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Erich Fromm und die Entwicklung der Psychoanalyse in Mexiko

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Academic year: 2022

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Psychoanalyse in Mexiko

Was Sigmund Freud für die Psychoanalyse in den USA war, das war Erich Fromm (1900–1980) für die Psychoanalyse in Mexiko. Von 1950 an wurde er zur schulbil- denden Gründungsfigur einer Schule der Psychoanalyse, die mit der von Fromm ausgebildeten ersten Kohorte von Psychoanalytikern 1956 die landeseigene psy- choanalytische Gesellschaft (Sociedad Mexicana de Psicoanálisis, SMPAC) grün- dete. 1963 war Fromm aktives Gründungsmitglied des Instituto Mexicano de Psi- coanálisis (IMPAC).

Erich Fromm war nicht nur schulbildender Psychoanalytiker, sondern auch Sozialpsychologe. Neben seiner Tätigkeit als Begründer der mexikanischen Psy- choanalyse, die eng verbunden war mit der Medizinischen Fakultät der Univer- sidad Nacional Autónoma de México (UNAM), führte er seit 1956 mit einem For- schungsteam ein vom mexikanischen Gesundheitsministerium, dem Institute of Mental Health des U.S. Public Health Service und der Michigan State University unterstütztes empirisches Langzeitprojekt zum Gesellschaftscharakter in einem mexikanischen Dorf durch, das mit Formen der teilnehmenden Beobachtung und der Aktionsforschung arbeitete und von Anthropologen unterstützt und ergänzt wurde.1 Begleitet von Initiativen zur Gesundheitsversorgung, zur Alphabetisie- rung und zum Schulsystem sowie für soziale Einrichtungen wie einem Jugend- club, einer Bibliothek und einem Filmprogramm, hat das Projekt Social Character in a Mexican Village. A Socio-Psychoanalytic Study eine bis heute wahrgenom- mene Wirkung auf die mexikanische Gesellschaft.2

Ursprünglich war Fromm Soziologe. 30 Jahre zuvor hatte er bei dem Heidel- berger Soziologen Alfred Weber studiert, von dem er 1922 mit der ersten Soziolo- gie des Diaspora-Judentums promoviert wurde, einer Kritik Werner Sombarts, die wesentlich mit der Soziologie Max Webers argumentierte. Gleichzeitig studierte Fromm als orthodoxer Jude mit dem chassidischen Gelehrten Salman Baruch Rabinkow den Talmud. Erst 1989 wurde seine Dissertation posthum unter dem

1 Fromm, Erich u. Maccoby, Michael: Social Character in a Mexican Village. A Socio-Psychoana- lytic Study. Englewood Cliffs 1970; deutsch u.d.T.: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes. In: Erich Fromm Gesamt- ausgabe. Bd. 3. Stuttgart 1981.

2 Millán, Salvador u. Gojman, Sonia: The Legacy of Fromm in México. In: International Forum of Psychoanalysis 9, 3–4 (2000). S. 207–215, S. 209.

DOI 10.1515/9783110305791.263, © 2018 Eva-Maria Ziege, published by De Gruyter.

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 License.

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Titel Das jüdische Gesetz. Soziologie des Diaspora-Judentums aus dem Nachlass publiziert.3

Fromm wurde im Jahr 1900 geboren. Sein Urgroßvater war der berühmte

„Würzburger Raw“, Seligman Bär Bamberger. Als Jugendlicher bewegte er sich im Frankfurter Kreis um den als charismatisch beschriebenen Rabbiner Nehemia Anton Nobel, der ihm den Zugang zu Hermann Cohen erschloss. Vorübergehend war Fromm in der jüdischen Jugendbewegung des Frankfurter Blau-Weiß aktiv.

Schon als junger Mann lehrte er an dem berühmten, von Franz Rosenzweig gelei- teten Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus, neben Martin Buber, Siegfried Kra- cauer, Gershom Scholem und anderen.

Das Studium begann Fromm in Frankfurt, dann wechselte er nach Heidel- berg zu Alfred Weber. Im Lauf der 1920er Jahre, nicht zuletzt durch die Begegnung mit der Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Frieda Reichmann, die das berühmte jüdische Heidelberger Privatsanatorium, scherzhaft „Thorapeutikum“

genannt, gründete, löste Fromm sich von der jüdischen Religion. Frieda Fromm- Reichmann wurde seine erste Ehefrau. 1929 gründeten sie das Frankfurter Insti- tut für Psychoanalyse mit, das bis zur Vertreibung 1933 mit dem von Max Horkhei- mer geleiteten Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) zusammenarbeitete.

