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Geschichte der Philosophie

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Geschichte der Philosophie

Herausgegeben von Wolfgang Röd

Band IX, 1

Verlag C.H.Beck München

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Die Philosophie der Neuzeit 3

Teil 1

Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer

Von Wolfgang Röd

Verlag C.H.Beck München

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Zum Buch

Die Kantische Philosophie stellt eine Wende in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens dar. Kant beanspruchte mit Recht, sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie revolutioniert zu haben. Neben Kant, seinen wichtigsten Schriften und seiner kritischen Methode stellt der Band auch die bedeutendsten Anhänger und Kritiker Kants im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert vor, darunter Reinhold, Schiller, Jacobi und Herder. Ein dritter Teil gilt den selb- ständigen Vertretern des kritischen Denkens mit einem besonderen Blick auf die Philosophie Schopenhauers.

Über den Autor

Wolfgang Röd war bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Philosophie am Philosophischen Institut der Universität Innsbruck und ist Herausgeber und Autor der bei C.H. Beck erscheinenden Reihe „Geschichte der Philosophie“.

Von ihm sind darüber hinaus lieferbar: Dialektische Philosophie der Neuzeit (21986), Erfahrung und Reflexion (1991), Der Weg der Philosophie (2 Bände,

22008/09), Der Gott der reinen Vernunft (2009).

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1. Auflage. 2006

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2006 ISBN Buch 978 3 406 31274 8 ISBN eBook 978 3 406 65673 6

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . 7

Einleitung . . . 9

I. Immanuel Kant . . . 19

1. Leben und Werke . . . 19

a) Die wichtigsten biographischen Daten 19 – b) Kants sog. vorkriti- sche Schriften 20 – c) Die kritischen Hauptwerke 22 – d) Kants Schriften nach 1790 24 2. Kants Philosophie vor 1770 . . . 25

3. Die Kritik der reinen Vernunft . . . 32

a) Die Methode der „Kritik“ 32 – b) Die Transzendentale Ästhetik 36 – c) Die Transzendentale Analytik 38 – d) Die Transzendentale Dialektik 62 InhaltsverzeichnisInhaltsverzeichnis 4. Die Ethik . . . 74

a) Kants Ethik in den sechziger Jahren 74 – b) Die Methode der Kan- tischen Ethik 77 – c) Prinzipien des sittlichen Sollens 79 – d) Freiheit und Würde der Person 84 – e) Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft 87 – f) Tugenden und Tugendpflichten 90 5. Die Kritik der Urteilskraft . . . 92

a) Die Funktion der Urteilskraft 92 – b) Die Lehre vom Schönen 93 – c) Die Lehre vom Erhabenen 101 – d) Urteilskraft und Teleologie 103 6. Metaphysik der Natur und die Spätform der Transzendental- philosophie . . . 108

a) Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften 108 – b) Naturphilosophie im Opus postumum 112 – c) Transzendental- philosophie im Opus postumum 116 7. Rechts- und Staatslehre . . . 119

a) Die Rechtslehre 119 – b) Die Staatslehre 125 8. Die Religionsphilosophie . . . 130

a) Kants religionsphilosophische Schriften 130 – b) Der vernünftige Glaube 132 – c) Das radikale Böse 134 – d) Die Kirche und der Kir- chenglaube 136 – e) Schriftauslegung im Licht der Moral 137 – f) Der Charakter von Kants Religionsphilosophie 138 9. Die Anthropologie . . . 140

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10. Die Geschichtsphilosophie . . . 143

a) Der Fortschritt der Menschheit 143 – b) Fortschritt in der Philoso- phie 147 II. Anhänger und Kritiker Kants im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert . . . 149

1. Frühe Vertreter des Kantianismus . . . 150

a) Reinhold 150 – b) Beck 156 – c) Krug 158 – d) Schiller 160 2. Kritiker des Kantianismus . . . 162

a) Jacobi 162 – b) Bardili 166 – c) Schulze 168 – d) Maimon 173 – e) Herder 178 III. Selbständige Vertreter des kritischen Denkens . . . 183

1. Herbart . . . 183

a) Die Methode der Philosophie 184 – b) Die Theorie der Realen 186 – c) Grundgedanken der Psychologie 189 – d) Die praktische Philo- sophie 190 2. Fries . . . 191

a) Grundgedanken des Kritizismus 192 – b) Die Metaphysik 195 – c) Die Geschichte der Philosophie 197 – d) Die Friessche Schule 199 3. Schopenhauer . . . 201

a) Leben und Werke 201 – b) Die Welt als Vorstellung 203 – c) Die Welt als Wille 206 – d) Die Erlösungslehre 209 – e) Die Grundpro- bleme der Ethik 211 – f) Die Geschichtsphilosophie 214 – g) Die Auffassung der Metaphysik 215 4. Beneke . . . 217

a) Charakter und Aufgabe der Philosophie 217 – b) Grundgedanken der Metaphysik 219 – c) Die Logik 221 Schlußbemerkungen . . . 224

Anmerkungen . . . 237

Personenregister . . . 287

Sachregister . . . 293 Inhaltsverzeichnis

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Vorwort

Mit dem vorliegenden ersten Teil von Band IX der „Geschichte der Philoso- phie“ wird – ebenso wie mit dem bald folgenden zweiten Teil – eine Brücke von den Bänden VII und VIII zu den Bänden X ff. geschlagen. Der ursprüng- lichen Planung zufolge sollte in Band IX sowohl die Kantische als auch die nachkantische idealistische Philosophie erörtert werden; bald wurde aber klar, daß dieser Themenbereich zu weit ist, als daß er in einem Band angemessen hätte dargestellt werden können. Zugunsten der Teilung von Band IX in zwei Halbbände sprachen jedoch nicht nur äußerliche, sondern auch inhaltliche Er- wägungen, vor allem die Überlegung, daß der nachkantische Idealismus einen anderen Charakter hat als die Kritische Philosophie.

Bei der Aufteilung des Stoffs auf zwei Bände ließen sich gewisse Über- schneidungen nicht vermeiden. Da bei der Entstehung des nachkantischen Idealismus Bemühungen um die Modifikation der Kantischen Philosophie eine wichtige Rolle spielten, können Philosophen, die, wie Karl Leonhard Reinhold oder Salomon Maimon, vermeintliche Mängel des Kantischen Kriti- zismus überwinden wollten und damit den Weg zum Idealismus ebneten, einerseits als Fortsetzer und Umbildner der Kantischen Philosophie, anderer- seits als Wegbereiter des nachkantischen Idealismus betrachtet werden. Das erstere geschieht im vorliegenden, das letztere im folgenden Halbband. Wenn manche Autoren in beiden Teilen von Band IX berücksichtigt werden, handelt es sich somit nicht um bloße Wiederholungen, sondern um einander ergän- zende Darstellungen.

Herzlich gedankt sei auch an dieser Stelle Herrn Dr. h. c. Wolfgang Beck, der als Verleger den Anstoß zur Entstehung der vorliegenden „Geschichte der Philosophie“ gegeben und die Arbeit an dem Werk mit anhaltendem Interesse begleitet hat; dem zuständigen Lektor, Herrn Dr. Stefan Bollmann, und Frau Angelika von der Lahr für die sorgfältige Betreuung des Bandes von seiten des Verlags; Herrn Henning Moritz (Magdeburg), der das gesamte Manuskript gründlich durchgesehen, zahlreiche Verbesserungsvorschläge gemacht und die Register erstellt hat; Herrn Professor Reinhard Kleinknecht (Salzburg), der einen Teil des Manuskripts kritisch durchgesehen und wichtige Korrekturen angeregt hat.

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Einleitung

Neue philosophische Konzeptionen treten nicht unvermittelt, sondern erst nach einer gewissen Vorbereitungszeit – Heidegger sprach im Hinblick auf den Satz vom Grunde von Inkubationszeit – in vollentwickelter Gestalt auf.

Das gilt auch für die Kantische Transzendentalphilosophie, deren Gedanken zum Teil schon geraume Zeit vor Kant bei verschiedenen Denkern ansatzweise vorhanden waren. Es liegt nahe, zur Einführung in die Darstellung der Kanti- schen Philosophie und der Reaktionen, die sie im ausgehenden 18. und im be- ginnenden 19. Jh. hervorrief, einen Blick auf gewisse den Kantischen Kritizis- mus vorbereitende bzw. vorwegnehmende Auffassungen im 17. und 18. Jh. zu werfen. Das kann im vorliegenden Zusammenhang allerdings nur skizzenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit geschehen. EinleitungEinleitung Ungeachtet der Tatsache, daß manche Gedanken Kants da und dort vage an- tizipiert wurden, stellt die Kantische Philosophie eine Wende in der Geschich- te des neuzeitlichen Denkens dar, weil sie nicht nur auf eine Änderung der phi- losophischen Denkweise hinauslief, sondern diese Änderung zum Ziel hatte und sie systematisch durchführte. Kant beanspruchte mit Recht, sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie revolutioniert zu haben. Die theoretische Philosophie hat nach Kant nicht mehr die Aufgabe, Gegenstände, insbesondere erfahrungsjenseitige Gegenstände, zu erkennen, sondern sie dient dem Ziel, Erkenntnisansprüche, namentlich den mit einzelwissenschaft- lichen Sätzen verbundenen Anspruch objektiver Gültigkeit, begreiflich zu ma- chen; in der praktischen Philosophie geht es auf Grund der von Kant eingelei- teten Revolution nicht mehr um die Ableitung von Geboten und Verboten aus der Natur der Dinge oder der Natur des Menschen, sondern um die Bestim- mung der Bedingungen, unter denen sich das sittliche Sollen begreiflich ma- chen läßt. Die Kantische Philosophie ist somit einerseits Theorie der Erfah- rung, andererseits Theorie der moralischen Pflicht, und in Abhängigkeit hiervon einerseits Metaphysik der Natur, andererseits Metaphysik der Sitten (mit Rechts- und Staatsphilosophie) sowie Ästhetik und Lehre von der Natur- teleologie.

