NATURWISSENSCHAFT UND WELTANSCHAULICHER KONFLIKT
von Paul U. Unschuld, Marburg
Eine vergleichende Analyse der Geschichte pharmakotherapeutischer Konzepte
in Chma und in Europa ergab überraschende Gemeinsamkeiten und einen ganz
entscheidenden Unterschied. Zwischen den Konfuzianern und manchen Vertretern
des Taoismus bestand während des ersten Jahrtausends ein ähnlicher Konflikt wie
zwischen manchen christlichen Dogmatikern und den säkularen Naturkundlern des
ausgehenden Römischen Reichs und des Mittelalters. Die Konfuzianer setzten sich,
wie die Christen, für die strikte Einordnung jedes einzelnen GeseUschaftsmitgliedes
in eine straffe und normgebundene Organisationsform ein und machten, nicht ganz
so direkt wie die Christen, auch die Aufrechterhaltung der individueUen Gesundheit
von der Einhaltung bestimmter Verhaltensvorschriften abhängig; die Normen des
Huang-ti nei-ching, die dem einzelnen Menschen Gesundheit verheißen, entsprechen
in subtiler Weise den Normen der Konfuzianer, die der Gesellschaft Harmonie ver¬
heißen. In Opposition dazu bemühten sich bestimmte taoistische Kreise um die Be¬
freiung des einzelnen Menschen aus derartigen gesellschaftlichen Zwängen. Das
Arzneimittel, das jedem einzelnen, unabhängig von dessen Normanpassung, Gesund¬
heit und möglicherweise Langlebigkeit ohne Altern verheißt, mußte ihnen daher ein
reizvolleres Forschungsobjekt sein als ihren weltanschaulichen Gegenspielern. Ein
Versuch, die medizinischen und zunächst arzneimittelfernen Theorien des Huang-ti
nei-ching auf die Anwendung der Arzneimittel auszuweiten, erfolgte darum erst zu
einem Zeitpunkt, als, während der ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends,
im Zuge der neokonfuzianischen Neuorientierung eine synkretistische Lehre
geschaffen wurde, die Konfuzianismus und Taoismus einander näherbrachte.
Unterschiedliche historische Entwicklung zu Beginn des zweiten Jahrtausends beendeten selbstverständlich sehr bedingt zu sehende Parallelität der chinesischen
und abendländischen Situation. In China führte der Neokonfuzianismus im Bereich
der Heilkunde zur Konzipierung der sogenannten Chin-Yüan Medizin, zu deren her¬
vorstechendsten Merkmalen die Schaffung einer Pharmakologie der systematischen Korrespondenz zählt, das ist also die erstmalige Einbeziehung möglichst jeder ein¬
zelnen bekannten Droge der pen-ts'ao Literatur in die Theorie der systematischen Korrespondenz des Huang-ti nei-ching. Es dauerte etwa zwei Jahrhunderte, bis diese
Bemühungen im 14. Jahrhundert, nicht zuletzt wegen der dann einsetzenden Gegen¬
reaktion auf den Sung-Neokonfuzianismus, die solchen Tendenzen den allgemeinen
philosophisch-weltanschaulichen Boden entzog, zum Stillstand kamen. Seit dem
14. Jahrhundert wurden in China keine Versuche mehr unternommen, eine Pharma¬
kologie, das ist eine theoretische Lehre von der Wirkung der Arzneimittel im Orga¬
nismus, zu entwickeln. Die Chin-Yüan Medizin, die mittelbar aus einer Schwächung
des orthodoxen Konfuzianismus herrührte, bewirkte also nicht die Überwindung
xx. Deutscher Orientalistentag 1977 In Erlangen
Naturwissenschaft und weltanschaulicher Konflikt 443
oder gar Aufhebung der bis zur Sung Zeit existenten wehanschauhchen Gegensätze,
sondern ging den Weg einer Unterordnung des drogenkundhchen Wissens unter die
(unzureichenden) Theorien der Vorzeit.