Fromm wurde Freudianer und Marxist. Seit Ende der 1920er Jahre gewann er am IfS eine Schlüsselstellung für das, was seit einem berühmten Aufsatz Hork- heimers von 1937 Kritische Theorie und seit der Nachkriegszeit Frankfurter Schule heißen sollte. Wie fast alle Angehörigen des IfS – dessen Ko-Direktor er zeitweilig war – ging er mit dem IfS nach New York ins Exil.4

„Die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung“, schrieb Walter Benjamin noch 1938, „konvergieren in einer Kritik des bürgerlichen Bewusstseins. Diese Kritik vollzieht sich nicht von außen, sondern als Selbstkritik. Sie haftet nicht an der Aktualität sondern richtet sich auf den Ursprung. Den weitesten Rahmen haben ihr die Arbeiten von Erich Fromm abgesteckt.“5 1939 schied Fromm wegen persönlicher, vor allem aber inhaltlicher Differenzen aus dem IfS aus.

3 Fromm, Erich: Zur Soziologie des Diaspora-Judentums (1922). In: Fromm, Erich: Nachgelas- sene Schriften. Bd. 2. Stuttgart 1989; vgl. dazu: Ziege, Eva-Maria: Die politische Theologie des jungen Erich Fromm. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58, 3 (2006). S. 263–266.

4 Vgl. zur Biographie Funk, Rainer: Erich Fromm. Reinbek b. Hamburg 1983; Funk, Rainer: Von der jüdischen zur sozialpsychologischen Seelenlehre. Erich Fromms Weg von der einen über die ande- re Frankfurter Schule. In: Das Freie Jüdische Lehrhaus – eine andere Frankfurter Schule. Hrsg. von Raimund Sesterhenn. München, Zürich 1987. S. 91–108; Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule.

Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München 1988. S. 67–75; Kessler, Michael u. Funk, Rainer (Hrsg.): Erich Fromm und die Frankfurter Schule. Tübingen 1992.

5 Benjamin, Walter: Ein deutsches Institut freier Forschung. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II. Frankfurt a.M. 1972. S. 518–526, S. 522.

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Als Fromms Verdienst um die Kritische Theorie gelten gemeinhin die Integ- ration der Psychoanalyse und die Entwicklung des Konzepts des Gesellschafts- charakters, insbesondere mit seinem Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie (1936).6 Nach einer ersten Analyse bei Frieda Fromm-Reichmann hatte er eine Lehranalyse am Berliner Psychoanalytischen Institut bei Hanns Sachs gemacht und blieb seitdem zeitlebens praktizierender Analytiker. Gleichzeitig widmete er sich metatheoretischen Arbeiten. Die erste dieser Publikationen war Das Christusdogma (1930), auf die hier aus Gründen des Umfangs jedoch nicht eingegangen werden kann.

In den USA löste Fromm sich nach einer etwa zehnjährigen Freudrezeption seit Mitte der 1930er Jahre wieder von der Freudʼschen Orthodoxie. Diese Ablö- sung war begünstigt durch neue fachwissenschaftliche Kontakte in den USA, insbesondere zu Karen Horney und Harry Stack Sullivan, doch war sie schon in seinen früheren Arbeiten angelegt. Diese Abwendung von der orthodoxen Psy- choanalyse führte schließlich zu seinem Ausschluss aus der International Psy- choanalytic Association.

Die Kritik Fromms an Freud führte auch zum Bruch mit dem IfS. Er kritisierte die Libidotheorie und den phylogenetischen Universalismus Freuds.7 Gegen Freuds Annahme, Triebansprüche bestenfalls bändigen zu können, betonte Fromm die Entwicklung des Ichs. Er verabschiedete sich von Freuds starker Betonung der frühkindlichen Phase und stellte den Sexismus der Ödipustheo- rie in Frage, nicht zuletzt aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Johann Jakob Bachofen. Wenn, wie Fromm annahm, der Charakter des Individuums dessen je historisch-spezifischer Klassenlage geschuldet war und die patriarchalische Familie als psychologische Agentur der Gesellschaft funktionierte, dann musste auch der „Gesellschaftscharakter“ soziologisch erklärt werden können, statt ihn (wie er Freud vorwarf) in einer gleichsam ewigen Dynamik der innerpsychischen Instanzen von Ich, Es und Über-Ich menschheitsgeschichtlich zu verabsolutieren.

Die Psychoanalyse Fromms wollte die Linderung des Leidensdrucks von Indi- viduen – ein therapeutischer Gedanke mit der Hoffnung auf individuelles Glück, der für die Psychoanalyse Freuds vernachlässigbar war und von Horkheimer und Adorno als Ich-Psychologie abgelehnt wurde.8 Statt der von Freud beschriebenen 6 Horkheimer, Max, Fromm, Erich, Marcuse, Herbert u.a.: Studien über Autorität und Familie.

Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris 1936. 2. Aufl. Lüneburg 1987.

7 Vgl. Görlich, Bernard, Lorenzer, Alfred u. Schmidt, Alfred (Hrsg.): Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik. Frankfurt a.M. 1980, dort bes. Görlich, Bernhard: Die Kulturismus-Revisionismus-Debatte. Anmerkungen zur Problemgeschichte der Kontroverse um Freud. S. 13–89, S. 78ff.

8 Vgl. aber Freud, Sigmund: Die endliche und die unendliche Analyse (1937). In: Freud, Sig- mund: Gesammelte Werke. Bd. XVI. Frankfurt a.M. 1987. S. 59–99, S. 69f.

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Triebdynamik, deren Resultat der Charakter sei, führten die (von ihnen als Revi- sionisten bezeichneten) neofreudianischen Freud-Kritiker wie Fromm das Milieu ein.9 An die Stelle der Dialektik, die Freud ihrer Ansicht nach erfasst hatte, mit der die Kultur die menschlichen Bedürfnisse „sowohl zur Strecke als auch zur Entfaltung“ bringe, setzte der Revisionismus eine „weniger tragische Betrach- tungsweise der Beziehung des Menschen zur Gesellschaft. Ändert die moderne Zivilisation, so fordern sie, und der Mensch wird imstande sein, seine harmoni- sche Natur zu entfalten.“10

Auch wenn dieser so genannte Revisionismusstreit zur Trennung Fromms vom IfS führte, so kann man ihn heute nüchterner betrachten. Freud selbst hatte im Laufe seines langen Lebens das Gebäude der Psychoanalyse erweitert und wiederholt wesentliche Änderungen tragender Gedanken vorgenommen, ohne diese immer systematisch zu reflektieren. Der Freud in der Rezeption Fromms war der Freud in Zukunft einer Illusion (1927), der FreudAdornos der in Das Unbe- hagen in der Kultur (1930). Beide sollten die je anderen Anteile im Denken Freuds negieren. In der neueren Forschung wird Fromm eher Freuds loyaler Opposition zugerechnet.11 Damals stellte Fromm mit dieser Abweichung nicht zuletzt die Autorität Horkheimers in Frage und musste sich vom IfS trennen wie auch von der Gemeinschaft orthodoxer Freudianer.

Der Kern des Revisionismusstreits und der Exklusion Fromms erklärt aber zugleich den Kern des überwältigenden Erfolgs der Psychoanalyse in den USA und des Erfolgs von Fromm als Außenseiter, weil die Diffusion der Psychoana- lyse von Europa in die USA Veränderungen mit sich brachte, die sich in diesem Fall positiv auswirkten. Die neofreudianische Gruppe um Fromm, Horney und Sullivan entsprach zwar nicht dem Mainstream der US-amerikanischen Psycho- analyse, doch ging dieser in weniger radikaler Form in dieselbe Richtung. Im Ver- gleich zu Europa handelte es sich um eine gemilderte Variante eines Freudianis- mus, der die sexuelle Ätiologie seelischer Krankheiten abschwächte und deren Schwergewicht, anders als bei Freud, auf dem Heilerfolg von Patienten lag, die zu gesunden, an die Gesellschaft angepassten Individuen werden sollten – ein auch mit der Kritischen Theorie nicht ohne weiteres zu vereinbarender Gedanke.

Zugleich war die Psychoanalyse in den USA wesentlich stärker an die Medizin angekoppelt als in Europa. Ein Großteil der tiefenpsychologischen Arbeit wollte damit gar nichts anderes sein als partielle Heilung vom Leidensdruck. Die Psy-

9 Vgl. Adorno, Theodor W.: Die revidierte Psychoanalyse (1952). In: Adorno, Theodor W.: Gesam- melte Schriften. Bd. 8. Frankfurt a.M. 1972. S. 20–41, S. 26.