Die Wende vom objektbezogenen Philosophieren zur Reflexion auf subjek- tive Bedingungen der Gegenstandserfahrung und des Bewußtseins unbeding- ter Verpflichtung wurde durch eine andere Wende ermöglicht, die sich in der frühen Neuzeit anbahnte. Im 17. Jh. sah sich die Philosophie durch die von Galilei, Huygens, Kepler und anderen repräsentierte Naturwissenschaft, die die Naturphilosophie des Mittelalters und der Renaissance verdrängte, zu einer Umorientierung gezwungen. Das Ideal unbedingt gewisser Wirklich-

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keitserkenntnis, das das metaphysische Denken seit Parmenides (s. Bd. I, Kap. VII) geleitet hatte, schien mit den Mitteln der mathematischen Naturwis- senschaft verwirklicht werden zu können – ein Irrtum, wie in der Rückschau festzustellen ist, aber ein für die zeitgenössische Philosophie wichtiger Irrtum, denn er hatte zur Folge, daß Themen, die bisher als genuin philosophisch ge- golten hatten, an die Naturwissenschaften abgetreten wurden. Das gilt für die Kosmologie als Teil der speziellen Metaphysik, der die Astronomie den Rang abzulaufen begann, wie für die metaphysische Seelenlehre, deren Ablösung durch die empirische Psychologie bald danach einsetzte. Dieser Rückzug aus Bereichen, die früher als Domäne der Philosophie gegolten hatten, wurde kompensiert durch die Erschließung eines neuen Aufgabenbereichs: Ange- sichts des für die Naturwissenschaften charakteristischen Erkenntnisan- spruchs erhob sich die Frage, ob und inwieweit dieser Anspruch berechtigt sei.

In der theoretischen Philosophie, auf die zunächst geblickt werden soll, kündigte sich die Wende bei Descartes an, der vom Physiker und Mathemati- ker, der er ursprünglich war, zum Metaphysiker wurde, als er einsah, daß der mit den Grundsätzen der mathematischen Naturwissenschaft (und in Abhän- gigkeit von ihnen auch mit spezielleren naturwissenschaftlichen Sätzen) ver- bundene Anspruch objektiver Gültigkeit einer Begründung bedürfe. Physika- lische Theorien könnten rein subjektive Konstruktionen sein, denen in der Wirklichkeit selbst nichts entspricht. Der Zweifel an der objektiven Gültigkeit naturwissenschaftlicher Sätze, der den Kern des Cartesianischen methodi- schen Zweifels bildet, muß im Interesse der Wissenschaft ausgeräumt werden.

Das geschieht bei Descartes mit Hilfe einer metaphysischen Theorie, in der, ausgehend von der Gewißheit der Existenz des denkenden Ich, die Existenz Gottes als des absolut vollkommenen und daher auch wahrhaftigen Wesens er- schlossen wird. Gott kann den Menschen nicht so geschaffen haben, daß er irrt, wenn er – wie es bei wissenschaftlichen Sätzen der Fall ist – auf Grund klarer und distinkter Ideen urteilt, denn ein solcher Irrtum wäre unvermeid- lich und könnte als Irrtum nicht erkannt werden, so daß dem Menschen das Vermögen, Wahres von Falschem zu unterscheiden, abgesprochen werden müßte, was mit Gottes „Wahrhaftigkeit“ nicht zu vereinbaren ist. Gott fun- giert bei Descartes somit als Garant der objektiven Gültigkeit der evidenten Urteile, vor allem in der Mathematik und der Physik (s. Bd. VII, Kap. III, 6–7).

Formal ähnlich, wenn auch in inhaltlich verschiedener Weise, haben Leib- niz, Spinoza und andere Vertreter der rationalistischen Metaphysik die Objek- tivität von Urteilen über denkunabhängige Gegenstände zu begründen ge- sucht: Sie nahmen an, daß Denk- und Seinsordnung einen gemeinsamen Grund hätten – er heiße Gott, absolut unendliche Substanz oder Urmonade – und infolge der Abhängigkeit von diesem einander zugeordnet seien. Der zen- trale Gedanke ist bei allen Vertretern der rationalistischen Metaphysik dersel- be, nämlich die Annahme, daß es eine umfassende vernünftige Ordnung der

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Wirklichkeit gebe, in welche die Formen der Dinge ebenso wie die Formen des klaren und distinkten Denkens eingebettet sind. Wegen der Zugehörigkeit zu dieser Ordnung stimmen Denk- und Seinsformen überein. Die rationalistische Metaphysik erweist sich, so gesehen, als Theorie der Erfahrung bzw. der Er- kenntnis. Als Theorie der Erfahrung verfolgt sie, wenn auch mit anderen Mit- teln, dasselbe Ziel wie Kants theoretische Philosophie: begreiflich zu machen, wie objektiv gültige Urteile, vor allem Urteile der Naturwissenschaft, möglich sind.

Auch Kants kritische Methode wurde im 17. und 18. Jh. antizipiert, nämlich von jenen Philosophen, die der analytischen (regressiven) Methode den Vor- zug vor der synthetischen (progressiven) gaben. Bei der Analyse wird von et- was ausgegangen, das als gegeben betrachtet wird, und nach den Bedingungen gefragt, unter denen es gegeben sein kann. Bei der Synthese werden dagegen allgemeine Sätze (Axiome) zugrunde gelegt und aus ihnen Theoreme abgelei- tet. Ausdrücklich bezeichnete Descartes die Analyse als die der Metaphysik angemessene Betrachtungsweise. Die synthetische Methode ist seiner Ansicht nach in der Mathematik, nicht aber in der Metaphysik am Platze – eine Auffas- sung, die auch Kant vertreten hat. Spinoza, Leibniz, Chr. Wolff und andere wollten dagegen die Metaphysik nach synthetischer Methode – ordine geome- trico – aufbauen, doch auch bei ihnen finden sich Ansätze der analytischen Be- trachtungsweise. Wenn Spinoza das Ziel der Analyse in der reflexiven Er- kenntnis des Wissens, in der Idee des Wesens der Idee, erblickte, meinte er eine analytische Theorie der Erfahrung.1Auch Leibniz hatte die analytische Me- thode im Auge, wenn er forderte, Wahrheiten durch Zurückführung auf deren Bedingungen (conditions, requisits) zu begründen. Hat dieses Verfahren Er- folg, kann es zu evidenten Einsichten führen.2Mit Hilfe der Analyse soll in der Theorie der Erfahrung begreiflich gemacht werden, daß wir Dinge nicht als bloße Aggregate von Eigenschaften, sondern als Einheiten erfahren. Nach Leibniz wird die Einheit der Dinge nicht vorgefunden, sondern vom Subjekt im Denken erzeugt; unabhängig vom einheitsstiftenden Denken könnte das Ding nicht als Einheit in der Mannigfaltigkeit begriffen werden.3

In bezug auf die Methode der Philosophie stand Kant der Cartesianischen Auffassung nahe, doch seine analytische Betrachtungsweise ging in eine ande- re Richtung; sie zielt auf die Unterscheidung von Form und Inhalt ab, die es Kant möglich machte, die – räumliche, zeitliche und kategoriale – Form auf das Subjekt, den Inhalt (die Empfindungen) auf die Dinge an sich zu beziehen.

Mit der Feststellung, daß sich ohne Berücksichtigung des inhaltlichen Mo- ments die Erfahrung von Gegenständen nicht als möglich begreifen lasse, trug Kant der empiristischen Betrachtungsweise Rechnung; mit der Auffassung von Raum, Zeit und Kategorien (wie „Verursachung“) als erfahrungsunabhän- giger Anschauungsformen bzw. Begriffe trat er dem empiristischen Reduktio- nismus entgegen und nahm mit den Vertretern des Rationalismus an, daß es nicht-empirische Begriffe gibt.