Im Abendland dagegen kam es zu einer ganz anderen Lösung des Weltanschau¬
lichen Widerspruchs. Als die Römische Kirche als politische Organisationsform des
Christentums vom Hohen Mittelalter an allmählich immer weitere Einflußsphären
an die säkularen Mächte abgeben mußte, entwickelte sich in der Heilkunde ein
historischer Kompromiß der konzeptuellen Vielschichtigkeit, der bis heute seine
Gültigkeit behalten hat. Das heißt, die Kirche erkennt den neuen naturwissenschaft¬
lichen Erklärungen zum Beispiel der physiologischen Vorgänge im Organismus eine
gmndsätzliche Realität zu und sieht in allem das Wirken Gottes (oder freilich auch
der Dämonen). Diese konzeptuelle Vielschichtigkeit beseitigte in Europa weitge¬
hend das hemmende Alternativdenken weltanschaulicher Konkurrenz. Sie brachte
die Möglichkeit, daß alle Gelehrten der westlichen Kultur, gleich welcher Weltan¬
schauung sie sich zugehörig fühlten, gemeinsam an der Lösung naturwissenschaft¬
lich-medizinischer Fragekomplexe arbeiten und somit auch ungestört eine natur¬
wissenschaftliche Pharmakologie entwickeln konnten, ohne von irgendwelchen
ideologischen Schranken behindert zu sein. Möglicherweise sehen wir in den hier
knapp umrissenen Vorgängen eine der Ursachen für die erfolgreiche Entwicklung
der modernen westlichen naturwissenschaftlichen Medizin und Pharmakotherapie
und für das Absinken der traditionellen chinesischen Medizin zu konzeptueller
Bedeutungslosigkeit in der Gegenwart.
ZUM BEGRIFF DER VIELZAHL UND DES VOLKES IM HUAI-NAN-TZU KAP .9
von Helmolt Vittinghoff, Erlangen
Eine der umwälzenden Neuerungen, die der von Pan Ku als ,Ahne der Konfuzia¬
ner" bezeichnete Tung Chung-shu in den Han-Konfuzianismus einbrachte, war die
Verantwortlichkeit des Herrschers gegenüber dem Himmel. Die bisher gültige Auf¬
fassung war die der Rechenschaftspflicht vor dem Volke, wie sie Mencius entwickelt
hatte und die das Recht auf Herrschaftsumsturz einschloß. Das Werk, das die
„taoistische" Gegenposition zu Tung Chung-shus eklektischem Konfuzianismus
vertrat, das Huai-nan-tzu (HNT) des Kaiserhausmitgliedes Liu An, scheint die
Mencius-Position mit umgewerteter Akzentsetzung fortgeführt zu haben. Immer
wieder wird in ihm betont, daß alle Aktionen des Herrschers, die dem ,, Wohlerge¬
hen des Volkes und der Massen" zuwiderlaufen, zu unterlassen sind. Insbesondere
werden damit Kriege, Annexionen, aufwendige Bauunternehmungen, Extravagan¬
zen in Lebensführung und Kleidung angesprochen, da sie den Rhythmus der arbei¬
tenden Bevölkerung, z.B. durch ausgedehnten Arbeitsdienst, bedrohlich verändern.
Im folgenden soll untersucht werden, was im HNT unter Volk und Massen zu
verstehen ist und welche Rolle sie in den Vorstellungen des HNT spielen. Die heuti¬
ge chinesische Auffassung von Volk und Massen, die in der sogenannten Massenlinie
mit „die Meinungen der Massen sammeln und konzentrieren, sie wiederum in die
Massen zurücktragen" von Mao Tse-tung zum Ausdruck gebracht wurde, enthält
für „Massen" den Terminus chün<hung, der das aus dem Japanischen entliehene
min-chung etwa seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts ersetzt. Beide Ter¬
mini sind Wortverbindungen, die bereits in cho-zeitlichen Texten verwendet wer¬
den, dort jedoch keineswegs „gesellschaftsgestaltende, konstruktive Kräfte und
revolutionäre Qualitäten" zugebiUigt erhalten.
Der beiden Wortverbindungen gemeinsame BestandteU „chung", der bereits auf
den Orakelknochen der Shang-Yin zu finden ist und dort als „The graph has three
(many) ,men' and either ,sun' or ,eye' above, the latter uncertain" gedeutet wird,
kommt in zwei verschiedenen Verwendungen auch im HNT vor, als Ausdruck für
eine unbestimmte Menge und als Mengenbegriff schlechthin. In einigen Passagen des
stark legalistisch geprägten 9. Kapitels des HNT scheint man ihn soziologisch im
Sinne von „Volksmasse" mit positiver Akzentsetzung wiedergeben zu müssen. So
hei&t es: „Wenn sich der Herrscher der Kenntnisse der Massen bedient, dann
gibt es nichts, dem er nicht gewachsen ist; wenn er die Kräfte der Massen nutzt,
gibt es nichts, das er nicht besiegen kann." Oder an anderer SteUe: ,,Was konzen¬
trierte Kraft in Angriff nimmt, führt stets zum Erfolg; was das Wissen der Mas¬
sen bewirkt, kommt stets zur VoUendung."
Wer gehört denn eigentlich zur Masse in diesen so erstaunlich demokratisch
klingenden Leitsätzen für einen idealen Herrscher? Sollte J. L. Dull recht haben mit
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen