildet, betrug im gleichen Zeitraum knapp 3,25%. In dersel
ben Periode setzte der seit der 1. BVGRevisi
on geltende Umwandlungssatz von 6,8% je
doch eine Rendite von 4,5% bis 5,0% voraus.
Der Pictet BVGIndex 2005 BVG25 plus entspricht der Anlagepolitik eines Grossteils der Vorsorgeeinrichtungen und ist somit in der beruflichen Vorsorge weit verbreitet und anerkannt. Aus diesem Grund wird er auch von der Schweizerischen Kammer der Pensi
onskassenExperten zur Bestimmung des technischen Referenzzinssatzes verwendet.
Seit dem Jahr 2000 erwirtschafteten Vorsor
geeinrichtungen einen tieferen Ertrag aus der Kapitalanlage, als für einen BVGUm
wandlungssatz von 6,8% erforderlich gewe
sen wäre (siehe Grafik 4). Zudem zeigt der Trend der Kapitalrendite über die vergange
nen Jahre klar nach unten.
Diese Situation wird verschärft durch die stetige Erhöhung der Lebenserwartung, wel
che zur Folge hat, dass das Deckungskapital auf eine längere Zeitperiode aufgeteilt wer
In %
Szenario «tief» Szenario «mittel» Szenario «hoch»
2013 2015 2017 2019 2021 2023 2025 2027 2029 2031 2033 2035
–200 –150 –100 –50 0 50 100
Quelle: BSV / Die Volkswirtschaft Grafik 2
Liquide Mittel des AHVFonds in % der Jahresausgaben der AHV gemäss geltendem Recht, 2013–2035
In %
Lohnsumme «tief» Lohnsumme «mittel» Lohnsumme «hoch»
Mehrwertsteuerprozente «tief» Mehrwertsteuerprozente «mittel» Mehrwertsteuerprozente «hoch»
2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
2022 2023 2024
2025 2026 2027
2028 2029 2030 2031
2032 2033 2034 2035 0.0
0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 3.5 4.0 4.5 5.0
Quelle: BSV / Die Volkswirtschaft Grafik 3
Finanzierungslücke der AHV in Lohnsummen und Mehrwertsteuerprozenten, 2013–2035
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11 Die VolkswirtschaftDas Magazin für Wirtschaftspolitik 9-2013
den muss. Diese Ausgangslage führt in der beruflichen Vorsorge dazu, dass der Ver
mögensertrag primär für die Verzinsung der Kapitalien der Rentenbezügerinnen und be
züger verwendet werden muss, was zu einer Umverteilung von den aktiven Versicherten zu den Rentenbeziehenden führt. Diese Um
verteilung ist umso stärker, je höher der An
teil der Rentendeckungskapitalien an den gesamten Vorsorgekapitalien einer Vorsorge
einrichtung ist.
Diese Entwicklung hat in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass zahlreiche Vorsor
geeinrichtungen Pensionierungsverluste in Kauf nehmen mussten. Dass dies nicht stär
kere negative Auswirkungen auf die Stabilität der beruflichen Vorsorge hat, erklärt sich durch den Umstand, dass der Mindestum
wandlungssatz nur für die obligatorische Minimalvorsorge gilt. Die Mehrheit der Vor
sorgeeinrichtungen versichert auch im über
obligatorischen Bereich und führt die gesetz
liche Mindestvorsorge lediglich im Rahmen einer so genannten Schattenrechnung. Diese Vorsorgeeinrichtungen können den Um
wandlungssatz unter den gesetzlichen Min
destumwandlungssatz senken und machen davon auch Gebrauch.
Finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen Die finanzielle Lage der Vorsorgeeinrich
tungen ist mit Unsicherheiten behaftet und hängt im Wesentlichen von der mittel bzw.
langfristigen Entwicklung der Finanzmärkte ab. In dieser Hinsicht hat die Schuldenkrise die Ungewissheit verschärft. Der Verlauf des kapitalgewichteten durchschnittlichen De
ckungsgrades (siehe Grafik 5) zeigt, dass der Stand vor der Finanzkrise im Jahre 2008 noch nicht wieder erreicht ist.
Seit Ende 2011 hat sich zwar die finanziel
le Lage der Vorsorgeeinrichtungen wesent
lich verbessert. Trotz dieser Stabilisierung konnte die Mehrheit der Vorsorgeeinrich
tungen mit den realisierten Gewinnen noch keine ausreichenden Wertschwankungsreser
ven bilden. Anders gesagt könnten solche Vorsorgeeinrichtungen eine weitere Finanz
krise nicht genügend abfedern. Es besteht al
so weiterhin ein kurz bzw. mittelfristiges Risiko von Unterdeckungen.
In %
Kapitalanlage (Pictet BVG-25 plus Index) Trend der Kapitalrendite (Pictet BVG-25 plus Index) Notwendige Rendite für Umwandlungssatz 6,8% im Jahr 2015
1990 1991
1992 1993 1994 1995 1996 1997
1998 1999 2000 2001
2002 2003 2004
2005 2006 2007
2008 2009 2010 2011
2012 Juni 20
13 –15
–10 –5 0 5 10 15 20 25
Quelle: BSV, Pictet / Die Volkswirtschaft Grafik 4
Entwicklung der Kapitalrenditen, 1990–2013
In %
Kassen ohne Staatsgarantie Kassen mit Staatsgarantie
Ende 2005 104.6
110.4 112.2
Ende 2006 Ende 2007 Ende 2008 Ende 2009 Ende 2010 Ende 2011 Ende 2012 30.06.2013 75
80 85 90 95 100 105 110 115
111.2
97.2
103.4 103.4
101.2
104.8 106.9
85.9 91.3
93.5 93.2
79.1
84.0 82.9 80.6
82.9 84.3
Quelle: BSV / Die Volkswirtschaft Grafik 5
Entwicklung des kapitalgewichteten durchschnittlichen Deckungsgrades, 2004–2013