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Bei Descartes findet sich auch im Ansatz eine Auffassung, die erst Kant mit voller Klarheit vertreten sollte, nämlich die Einsicht in die Rolle, die Urteile in der Erfahrung von Dingen spielen. Die Erfahrung ist nach Descartes, wie spä- ter nach Kant, kein rein rezeptiver Akt; schon die einfachste Wahrnehmung enthält mindestens implizit ein Urteil. Die landläufige Ausdrucksweise, der zufolge Dinge gesehen, gehört, getastet werden usw., ist irreführend; korrekt muß es heißen: Wir urteilen, daß es sich um ein so und so beschaffenes Ding handelt.4Da Descartes das Urteil als Akt des Verstandes, somit des Geistes, betrachtete, konnte er sagen: Die Wahrnehmung ist nicht ein Sehen, ein Berüh- ren, ein Vorstellen, sondern ausschließlich eine Einsicht des Geistes.5In die- sem Sinne war auch Kant überzeugt, daß es unabhängig von der Spontaneität des Subjekts keine Gegenstandserfahrung geben könne.

Der im Mittelpunkt der rationalistischen Erkenntnismetaphysik stehende Gedanke einer transzendenten Wahrheitsgarantie machte es erforderlich, die Existenz des Wahrheitsgaranten – Gottes, der absolut unendlichen Substanz, der Urmonade – zu beweisen, und zwar ausschließlich mit den Mitteln des Systems von Grundbegriffen und Grundsätzen, als das diese Metaphysik ver- standen wurde. Als ein solcher Beweis kam nur das ontologische Argument in Betracht, d. h. der Schluß vom Begriff eines absolut vollkommenen Wesens auf dessen als „Vollkommenheit“ aufgefaßte Existenz. Als Hume, die Einwände früherer Kritiker überbietend, diesen Schluß als fehlerhaft durchschaute, brach er den Schlußstein aus dem Gewölbe der rationalistischen Metaphysik heraus. Kant wurde durch Humes Kritik aus dem dogmatischen Schlummer, d. h. dem Traum von einer rein vernünftigen Erkenntnis der denkunabhängi- gen Wirklichkeit, geweckt, ohne jedoch Humeaner zu werden.

Hume hielt die Ansicht, daß Vorstellungen bewußtseinsjenseitige Gegen- stände repräsentieren, nicht nur für unbeweisbar, sondern für sinnlos, da sie prinzipiell nicht empirisch überprüft werden kann. Sein radikaler Empirismus mündete somit in den Skeptizismus, während Kant den reinen Verstandesbe- griffen, den mit ihrer Hilfe formulierten Grundsätzen und ihren Folgesätzen objektive Gültigkeit sichern wollte. Er lehnte den reduktionistischen Empiris- mus ab, weil er erkannte, daß es Begriffe gibt, die unabhängig von Sinnesein- drücken konstruiert werden. Hume hatte gemeint, daß Begriffe der Geome- trie, wie „Punkt“, „Gerade“ usw., auf konkreten Anschauungen beruhten und daher niemals völlig präzis seien. Infolgedessen hielt er Sätze der Geometrie, ebenso wie empirische Sätze, für bloß wahrscheinliche Hypothesen und ver- fehlte damit das Wesen des mathematischen Denkens. Kant faßte dagegen die Grundbegriffe der Mathematik als Konstrukte auf, die unabhängig von beson- deren Anschauungen auf Grund der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit vom Subjekt erzeugt werden, und vermochte daher besser als Hume dem Charakter der mathematischen Erkenntnis gerecht zu werden.

Eine ähnliche Korrektur an der empiristischen Auffassung nahm Kant in bezug auf Begriffe wie „Substanz“ oder „Kausalität“ vor. Der von ihm bewun-

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derte Locke hatte von solchen Begriffen bzw. von komplexen Ideen im allge- meinen gemeint, daß sie, anders als einfache Ideen, vom Subjekt erzeugt wür- den (s. Bd. VIII, Kap. II, 6), und Hume suchte ihre Entstehung mit den Mitteln der Assoziationspsychologie zu erklären. Diese Begriffe haben seiner Ansicht nach rein subjektiven Charakter, so wie auch Grundsätze, wie das Prinzip der Substantialität oder das Kausalitätsprinzip, subjektiv bedingte Annahmen, so- mit nicht notwendig wahr sind. Demnach sind nicht nur Kausalsätze – wie

„Die Sonne erwärmt den Stein“ –, sondern auch das Kausalitätsprinzip als hy- pothetisch zu betrachten. Kant stimmte Hume in bezug auf spezielle Kausal- urteile zu, lehnte es aber ab, das Kausalitätsprinzip als hypothetisch aufzufas- sen; er betrachtete es als streng allgemeingültiges, somit nicht-hypothetisches Urteil, das nicht Ausdruck einer psychologisch erklärbaren Überzeugung sein kann. Was vom Kausalitätsprinzip gilt, kann auf die obersten Grundsätze im allgemeinen übertragen werden: Sie lassen sich nach Kant nicht psychologisch erklären, so wie philosophische Fragen im allgemeinen nicht in einzelwissen- schaftliche Probleme übersetzt werden können. So läßt sich auch das Objekti- vitätsproblem nicht im Rahmen der Psychologie lösen, von deren Standpunkt aus nur von einem irrationalen Objektivitätsglauben gesprochen werden kann.

Da auch die rationalistische Metaphysik, allerdings aus anderen Gründen als der radikale Empirismus, gegenüber dem Problem der objektiven Gültigkeit von Grundbegriffen und Grundsätzen versagt, sah sich Kant vor die Aufgabe gestellt, eine philosophische Theorie der Erfahrung zu konzipieren, die weder auf die Konstruktionen der „dogmatischen“ Metaphysik noch auf einzelwis- senschaftliche Annahmen angewiesen ist; angemessen läßt sich das Objektivi- tätsproblem nur im Rahmen der transzendentalen Theorie der Erfahrung dis- kutieren.

Der Grundgedanke der Theorie, die nach Kant allein diesem Problem ge- recht wird, besagt, daß die Gegenstände der Erfahrung nicht unabhängig vom Subjekt vorhanden sind; sie werden insofern vom Subjekt erzeugt, als sie auf Deutungen innerhalb eines von ihm konzipierten theoretischen Rahmens be- ruhen. Weil Objekte von diesem Rahmen abhängig sind, sind Grundbegriffe und Grundsätze, die diesem Rahmen angehören, sowie alles, was aus ihnen folgt, von den Objekten gültig. Wir finden in den Objekten wieder, was wir deutend in sie hineingelegt haben.

In der Moralphilosophie fand Kant ebenfalls zwei unvereinbare Positionen vor, nämlich eine rationalistisch-metaphysische und eine empiristische Auffas- sung. Nach der ersteren hat die Ethik die Aufgabe der Normbegründung, während sie nach der letzteren auf Beschreibung und Erklärung moralischer Wertungen beschränkt ist. Die Vertreter der rationalistischen Ethik des 17./

18. Jh.s nahmen an, daß es evidente moralische Prinzipien gibt, die unbedingt verbindlich sind; die empiristisch eingestellten Moralphilosophen der Epoche erblickten dagegen ihre Aufgabe vor allem in der Aufklärung der Genese mo- ralischer Werturteile. Die rationalistische Auffassung kommt klar bei Leibniz

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und den Leibnizianern des 18. Jh.s zum Ausdruck, die „gut“ als „vollkom- men“ verstanden und daher das sittliche Streben als Streben nach Vervoll- kommnung bestimmten. Moralische und naturrechtliche Normen sind dieser Ansicht nach in der Natur der Dinge fundiert und werden subjektiv als Ver- nunftgebote erfaßt. Die ethischen Prinzipien sind, wie Leibniz erklärte, eben- so in Gottes Ideen bzw. in der von ihnen abhängigen unveränderlichen Natur der Dinge begründet wie die Prinzipien der Mathematik.6Aus der Erkenntnis des Guten folgt die Pflicht, das Gute zu erstreben. In diesem Sinne stellte Chr.

Wolff als oberstes moralisches Gebot den Satz auf: „Tue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener macht!“7Vom Standpunkt des Empiris- mus aus geht es dagegen in der Moralphilosophie nicht um die Formulierung ethischer Imperative, da sich moralische Gebote und Verbote empiristischer Ansicht zufolge nicht a priori begründen lassen. So erkannte Hume die Ablei- tung von Sollenssätzen aus Aussagen über die Natur der Dinge als unmöglich;

an ihre Stelle tritt die psychologische Analyse der moralischen Billigung und Mißbilligung. Streng allgemeingültige Moralprinzipien lassen sich im Rahmen der empiristischen Betrachtungsweise nicht gewinnen; selbst wenn gewisse Wertungen immer und überall anzutreffen wären, würde das nicht bedeuten, daß sie ausnahmslos gelten müssen.

Wie in der theoretischen Philosophie war Kant auch in der Ethik nur in negativer Hinsicht von Hume beeinflußt, nämlich durch dessen Kritik an Ver- suchen metaphysischer Normbegründung; Humes Ansicht, der zufolge die Ethik in der Psychologie des Wertens aufgeht, konnte er dagegen nicht billigen, weil er der sittlichen Pflicht unbedingten Charakter zuschrieb und sah, daß im Rahmen der empiristischen Philosophie ihrer unbedingten Verbindlichkeit nicht Rechnung getragen werden kann. Da für ihn somit weder die rationalisti- sche noch die empiristische Auffassung in Betracht kamen, mußte er nach einer Alternative sowohl zur transzendenten Normbegründung als auch zur Be- schränkung auf eine deskriptiv-explanatorische Betrachtungsweise suchen. Er fand sie in einer Theorie des als unbedingt betrachteten sittlichen Sollens, die nicht auf transzendent-metaphysischen Prämissen, sondern auf der Analyse der Form moralischer Imperative beruht. Mit den Mitteln einer solchen Analyse formulierte er ein Kriterium der Beurteilung moralisch relevanter Maximen. Die Tatsache des unbedingten Sollens suchte er im Rahmen einer Theorie begreiflich zu machen, in der die Idee der Freiheit bzw. der sittlichen Autonomie, die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit eine entscheidende Rolle spielen. Diese Ideen haben keine kognitive, sondern eine rein praktische Funktion.