10 So der Historiker der Psychoanalyse, Paul Roazen, zitiert nach Görlich, Kulturismus-Revisio- nismus-Debatte (wie Anm. 7). S. 77.

11 Vgl. Burston, Daniel: The Legacy of Erich Fromm. Cambridge, Mass. 1991. S. 2.

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choanalyse als Metatheorie zu lesen, das geschah weniger in diesem Feld, das sich seit den 1930er Jahren rasch professionalisierte und medikalisierte. Gerade Freud aber gelang es, beide Ebenen nebeneinander zu entwickeln. Während Die Zukunft einer Illusion oder Das Unbehagen in der Kultur Beispiele einer solchen Metatheorie sind, entwickelten Texte wie Die endliche und die unendliche Analyse die technische Seite der Psychoanalyse.

Mit seiner Abweichung in den USA gelang Fromm eine Einbindung in Fach- kreise, wie sie dem IfS nie gelang. Im 1943 gegründeten prestigereichen William Alanson White Institute of Psychiatry lehrte Fromm und diente von 1946–1950 als Chairperson of the Faculty. Von 1948 bis 1949 las er als Gastprofessor an der Yale University. Obwohl Fromm die Kritik der Libidotheorie mit den Neufreudi- anern teilte, betonte er selbst eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten, da er von einer dynamischen Analyse der wirtschaftlichen, politischen und psy- chologischen Kräfte in der Gesellschaft ausging, während die Neofreudianer von kulturellen Mustern im traditionell anthropologischen Sinn ausgingen.12

Fromms Bedeutung für die USA ist wiederholt betont worden, etwa von dem Soziologen Lewis A. Coser in seiner klassischen Studie über Refugee Scholars in America.13 Fromm war zwar Neofreudianer, bestätigte darin aber eine wichtige Tendenz der US-Psychoanalyse. Einflussreich war er darüber hinaus mit sozial- psychologischen Schriften, in denen er das Konzept des Gesellschaftscharakters in einer langen historischen Perspektive auf Probleme der Gegenwartsgesell- schaft von der Reformation bis zum Faschismus anwandte. 1941 erschien Escape from Freedom, ein Buch, dessen sozialpsychologische Spekulationen von Luther bis Hitler reichten und das schlagartig ein internationaler Bestseller wurde. Wenn Fromms Bedeutung in den USA heute auch verschwindet, so schrieb ihm Coser „a significant impact on the American culture of the 1940s and 1950s“ zu.14

Seit 1944 war Fromm in zweiter Ehe mit Henny Gurland verheiratet, die schwer erkrankt war. Aus gesundheitlichen Gründen gingen die Fromms nach Mexiko, wo eine Gruppe mexikanischer Psychiater Fromm zu einer Konferenz einlud. Diesem Zufall ist es geschuldet, dass Fromm, der inzwischen nach Mexiko übergesiedelt war, 1951 Professor Extraordinarius an der Medizinischen Fakultät der UNAM wurde. Er lernte Spanisch und sollte in den kommenden 20 Jahren, in denen er zwischen Mexiko und den USA pendelte, in dieser Sprache lehren und forschen. Bereits 1951 begann er mit der Ausbildung von Psychoanalytikern, der ersten Kohorte der Psychoanalytiker in Mexiko.

12 Vgl. Funk, Fromm (wie Anm. 4). S. 106.

13 Coser, Lewis A.: Refugee Scholars in America. Their Impact and Experiences. New Haven, London 1984. S. 69–75.

14 Coser: Refugee Scholars in America (wie Anm. 13). S. 69.

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1956 folgte, wie eingangs erwähnt, die Gründung der psychoanalytischen Gesellschaft SMPAC, 1963 die Gründung der IMPAC. Die mexikanischen Psycho- analytiker waren international nicht ganz unwesentlich, da sie mit Fromm (und den westdeutschen Psychoanalytikern) an der Gründung der International Fede- ration of Psychoanalytic Societies (IFPS) 1962 mitwirkten – einer schismatischen Alternativorganisation zur 1910 gegründeten orthodox-freudianischen Internati- onal Psychoanalytic Association (IPA).