Die Theorie der Erfahrung und die Theorie des sittlichen Sollens sind die zentralen Disziplinen der Kantischen Philosophie, von denen deren andere Teile, wie die Naturphilosophie, die Ästhetik, die Rechtsphilosophie, die Phi- losophie der Geschichte, abhängen.

Wenn ein Philosoph, wie es Kant tat, mit traditionellen Auffassungen bricht, muß das unter den Zeitgenossen unweigerlich zu einer starken Polari-

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sierung führen. Tatsächlich standen sich im ausgehenden 18. und im beginnen- den 19. Jh. Anhänger und Gegner des Kantianismus gegenüber, wie im II. Ka- pitel gezeigt wird. Dabei verdienen die letzteren philosophiegeschichtlich mehr Beachtung, weil ihre Argumente die weitere Entwicklung des philoso- phischen Denkens stärker beeinflußten als die Bemühungen der Anhänger um die Verbreitung und die Klärung von Kants Gedanken. Unter den Kritikern sind wiederum jene, die sich um Modifizierung zentraler Kantischer Auffas- sungen bemühten, interessanter als die Vertreter einer uneingeschränkt ableh- nenden Einstellung gegenüber dem Kantianismus. Daß in der Auseinanderset- zung mit Kant auch auf ältere philosophische Auffassungen zurückgegriffen wurde, ist verständlich, da das traditionelle Denken immer noch einflußreich war. So stützte sich Johann August Eberhard (1739–1809) auf Leibniz, und Moses Mendelssohn hielt an zentralen Auffassungen der deutschen Aufklä- rungsphilosophie fest. Daß der Ablehnung des Kantianismus manchmal Miß- verständnisse zugrunde lagen, ist angesichts seiner Neuartigkeit nicht verwun- derlich. So handelte es sich um Mißverständnisse, wenn Mendelssohn in Kant einen rein destruktiven Denker – den Alleszermalmer – sah oder wenn Jacobi ihn als Wegbereiter des Nihilismus betrachtete.

Nach Ansicht dieser Gegner war Kant mit seiner Kritik an der überlieferten Philosophie zu weit gegangen; andere warfen ihm dagegen vor, nicht weit genug gegangen zu sein und den transzendentalen Ansatz nicht konsequent genug ent- wickelt bzw. bei der Systematisierung der Philosophie versagt zu haben, wie zum Beispiel K. L. Reinhold meinte. Der Versuch, die Transzendentalphiloso- phie durch Zugrundelegung eines obersten Grundsatzes zu systematisieren – außer Reinhold ist hier Fichte zu nennen, dessen Wissenschaftslehre in Bd. IX, 2 behandelt wird –, beruhte auf einer Auffassung der Grundsätze, die Kant bereits hinter sich gelassen hatte.8

Eine besondere Rolle bei der Auseinandersetzung mit der Kantischen Philo- sophie spielten Einwände gegen die Annahme, daß der Inhalt der Erfahrung auf Affektion von seiten der Dinge an sich zurückzuführen sei. Da die Affektion (der Reiz) eine Art der Kausalität ist und da unter Kants Voraussetzungen die Kausalkategorie nicht auf Dinge an sich bezogen werden kann, scheint die Af- fektionslehre widerspruchsvoll zu sein. Dieser zuerst von Jacobi (s. Kap. II, 2 a) vorgebrachte Einwand wurde stark beachtet. Der Ausweg, daß wir die Wirk- lichkeit an sich nicht erkennen, sondern an sie glauben (im Sinne von Humes

„belief“; s. Bd. VIII, Kap. IX, 3), wies bereits in die Richtung einer sich von Kants argumentativer Philosophie grundsätzlich entfernenden Denkweise. Auf einem anderen Weg suchte Salomon Maimon (s. Kap. II, 2 d) den Schwierigkei- ten der Affektionslehre zu entgehen: Er faßt „Ding an sich“ als Grenzbegriff bzw. als Begriff des allseitig bestimmten Gegenstands auf und nahm damit die von den Marburgern Neukantianern vertretene Deutung vorweg.

Besondere Beachtung verdienen Einwände, die vom Standpunkt des Skepti- zismus aus gegen die Kantische Philosophie gerichtet wurden. Kant hatte die

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rationalistische Metaphysik als dogmatisch bezeichnet; nun wurde ihm selbst Dogmatismus vorgeworfen, besonders eindringlich von G. E. Schulze (s.

Kap. II, 2 c). Diese Kritik richtet sich gegen den von Kant erhobenen An- spruch, eine Philosophie konzipiert zu haben, deren Grundlage notwendig wahre Sätze bilden. Kants skeptizistische Kritiker hatten insofern recht, als Kant tatsächlich beanspruchte, nichteine, sondern die einzig mögliche Philo- sophie grundgelegt zu haben, namentlich die einzig mögliche Theorie der Er- fahrung. Auf Grund der Kritik an diesem Anspruch konnten Versuche, über die Kantische Position hinauszugehen, als gerechtfertigt erscheinen, zum Bei- spiel durch den Schritt vom kritischen zum spekulativen Idealismus. Obwohl der Idealismus, vor allem in Form der Hegelschen Philosophie, in den ersten Jahrzehnten zu der in Deutschland dominierenden Richtung wurde und ob- wohl er auch in England, Italien und Frankreich Vertreter fand (s. Band XII, Kap. VIII), beherrschte er nicht allein das Feld; Denker wie Herbart, Fries, Schopenhauer oder Beneke, deren Auffassungen im einzelnen stark auseinan- dergingen, stimmten in ihrer Ablehnung des spekulativen Idealismus überein.

Obwohl sie an die Kantische Philosophie anknüpften, dachten sie so selbstän- dig, daß sie nicht als Kantianer gelten können (s. Kap. III dieses Bandes; zur positivistischen und materialistischen Kritik am Idealismus s. Bd. X.) Vor al- lem die Hinwendung zu einer realistischen Metaphysik und die Tendenz zur psychologischen Fundierung der Philosophie trennen sie vom Kantianismus.

Herbart meinte, durch die Aufdeckung von Widersprüchen der Erfahrungs- realität zur Wirklichkeit an sich vordringen und sie, ähnlich wie Leibniz, als Menge einfacher Substanzen bestimmen zu können. Fries führte metaphysi- sche Ideen auf „Ahndung“ zurück, und Schopenhauer meinte durch Entzif- fern der Chiffrenschrift der Natur einen auf rationale Argumente nicht mehr angewiesenen Zugang zur Wirklichkeit an sich finden zu können. Beneke ging es dagegen nur um die Erklärung des Zustandekommens metaphysischer Ideen mit den Mitteln der Psychologie, so daß bei ihm die Philosophie zur Psychologie metaphysischer Überzeugungen wird.

Im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jh. standen bei der Auseinanderset- zung mit Kant Probleme der Theorie der Erfahrung und der Metaphysik im Vordergrund, mit der Folge, daß die Kantische Ethik weniger eindringlich erörtert wurde. Infolgedessen fand auch die ethisch fundierte Metaphysik bei den im vorliegenden Band behandelten Autoren – anders als bei den Vertre- tern des nachkantischen spekulativen Idealismus – weniger Beachtung. Die auf vernünftigem, ethisch begründetem Glauben beruhende Metaphysik, in der Kant in den späten Entwürfen zu einer Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (s. Kap. I, 10 b) das Ziel der von Leibniz ausgehenden, über Hu- mes und seine eigene Kritik an der rationalistischen Metaphysik zur Metaphy- sik der Freiheit führenden Entwicklung erblickte, wurde vernachlässigt, so wie Kants Pflichtethik nur wenige Anhänger fand, unter ihnen J. Fr. Fries, der mit Kant in der Würde der menschlichen Person die zentrale moralische Idee

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erblickte (s. Kap. III, 2 b), während ihr Arthur Schopenhauer, der nicht nur die Kantische Pflichtethik, sondern die normative Ethik im allgemeinen verwarf, entschieden entgegentrat. Die Ethik hat nach Schopenhauer nicht die Aufgabe, Gebote und Verbote aufzustellen und zu begründen, sondern sie kann nur be- schreiben, was als moralisch gut bzw. schlecht gilt, und versuchen, die Entste- hung moralischer Wertungen zu erklären (s. Kap. III, 3 e). Einen anderen vom Kantischen verschiedenen Weg schlug Herbart ein, der die ethischen Urteile den ästhetischen annäherte. Seine Auffassung übte insofern Einfluß aus, als sie der eine Zeitlang tonangebenden Herbartschen Pädagogik zugrunde lag (s. Kap. III, 1).

Der vorliegende Band enthält keine Gesamtdarstellung des philosophischen Denkens der Epoche. Manche zeitgenössischen Strömungen sind in den Bän- den VIII und X behandelt. Das Denken Bernard Bolzanos, eines Zeitgenossen Schopenhauers, wird ausführlich in Band XI dargestellt, und vor allem bleibt im vorliegenden Band die mächtige idealistische Strömung nach Kant unbe- rücksichtigt, da ihr Band IX, 2 gewidmet ist.

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I. Immanuel Kant

1. Leben und Werke

a) Die wichtigsten biographischen Daten

Immanuel Kant Leben und Werke

Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 – Locke war seit zwanzig, Leibniz seit acht Jahren tot und Chr. Wolff schloß eben die Reihe seiner deutschen Schriften ab – in Königsberg geboren.1Während seines fast achtzigjährigen Lebens, das äußerlich undramatisch verlief, entfaltete er eine Wirkung, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Seine kritischen Werke, vor allem die „Kritik der reinen Vernunft“ (in der Folge: KrV)2führten eine philosophi- sche Wende herbei, die allerdings – wie alle großen Leistungen im Bereich der Philosophie – durch die vorangegangene Entwicklung des Denkens vorberei- tet war.3Kant hat mit voller Klarheit die Philosophie als Analyse – sei es der Erfahrung von Gegenständen, sei es des sittlichen Sollens oder des Schönen und Erhabenen – aufgefaßt und der herkömmlichen Metaphysik den Charak- ter einer Wissenschaft abgesprochen. Er war überzeugt, mit dieser „Umände- rung der Denkart“ einen Schritt getan zu haben, der mit dem Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild verglichen werden kann.

1740 begann Kant seine Studien an der Universität Königsberg und hörte neben Philosophie und Theologie (letztere bei seinem Förderer Franz Albert Schultz) auch Mathematik und Physik. Die wichtigsten Anregungen verdank- te er dem jungen, auch in der Mathematik und den Naturwissenschaften be- wanderten Extraordinarius für Logik und Metaphysik Martin Knutzen (s.

Bd. VIII, Kap. VII, 2), der ein relativ selbständiger Vertreter der damaligen von Wolff geprägten Schulphilosophie war. Von 1747 bis 1754 verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer und hatte dabei die Möglichkeit, seine Studien fortzusetzen. 1755 erwarb er den Grad eines Magisters, und noch im selben Jahr erhielt er die Lehrbefugnis.

1770, nach fünfzehnjähriger Lehrtätigkeit als Dozent, wurde Kant auf den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg berufen.

In den folgenden Jahren publizierte er nur ein paar kleine Schriften und kon- zentrierte sich auf die Ausarbeitung seines wichtigsten Werkes, der „Kritik der reinen Vernunft“, die 1781 (in zweiter Auflage 1787) erschien und der 1788 die

„Kritik der praktischen Vernunft“ und 1790 die „Kritik der Urteilskraft“ zur Seite gestellt wurden. Mitte der achtziger Jahre wandte sich Kant der auf den beiden ersten Kritiken aufbauenden Metaphysik zu. Außerdem erörterte er Themen der Geschichtsphilosophie und bemühte sich, seine Denkweise von

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abweichenden Auffassungen, wie sie z. B. von Herder oder Mendelssohn ver- treten wurden, abzugrenzen.

Als Kant in den neunziger Jahren zu Fragen der Religionsphilosophie Stel- lung nahm, geriet er in einen Konflikt mit der Zensurbehörde und wurde von der Regierung gerügt. Mitte der neunziger Jahre wandte er sich der Rechts- und Staatsphilosophie bzw. der Philosophie der Politik zu. Er war durch seine Werke und seine Lehrtätigkeit berühmt geworden, fand aber nicht nur Aner- kennung, sondern sah sich auch mit Kritik konfrontiert, sei es in Form direk- ter Ablehnung, sei es in Form von Versuchen, seine Auffassung zu modifizie- ren und weiterzuentwickeln. Angesichts solcher Reaktionen auf die von ihm inaugurierte Denkweise suchte er diese gründlicher zu erklären und gegen Mißverständnisse zu verteidigen. So erblickte er in den Auffassungen des von ihm zunächst geförderten Fichte eine Verfälschung seiner Intention,4von der er sich entschieden distanzierte.

Kant war mehrmals Dekan und wurde 1786 zum Rektor gewählt. Seit 1797 las er nicht mehr, arbeitete aber unermüdlich weiter. Der handschriftliche Nachlaß aus seinen letzten Lebensjahren, das sogenannte Opus postumum, läßt erkennen, daß seine geistigen Kräfte allmählich abnahmen, obwohl er unentwegt um die Weiterentwicklung seiner Philosophie bemüht war. Am 12. Februar 1804 starb Kant. Die außerordentliche Anteilnahme der Bevölke- rung zeigte, wie groß sein Ansehen war.5

b) Kants sog. vorkritische Schriften

Noch vor Abschluß seines Studiums verfaßte Kant seine erste Schrift, nämlich die „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (1747; nach dem Frontispiz 1746).6Erst ungefähr zehn Jahre später legte er seine Magister- arbeit, die kurze Schrift „De igne“ (1755), vor und erwarb bald danach auf Grund der Abhandlung „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“ (1755), die sein erstes rein philosophisches Werk war, die Ve- nia legendi. Für die Dozentur hatte er sich außerdem durch die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (Frühjahr 1755) qualifiziert. In dieser Schrift entwickelte er die später nach ihm und Laplace7benannte Theo- rie der Entstehung des Sonnensystems aus einem homogenen Urnebel.8Auch später erörterte er immer wieder naturwissenschaftliche Probleme, z. B. in dem Aufsatz „Von den Ursachen der Erderschütterungen“ (1756; zwei weitere in selben Jahr entstandene Arbeiten behandeln dasselbe Thema). Den Anstoß zu diesen Untersuchungen gab das Erdbeben von Lissabon am 1. Nov. 1755.

Während Voltaire unter dem Eindruck dieses Ereignisses den metaphysischen Optimismus in Frage stellte (s. Bd. VIII, Kap. VI, 2 d), meinte Kant, dem es vor allem um eine kausale Erklärung ging, ihm eine – allerdings für uns nicht vollständig durchschaubare – Funktion im Gesamtplan der Natur zuschreiben zu können. 1758 folgte der Aufsatz „Neuer Lehrbegriff der Bewegung und

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Ruhe“, und 1759 erschien der „Versuch einiger Betrachtungen über den Opti- mismus“.

1762 veröffentlichte Kant die kurze logische Untersuchung „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“, in der er die Ansicht vertrat, daß nur in der ersten SchlußfigurreineVernunftschlüsse möglich seien. Im sel- ben Jahr, jedoch mit der Jahreszahl 1763, erschien die erste rein philosophische Schrift Kants, die keine akademische Zweckschrift war, nämlich „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“.9Sie ent- hält den Versuch eines Gottesbeweises, der sich von den herkömmlichen onto- logischen, kosmologischen und teleologischen Argumenten unterscheidet, aber noch auf dem rationalistischen Glauben an die rein vernünftige Erkenn- barkeit Gottes beruht. Trotzdem setzt mit dieser Abhandlung schon die Di- stanzierung gegenüber dem Rationalismus der Leibniz-Wolffschen Schule ein (s. unten Abschn. 2), vor allem mit der Zurückweisung der Auffassung der Existenz als Komplement der Wesenheit.

Im „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzu- führen“ (1763) wies Kant auf den wesentlichen Unterschied zwischen Real- grund (Ursache) und logischem Grund hin und trat damit den Vertretern der rationalistischen Metaphysik entgegen, die, wie Spinoza, „ratio“ und „causa“

für Synonyma hielten. Während Sätze der Logik auf Grund der Beziehungen zwischen den in ihnen vorkommenden Begriffen wahr sind, können Kausal- sätze nicht analytisch sein. 1764 veröffentlichte Kant die populären „Beobach- tungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die auf großes Interesse stießen.

Einen weiteren Schritt auf dem Wege der Distanzierung gegenüber der her- kömmlichen Metaphysik tat Kant in der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral“ (1764), in der er, im Gegensatz zur rationalistischen Auffassung, die Methode der Metaphysik mit der Methode der wissenschaftlichen Erklärung, wie er sie bei Newton fand, in Verbindung brachte (II, 286). Die angemessene Methode der Philosophie ist die Analyse, nicht die Synthese, die in der Mathematik am Platze ist.

Berichte über angebliche übernatürliche Fähigkeiten des Theosophen Ema- nuel Swedenborg10regten ihn 1766 zu der Schrift „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ an, in der er, über den konkreten An- laß hinausgehend, die allgemeine Frage erörterte, ob die Erkenntnis einer Geisterwelt prinzipiell möglich sei. Im Gegensatz zur rationalistischen Auf- fassung vertrat er die Ansicht, daß sich ohne empirische Data (Empfindungen) nichts positiv denken lasse (II, 351). Die Metaphysik galt ihm nun nicht mehr als Lehre von einer transzendenten Wirklichkeit, sondern als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ (II, 368). Die Frage nach den der menschlichen Erkenntnis gezogenen Grenzen konnte Kant damals aller- dings noch nicht in der für sein Denken nach 1770 charakteristischen Weise beantworten. Als letzte Veröffentlichung im genannten Zeitraum erschien

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1768 die kleine Abhandlung „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“.

c) Die kritischen Hauptwerke

Nach fünfzehnjähriger Lehrtätigkeit als nichtbeamteter Magister – seit 1766 durch die Anstellung als Unterbibliothekar an der Kgl. Schloßbibliothek fi- nanziell einigermaßen abgesichert – wurde Kant 1770 ordentlicher Professor.