Während dieser Jahre lehrte Fromm zudem als Professor für Psychologie an der Michigan State University (1957–1961). Mitte der 1960er Jahre zog er sich zunehmend aus den Aktivitäten in Mexiko zurück, 1965 wurde er an der UNAM emeritiert. Seit 1971 lebte er in der Schweiz.

Die These Cosers, dass die erfolgreichsten Unternehmungen im Exil dieje- nigen sind, die mit ihren in der Heimat begonnenen Arbeiten an existierende Trends im Aufnahmeland anknüpfen können, gilt auch für Fromm und die spe- zifischen Konstellationen in den USA wie der späteren Wahlheimat Mexiko.15 Mexiko wurde Anfang der 1950er Jahre von einem umfassenden Reformprozess erfasst, der Fromm tief beeindruckte und dessen Chancen er als Soziologe und Sozialpsychologe sah. 1957, nach der ersten Phase der Etablierung der Psycho- analyse durch die Ausbildung des Schülerkreises, begann er mit einem Projekt, das ihn bis zu seiner Übersiedlung in die Schweiz beschäftigen sollte und eine Fragestellung weiterverfolgte, die Fromm schon in den Studien über Autorität und Familie 1936, ja sogar schon vor 1933 in einer Studie verfolgt hatte, in der er die Einstellungen von Arbeitern und Angestellten zu gesellschaftlichen Autoritäten untersuchte. Diese wurde erst 1980 unter dem Titel Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches ediert und publiziert.16

Auch die Publikation des mexikanischen Projekts nahm viele Jahre in Anspruch: Social Character in a Mexican Village veröffentlichten Erich Fromm und seinem Ko-Autor Michael Maccoby 1970. Das Projekt selbst dauerte in ver- schiedenen Phasen von 1957 bis 1963. Es wurde unter anderem mit Mitteln des mexikanischen Gesundheitsministeriums finanziert und durch die ehrenamtliche Mitarbeit aller Forscher ermöglicht, die sich vor allem aus Mitgliedern der mexi- kanischen psychoanalytischen Gesellschaft rekrutierten. Im weiteren Verlauf wurde der Kreis der Mitarbeiter um Mediziner und Anthropologen erweitert, die von US-Statistikern unterstützt und unter anderem mit Mitteln des US-Institute of Mental Health gefördert wurden. Wie in The Authoritarian Personality (1950) des IfS in Zusammenarbeit mit der Berkeley Public Opinion Study, wurde mit projek-

15 Vgl. Coser: Refugee Scholars in America (wie Anm. 13). S. xii.

16 Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsycho- logische Untersuchung. Bearb. u. hrsg. von Wolfgang Bonß. München 1980.

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tiven Interviews, Thematic Apperception Tests und Rorschach-Tests gearbeitet.

Mit teilnehmender Beobachtung (einige der Forscher lebten für längere Zeit in dem Dorf) und Aktionsforschung verbunden waren Maßnahmen zu Alphabeti- sierung, Literaturkurse, die Einrichtung einer Bibliothek für Kinder, ein mehr- jähriges Programm von Lehrfilmen, begleitet von medizinischer Versorgung und Untersuchungen mit einem anschließendem Modellprogramm zur Behandlung der Parasitose. Innovationen des Schulunterrichts wirken sich bis heute in der mexikanischen Ausbildung von Montessoripädagogen aus. Das Projekt wurde während der gesamten Laufzeit von einem regelmäßigen Seminar Fromms mit den Projektmitarbeitern begleitet.

Fromm wird heute überwiegend als populärwissenschaftlicher Autor wahr- genommen, der seit den 1950er Jahren zunehmend für ein breites Publikum schrieb. In der Tat wurde er in dieser Zeit mit populärwissenschaftlichen Bestsel- lern wie The Art of Loving (1956) weltbekannt. Seine Energien als Sozialforscher aber investierte er in dieser Zeit, und das wird dabei oft vergessen, in dieses große sozialpsychologische Projekt in einem mexikanischen Dorf und als Psychoanaly- tiker in die Ausbildung einer ganzen Schülergeneration in Mexiko. Der Nachlass Fromms ist durch das Tübinger Erich Fromm-Archiv, die Erich Fromm Papers in der New York Public Library in den USA und das Psychoanalytische Institut in Mexiko-Stadt hervorragend erschlossen, aber bei weitem nicht erschöpft.

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