Wie damals üblich, legte er aus Anlaß seiner Inauguration eine Dissertation vor. Die Abhandlung „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et princi- piis“11ist der erste Entwurf einer kritischen Theorie der Erfahrung.

In den Jahren von 1770 bis zum Erscheinen derKrV– dem „stillen Jahr- zehnt“12– konzentrierte sich Kant auf die Ausarbeitung der in der Inaugural- dissertation skizzierten Auffassung. In der kritischen Philosophie geht es nicht darum, Gegenstände zu erkennen; ihre Aufgabe ist es, zu Bedingungen zu- rückzugehen, unter denen Gegenstandserkenntnis möglich ist, nämlich zu Be- griffen und Grundsätzen a priori. Kant nannte die Betrachtungsweise, die die- se Bedingungen zum Inhalt hat, „transzendental“.

DieKrVist das Ergebnis eines langen gedanklichen Ringens mit dem Pro- blem der Erfahrung bzw. der Erkenntnis von Gegenständen. Zwar versicher- te Kant in einem Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783, er habe die Er- gebnisse zwölfjährigen Nachdenkens innerhalb von vier bis fünf Monaten zu Papier gebracht;13das Werk kann aber im jetzigen Umfang nicht in so kurzer Zeit verfaßt worden sein. Da Kant in der Vorrede erklärte, Beispiele und Er- läuterungen seien „im ersten Entwurfe an ihren Stellen“ eingeflossen (A XVIII; IV, 12), liegt die Annahme nahe, daß in der angegebenen Zeit die- ser Entwurf entstanden ist.14

Als dieKrV1781 erschien, war Kant kein Unbekannter mehr. Trotzdem würde er, wenn er vor der Fertigstellung der ersten Kritik gestorben wäre, wohl nur als einer von einer Reihe relativ selbständiger Vertreter der dama- ligen Schulphilosophie betrachtet werden. Nach 1781 wurde er bald zum meistbeachteten deutschen, ja europäischen Philosophen, was nicht heißt, daß seine Philosophie nur Zustimmung gefunden hätte.

DieKrVwar auf Grund ihrer Form nicht dazu angetan, weitere Kreise an- zusprechen.15Kant dürfte sich dieses Umstands bewußt gewesen sein, denn schon 1783 präsentierte er in den „Prolegomena zu einer jeden künftigen Me- taphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“16die Themen der Ver- nunftkritik in neuer Weise. Dieses Werk ist, als „Plan nach vollendetem Wer- ke“, für künftige Lehrer, nicht Lehrlinge der Philosophie geschrieben; ihm liegt nicht, wie derKrV, die synthetische, sondern die analytische Methode zu- grunde (IV, 263). Änderungen sowohl der Darstellungsweise wie einzelner Auffassungen nahm Kant auch in der zweiten Auflage der KrVvor (1787).

Welche Fassung den Vorzug verdient, war lange umstritten,17doch hat sich Immanuel Kant

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weitgehend die Ansicht durchgesetzt, daß die zweite Auflage gegenüber der ersten einen gedanklichen Fortschritt darstellt.

1788 erschien die „Kritik der praktischen Vernunft“. So wie Kant in der KrVzu Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zurückgegangen war, so formulierte er in derKpV Bedingungen, unter denen unbedingtes sittliches Sollen als möglich begriffen werden kann. Die in derKpVentworfene Theorie der sittlichen Pflicht ist das Seitenstück zu der in derKrVformulierten Theo- rie der Erfahrung.

Nach Kant sollten die kritischen Werke die Voraussetzungen einer neuen Metaphysik schaffen, die nicht mehr die Erkenntnis erfahrungsjenseitiger Sei- ender – Gottes, der Seele und der Welt – zum Ziel hat und auch nicht Ontolo- gie im traditionellen Sinne ist; sie hat vielmehr die Aufgabe, die in derKrVund derKpVkonzipierten begrifflichen Rahmen auf bestimmte Geltungsbereiche zu beziehen, nämlich – als Metaphysik der Natur – auf physikalische Gegen- stände und – als Metaphysik der Sitten – auf Rechts- und Tugendpflichten.

Dem zweiten dieser Bereiche wandte sich Kant erstmals mit der „Grundle- gung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) zu, die vor derKpV(1788) erschien, jedoch wichtige Gedanken dieses Werkes vorwegnimmt. Erst 1797 folgte die

„Metaphysik der Sitten“, mit der Rechtslehre als erstem und der Tugendlehre als zweitem Teil. Die Grundgedanken der Metaphysik der Natur entwickelte Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“

(1786). Der in diesem Werk eingeschlagenen Richtung folgte er noch in seiner Spätzeit, als er sich um den „Übergang von den metaphysischen Anfangsgrün- den der Naturwissenschaft zur Physik“ bemühte.

1790 erschien die „Kritik der Urteilskraft“, mit der die Brücke von der rei- nen zur praktischen Vernunft bzw. vom Reich der Natur zum Reich der Frei- heit geschlagen werden sollte. Weil die Urteilskraft, anders als der Verstand und die Vernunft, kein konstitutives, sondern ein regulatives Vermögen ist, entspricht der dritten Kritik kein Teil des metaphysischen Systems. Das kriti- sche Werk sah Kant 1790 als vollendet an: „Hiermit endige ich … mein ganzes kritisches Geschäft“, heißt es in der Vorrede zurKU(V, 170).

In die Zeit zwischen der ersten und der dritten Kritik fallen auch Arbeiten zu Themen der Geschichtsphilosophie, namentlich die Aufsätze „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) und „Muthmaß- licher Anfang der Menschengeschichte“ (1786). 1784 erschien ein kleiner Auf- satz mit dem Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, dessen Be- deutung in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Umfang steht und in dem sich die bekannte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ findet (VIII, 35). Zusammen mit der Re- zension von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“

(1785) lassen diese Arbeiten die Umrisse von Kants Geschichtsphilosophie er- kennen. Andere Veröffentlichungen dienten der Verteidigung gegen Einwän- de, z. B. die Streitschrift gegen Eberhard von 1790 „Über eine Entdeckung,

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nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich ge- macht werden soll“.18

d) Kants Schriften nach 1790

Nach dem Abschluß derKUbrachte Kant die mit den drei Kritiken erreichte Denkweise auch in der Religionsphilosophie, in der Rechtsphilosophie und in der Philosophie der Politik zur Geltung. Kants Deutung der Religion als Be- trachtungsweise, der zufolge das Sittengesetz so zu betrachten ist, als ob es uns von Gott gegeben sei, führte zu einem Konflikt mit der Zensur, die nach Friedrichs d. Gr. Tod strenger gehandhabt wurde als unter diesem weltan- schaulich liberalen Monarchen. Die Aufklärung, deren Geist Kants Religions- philosophie verpflichtet war, galt nun als gefährlich. Als Kant 1793 die Schrift

„Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, die schon durch ihren Titel die Nähe zum Deismus der Aufklärung erkennen läßt, veröffent- lichte, wurde er im Namen des Königs gerügt: Er habe seine Philosophie „zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der hei- ligen Schrift und des Christentums mißbraucht“. Im Wiederholungsfalle habe er „unangenehme Verfügungen“ zu gewärtigen. In seiner Antwort verwahrte sich Kant gegen den Vorwurf, das Christentum herabgewürdigt zu haben, und erklärte, daß er sich „fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betref- fend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde“. Diese Erklärung gab er mit Vorbedacht

„als Ew. Königl. Maj. getreuester Untertan“ ab, um nur für die Lebenszeit des Königs Friedrich Wilhelm II. an sie gebunden zu sein.19Daß Kants Forderung, den berechtigten religiösen Glauben auf einen moralisch fundierten Vernunft- glauben zu reduzieren, vielfach als anstößig empfunden wurde, ist verständ- lich. Die Zurückweisung von Einwänden gegen seine Philosophie hielt Kant auch in den neunziger Jahren für wichtig. So setzte er sich in der Abhandlung

„Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) mit Christian Garve (s. Bd. VIII, Kap. VII, 4 d) und Moses Mendelssohn (s. Bd. VIII, Kap. VII, 5 b) auseinander, blickte aber auch auf die von Thomas Hobbes (s. Bd. VII, Kap. VII) begründete Rechts- und Staatsphilosophie zurück. Gegen diese Autoren betonte er die Unent- behrlichkeit theoretischer Grundsätze; Empirie und Praxis sind auf Prinzipien a priori angewiesen. In dem Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vor- nehmen Ton in der Philosophie“ (1796) wandte er sich gegen eine poetisch- religiöse Art des Philosophierens, wie sie der (von Kant nicht namentlich genannte) Johann Georg Schlosser empfahl. Kant bestritt, daß ein gefühlsmä- ßiger Glaube, eine Ahnung oder intellektuelle Anschauung einen Zugang zur erfahrungsjenseitigen Wirklichkeit eröffnen könnten. Tatsächlich hatte sich schon 1787 Jacobi zugunsten einer auf Gefühl und Glaube gestützten Philoso- phie ausgesprochen (s. Kap. II, 2a sowie Bd. IX, 2). Wenn Fries 1805 dem ver-

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nünftigen Glauben die „Ahndung“ überordnete (s. Kap. III, 2),20setzte er sich über Kants Warnung hinweg.

Philosophische Grundfragen der Politik erörterte Kant in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795), in der er sich zum Republikanismus bekannte und den Abschluß eines Völkerbundes als Mittel der Friedenssicherung vorschlug.

Das Verhältnis zwischen den einzelnen Staaten und einer solchen internationa- len Föderation sollte dem Verhältnis zwischen den Individuen und dem Staat analog sein. Ein Jahr nach der „Metaphysik der Sitten“ (1797) veröffentlichte er die Schrift „Der Streit der Facultäten“, in der das Verhältnis der Philosophie zur Theologie, zur Jurisprudenz und zur Medizin erörtert wird. Ebenfalls 1798 erschien die von Kant wiederholt gehaltene Vorlesung „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, die weniger philosophischen als empirischen Cha- rakter hat. Seine Vorlesungen über Logik,21Pädagogik und Geographie wur- den ab 1800 von Schülern veröffentlicht.

2. Kants Philosophie vor 1770

Kants Philosophie vor 1770

Während das Jahr 1770 deutlich als Zäsur zu erkennen ist, erweisen sich An- nahmen über Einschnitte in der Zeit vor 1770 als problematisch. Es liegt näher, die Jahre vor der Inaugural-Dissertation als einheitliche, durch sukzessive Dis- tanzierung gegenüber der herkömmlichen rationalistischen Metaphysik – dem

„Dogmatismus“ – geprägte Periode aufzufassen. Im folgenden werden die wichtigsten Schritte auf Kants Weg vom Dogmatismus zur kritischen Philoso- phie beschrieben, wobei auf die naturwissenschaftlichen Arbeiten nicht einge- gangen wird.22

In der „Nova dilucidatio“ von 1755 nahm Kant noch im wesentlichen den Standpunkt der rationalistischen Metaphysik ein. Dies zeigt sich darin, daß er die obersten Prinzipien – den Satz der Identität, den Satz vom ausgeschlosse- nen Widerspruch und den Satz vom Grunde –, der metaphysischen Tradition folgend, sowohl als Seinsprinzipien wie auch als logische Prinzipien auffaßte.

Während die Vertreter der rationalistischen Metaphysik versuchten, das Ver- hältnis von Ursache und Wirkung auf die Grund-Folge-Beziehung zurückzu- führen (so z. B. Spinoza; s. Band VII, Kap. IX, 3 a), unterschied Kant bereits Mitte der fünfziger Jahre zwischen Grund des Seins und Grund der Erkennt- nis. Ebenso wich er von der rationalistischen Auffassung ab, wenn er bestritt, daß der Satz vom Grunde des Daseins direkt beweisbar sei, wie Wolff gemeint hatte. Er hielt ihn aber auch nicht mit Crusius für schlechthin unbeweisbar, sondern glaubte an die Möglichkeit eines indirekten Beweises.

Der Satz vom hinreichenden (bzw. bestimmenden) Grund war, vor allem wegen seiner praktischen Konsequenzen, einer der Brennpunkte der damali- gen philosophischen Diskussion. Vertreter der von Thomasius ausgehenden Richtung, wie Crusius,23warfen den Wolffianern vor, mit ihrem Determinis-

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mus die sittliche Verantwortlichkeit aufzuheben. Kant betonte demgegenüber mit Crusius die Spontaneität bzw. Freiheit des Willens; er wollte aber unter

„Freiheit“ nicht die Unabhängigkeit des Willens von allen, sondern nur von äußeren Motiven verstanden wissen.

Kant folgerte aus dem Satz vom Grunde, daß der Betrag der Kraft (die Grö- ße der „Realität“; I, 407) in der Welt konstant sei, daß alle Dinge durch Mas- senanziehung (I, 415) verbunden und daß kausale Beziehungen real seien, wo- mit er sich gegen die Theorie der prästabilierten Harmonie und den Okkasio- nalismus wandte. Da sich nach Kant die Veränderung von Dingen nur unter der Voraussetzung begreifen läßt, daß ein sich änderndes Ding mit anderen Dingen in Beziehung steht, muß angenommen werden, daß alle Dinge mitein- ander durch Wechselwirkung verbunden sind. Den (Berkeleyschen) Idealis- mus lehnte Kant ab, weil er überzeugt war, daß Bewußtseinsvorgänge nicht als möglich begriffen werden könnten, wenn die Seele nicht mit einem realen Körper verbunden wäre. Letzten Endes sind, wie er meinte, alle Dinge auf einen absoluten Grund, d. i. auf Gott, zu beziehen, dessen Existenz Kant ohne Zuhilfenahme empirischer Prämissen beweisen zu können meinte; Kant hielt zu dieser Zeit, wie die Vertreter der rationalistischen Metaphysik, jenen Got- tesbeweis, den er später den ontologischen nannte, noch für schlüssig. Dinge könnten, wie er argumentierte, nicht als möglich begriffen werden, wenn nicht Gottes Existenz anerkannt würde (I, 395).

Diesen Gedanken entfaltete Kant in der Schrift „Der einzig mögliche Be- weisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“.24Er entwickelte eine neue Auffassung der Existenzprädikation, mit der er Gedanken Bernard Bol- zanos, Gottlob Freges und Bertrand Russells (s. Bd. XI) vorwegnahm: Wer ur- teilt, „A existiert“, schreibt A nicht die Eigenschaft der Existenz zu, sondern behauptet, daß es etwas gibt, das unter den Begriff von A fällt. Die Behaup- tung, daß ein Ding unter einen Begriff falle, nannte Kant „absolute Position des Dings“ (II, 73), während die Zuschreibung einer Eigenschaft bei ihm „rela- tive (oder respektive) Setzung“ heißt. Entscheidend ist, daß in der absoluten Position keine Eigenschaft ausgesagt wird – „Dasein kann … kein Prädikat sein“ (II, 74) –, so wie durch die „Setzung“ der Welt im göttlichen Schöpfungs- akt der Idee des Weltganzen keine neue Eigenschaft hinzugefügt wird (II, 74).25Die rationalistische Auffassung von „Existenz“ als „Vollkommen- heit“ (Descartes u. a.) oder als „Ergänzung der Wesenheit“ (Wolff), d. h. als et- was, durch das die Menge der Eigenschaften eines Wesens vermehrt wird, ist damit hinfällig geworden; der Versuch, die Existenz Gottes allein aus dem Gottesbegriff abzuleiten, ist zum Scheitern verurteilt.

Wenn Kant betonte, daß „Existenz“ (oder „Dasein“) nicht als Gegenstand eines Begriffs aufzufassen sei, stimmte er mit Hume überein (s. Bd. VIII, Kap. IX, 3).26Anders als dieser nahm er 1762 jedoch noch an, daß wider- spruchsfreien Begriffen ideale Entitäten („Möglichkeiten“) entsprechen. Mög- lichkeiten haben einen Inhalt, der entweder einfach ist oder sich auf einfache

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„Data“ zurückführen läßt. (Zum Beispiel ist das rechtwinklige Dreieck mög- lich, weil „Dreieckigkeit“ und „Rechtwinkligkeit“ als Data vereinbar sind.) Nach Kant setzen die Möglichkeiten letzten Endes etwas Wirkliches voraus, in dem sie fundiert sind, weshalb er sagen konnte: „daß irgend eine Möglichkeit sei und doch gar nichts Wirkliches, das widerspricht sich“ (II, 78). Im weiteren Verlauf suchte Kant zu beweisen, daß der Realgrund aller Möglichkeiten, in dem „die Data zu aller Möglichkeit … anzutreffen“ sind (II, 85), einzig, ein- fach, unveränderlich, ewig und notwendig – somit Gott – sei. Mindestens in bezug auf Gott gibt es also nach Kants damaliger Überzeugung Erkenntnis aus reiner Vernunft.

Nicht nur mit dieser Auffassung, sondern auch mit der Annahme einer ob- jektiven Zweckmäßigkeit der Natur knüpfte Kant an die rationalistische Me- taphysik an; er ging aber insofern über sie hinaus, als er nicht mehr bestimmte Tatsachen, wie die Ordnung des Sonnensystems, sondern nur die physikali- schen Gesetze, mit deren Hilfe sich Tatsachen der Natur erklären lassen, auf Gottes zweckmäßiges Wirken zurückführte.

Als die Akademie der Wissenschaften in Berlin die Preisfrage stellte, „ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt und besonders die ersten Grundsätze der theologiae naturalis und der Moral ebenso der deutlichen Beweise fähig sind als die geometrischen Wahrheiten …“, nahm dies Kant zum Anlaß, auf das Verhältnis von Philosophie und Mathematik zu reflektieren. Den Preis er- hielt nicht er, sondern Moses Mendelssohn (s. Bd. VIII, Kap. VII, 5 b). In sei- ner Preisschrift, der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ (1764), wies er der Philosophie die Auf- gabe zu, qualitative Begriffe, wie den Begriff der Freiheit, zu klären (II, 282), während es die Mathematik mit quantitativen Begriffen zu tun habe. Anders als Mendelssohn bestritt er, daß den metaphysischen Wahrheiten dieselbe Art von Gewißheit zukommen könne wie den Sätzen der Mathematik, da sie von diesen wesentlich verschieden seien. Begriffe der Mathematik werden durch Definition erzeugt; in der Philosophie hingegen geht es darum, Begriffe zu ex- plizieren (so auch noch B 754 sqq.; III, 477 sqq.).27Damit wird die rationalisti- sche Annahme, daß die Metaphysik auf ebenso sichere Grundlagen gestellt werden könne wie die Mathematik, zurückgewiesen. An ihre Stelle tritt die Ansicht, daß sich das metaphysische Denken an der physikalischen Methode orientieren solle (II, 286). Kant forderte, Newtons „Regulae philosophandi“

(s. Bd. VIII, Kap. I, 2) auf die Philosophie zu übertragen. Im Sinne dieser Me- thodenauffassung schrieb er: „Suchet durch sichere innere Erfahrung, d. i. ein unmittelbares augenscheinliches Bewußtsein, diejenigen Merkmale auf, die ge- wiß im Begriffe von irgendeiner allgemeinen Beschaffenheit liegen, und ob ihr gleich das ganze Wesen der Sache nicht kennt, so könnt ihr euch doch dersel- ben sicher bedienen, um vieles in dem Dinge daraus herzuleiten“ (II, 286). In der Philosophie sah er insofern das Komplement der Physik, als sie nicht, wie diese, auf der äußeren, sondern auf der inneren Erfahrung beruht. Kant distan-

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zierte sich von der Metaphysik im allgemeinen – nicht nur vom sogenannten Dogmatismus –, wenn er es als seine Absicht bezeichnet, „sichere Erfahrungs- sätze und daraus gezogene unmittelbare Folgerungen den ganzen Inhalt mei- ner Abhandlung sein [zu] lassen“ (II, 275).

In den „Träumen eines Geistersehers“ von 1766 ist der Abstand gegenüber dem rationalistischen Dogmatismus noch größer. Kant räumte ein, daß man geistige Substanzen und ihre Beziehungen nicht wegen der Unmöglichkeit, sie anschaulich vorzustellen, für unerkennbar erklären dürfe; ihre Erkennbarkeit dürfe aber auch nicht ohne Begründung behauptet werden (II, 323). Manches in der materiellen und der moralischen Welt mag auf eine geistige Welt hindeu- ten; solange jedoch die Idee einer geistigen Wirklichkeit nicht mit Beobach- tungen in Zusammenhang gebracht werden kann, handelt es sich lediglich um eine spekulative Hypothese (II, 333). Kant ließ keinen Zweifel daran, daß er derartigen Vermutungen keine philosophische Bedeutung beimaß, weil sich unabhängig von Erfahrungsdaten positive Begriffe von Immateriellem nicht bilden lassen (II, 351). Begriffe, denen keine Anschauung korrespondiert, sind leer; Theorien, die nicht mit Beobachtungsaussagen zusammenhängen, haben keinen Erklärungswert.

Gegen Swedenborg, der die Möglichkeit eines unmittelbaren Kontaktes zwischen geistigen Wesen (z. B. in Form der Telepathie) behauptet hatte, be- tonte Kant, daß sich diese Behauptung zwar nicht widerlegen, aber auch nicht beweisen lasse, da sie nicht mit Beobachtungen in Zusammenhang gebracht werden könne und da Aussagen über Kausalzusammenhänge immer Erfah- rung voraussetzten (II, 370). Wenn, wie bei der behaupteten Kausalität geisti- ger Substanzen, die empirische Überprüfung prinzipiell unmöglich ist, handelt es sich um „Erdichtungen“, die nicht einmal den Wert von Hypothesen (als Annahmen über die Verbindung von Erscheinungen auf Grund bekannter Kräfte) haben. Was von einem Geisterseher wie Swedenborg gilt, läßt sich auch von den Metaphysikern sagen: Philosophen wie Wolff oder Crusius sind

„Luftbaumeister“ (II, 342); die Märchen „aus dem Schlaraffenlande der Meta- physik“ (II, 356) sind wertlos. Wenn allerdings Metaphysik als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ (II, 368) aufgefaßt wird, ist sie sinnvoll. Die so verstandene Metaphysik prüft, ob philosophische Fragen hin- reichend bestimmt seien und ob sie Erfahrungsbegriffe enthielten; sie macht auf diese Weise die Aufhebung bloßen Scheinwissens möglich.

Zur Distanzierung gegenüber der rationalistischen Philosophie trug Kants Kritik an Leibnizens Auffassung des Raumes bei. Leibniz hatte im Raum ein in Beziehungen zwischen Seienden fundiertes Phänomen erblickt. Kant suchte dagegen in der Abhandlung „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“ (1768) zu zeigen, daß der Raum, wie Newton angenom- men hatte, real und absolut sei. Dabei argumentierte er indirekt: Wären die Verhältnisse der Teile eines Dings hinreichend, um seinen räumlichen Charak- ter eindeutig zu bestimmen, dann müßten ähnliche und gleiche Gestalten im-

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mer kongruent sein. Dies ist aber bei dreidimensionalen Gebilden nicht der Fall. Zum Beispiel sind ein rechter und ein linker Handschuh ähnlich und gleich, aber nicht kongruent. (Die linke Hand paßt nicht in den rechten Hand- schuh.) Andere Beispiele inkongruenter Gegenstücke (enantiomorpher Gebil- de) sind Schrauben, die sich nur durch den Drehungssinn ihrer Gewinde un- terscheiden, oder sphärische Dreiecke, die in bezug auf einen größten Kreis symmetrisch sind. Sie lassen sich, im Gegensatz zu Dreiecken in der Ebene, nicht durch Umklappen um die Symmetrie-Achse zur Deckung bringen, wie das bei zweidimensionalen Gebilden wegen des Vorhandenseins einer dritten Dimension möglich ist. Aus dem Umstand, daß das bei dreidimensionalen Ge- bilden nicht gelingt, folgerte Kant, daß es eine vierte Dimension nicht geben könne.28

Dieses Ergebnis wird nicht durch eine Erörterung von Beziehungen zwi- schen Begriffen gewonnen, denn dem Begriff des Raumes läßt sich nicht ent- nehmen, wie viele räumliche Dimensionen es gibt. Kant selbst hatte in den

„Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ erwogen, ob nicht ein anderer als der dreidimensionale Raum möglich sei.29Zu der Auffas- sung des Raums als Form der Anschauung a priori, innerhalb deren alle geo- metrischen Verhältnisse konstruiert würden, war Kant 1768 noch nicht vorge- drungen, doch tat er bald danach den Schritt zu dieser Ansicht,30die ab 1770 zu den zentralen Gedanken seiner Philosophie gehört; mit ihr trat er einerseits der rationalistischen Deutung der mathematischen Grundsätze als Urteile über Wesenheiten („wahrhafte Naturen“, „ewige Wahrheiten“) entgegen, an- dererseits widersprach er Humes radikalem Empirismus. Da es nach Hume anschauungsunabhängige Begriffe nicht geben kann, müssen von seinem Standpunkt aus die Grundbegriffe der Geometrie für anschaulich gehalten werden, so daß z. B. „Punkt“ eine sehr kleine Fläche bedeutet. Da anschau- ungsabhängige Urteile niemals absolut sicher sein können, haben nach dieser Ansicht auch die Prinzipien der Geometrie als hypothetische Sätze zu gelten.

Mit dieser Auffassung, die kaum auf die Zustimmung von Mathematikern rechnen konnte, hat Kant gebrochen.

Tatsächlich war Kant niemals Humeaner. Wenn er erklärte, von Hume aus dem dogmatischen Schlummer geweckt worden zu sein (IV, 260), wollte er ihn als Kritiker der rationalistischen Metaphysik würdigen; dem psychologisti- schen Skeptizismus Humes stand er dagegen stets ablehnend gegenüber. Er sah, daß man Humes Kritik an der rationalistischen Metaphysik akzeptieren könne, ohne mit ihm skeptizistische Konsequenzen zu ziehen. Während Hume bestritten hatte, daß es perfekte (nicht-hypothetische, unkorrigierbare) Wirklichkeitserkenntnis geben könne, wollte Kant eine solche Erkenntnis als möglich erweisen, freilich nicht als Erkenntnis von Dingen an sich, auch nicht als Erkenntnis konkreter Tatsachen, sondern als Erkenntnis allgemeiner Strukturen der phänomenalen Wirklichkeit.31Eine solche Erkenntnis ist mög- lich, weil die Wirklichkeit, in bezug auf die Erkenntnis beansprucht wird,

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