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Die manipulierte Kriegsschuldfrage

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Imanuel Geiss

Die manipulierte Kriegsschuldfrage

Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919—1931 *

»Leider kann in der Öffentlichkeit weder über die Tätigkeit des Auswär- tigen Amtes in der Kriegsschuldfrage noch über die dazu verwandten Mittel Auskunft gegeben werden.«

(Legationsrat Schwendemann, Leiter des Schuldreferats des Auswärtigen Amts, im Februar 1931.)

In der heftigen »Fischer-Kontroverse«1, die bald nach dem Erscheinen von Fritz Fi- schers »Griff nach der Weltmacht«2 ausbrach, konzentrierte sich die Kritik im allge- meinen auf das eine Kapitel über die Julikrise 1914, obwohl der Kern des Büches die Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg ausmachte. Gegenüber allen mehr oder minder apologetischen Abschwächungsversuchen, die in den Angrif- fen auf Fischer überwogen, mußte aber auch historisch von Belang sein, was offizielle Stellen des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg auf Grund intimer Akten- kenntnis über beide Komplexe wußten und dachten. Den Schlüssel liefern die um- fangreichen Bestände des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, die noch auszu- schöpfen sind. Ein erster Durchgang durch einen Teil der Akten vor fast 20 Jahren schlug sich in einer knappen Ankündigung des Herausgebers3 und in der posthumen Veröffentlichung des Gutachtens von Hermann Kantorowicz4 nieder. Da trotz ver- schiedener Ankündigungen über entsprechende Forschungsvorhaben zum Schuldrefe- rat lange nichts publiziert worden war und die Diskussion um die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg noch nicht abgeschlossen ist, erschien es an der Zeit, wenigstens mit einigen Kernstücken einen weiteren Beitrag zur Weltkriegsdiskussion zu leisten5. Das Schuldreferat befaßte sich zwar, wie sein Name besagt, meistens nur mit der

»Kriegsschuldfrage« im engeren Sinne, also mit Julikrise und Kriegsausbruch 1914 samt deren Vorgeschichte. Gegen Ende seiner Tätigkeit hatte es jedoch einmal auch mit der deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg zu tun — Fritz Fischers An- satzpunkt zur kritischen Überprüfung der traditionellen deutschen Position. Als Er- gebnis entstand 1931 das Gutachten Wilhelm Schaers für das Schuldreferat. Es ist so charakteristisch in Aussage, Ton und Konsequenzen, daß es (samt einigen zum Ver- ständnis erforderlichen weiteren Dokumenten aus demselben Aktenbestand)6 der Forschung nicht länger vorenthalten bleiben sollte. Zur angemessenen Einordnung des Schlüsseldokuments erscheint es erforderlich, auf Grund der bisherigen Akten- kenntnis Tätigkeit und Wirkung des Schuldreferats in der Weimarer Republik etwas auführlicher und detailliert zu skizzieren, denn die einmalige Befassung des Schuldre- ferats mit der Kriegszielfrage ist zugleich typisch und Höhepunkt für seine Haupttä- tigkeit in der Kriegsschuldfrage, den Kampf gegen die sogenannte »Kriegsschuld- lüge«.

Insgesamt dürfen Existenz und Wirksamkeit des Schuldreferats als eines der bestge- hüteten Staatsgeheimnisse der Weimarer Republik gelten. Dem Verfasser ist nur eine Stelle aus der zeitgenössischen Literatur bekannt, die auf das Schuldreferat noch in der Weimarer Republik verweist. Sie stammt vom lange vergessenen Staatsrechtler Hermann Kantorowicz, dessen »Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914« selbst Opfer des propagandistisch-politisch-bürokratischen Kampfes im dunkeln gegen die soge- 31 M G M 2/83 nannte »Kriegsschuldlüge« wurde7. Im letzten Kapitel seines noch heute bemerkens-

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werten Buches über die englische Vorkriegspolitik, »Das Einkreisungsgespenst geht um« (Kap. VI), charakterisierte Kantorowicz die deutsche Kriegsunschuldpropa- ganda mit einer Hellsichtigkeit, die sich gewiß auch aus seinen eigenen Erfahrungen mit ihr erklärt:

»Es handelt sich um ein gewaltiges und erfolgreiches von leidenschaftlicher Vater- landsliebe durchglühtes, aber gegen jede andere sittliche Forderung gleichgültiges Unternehmen. Es ist aufs strengste organisiert, wenn auch eine letzte Zusammenfas- sung noch mangelt: die Tausende von Fäden laufen in drei eng zusammen arbeiten- den Stellen zusammen, dem Kriegsschulddezernat des Auswärtigen Amtes, dem >Ar- beitsausschuß deutscher Verbände< und der Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen«, sämtlich in Berlin. Die Einzelheiten dieser gigantischen Organisa- tion können hier nicht erörtert werden; dies würde ein neues Buch erfordern. D e n n sie verfügt über eigene parlamentarische, diplomatische, offiziöse, wissenschaftliche, pädagogische, journalistische, buchhändlerische, kaufmännische, militärische, kirchli- che Unterorganisationen und Veranstaltungen: Amtsstellen, Büros, Vereine, Ver- bandsausschüsse, Verlagsbetriebe, Sammelwerke, Schriftenreihen, Aktenveröffentli- chungen, Zeitschriften, Korrespondenzen, Ausstellungen, Enqueten, Beleidigungs- prozesse, Flugblätterversand, Bearbeitung von Auswanderern und Auslandsdeut- schen, Petitionen, Archive, Schulungswochen, Kinoaufführungen, Vortragsreisen, öf- fentliche Kundgebungen, Schriftenauslage (in Wartesälen, Lesehallen, Krankenhäu- sern und auf Dampfern) und so weiter, wobei überall die Kriegsschuldpropaganda teils als H a u p t - , teils als Nebenzweck betrieben wird. Die Organisationen ihrerseits sind wieder teils örtlich, teils nach Berufen, Parteien, Konfessionen und Geschlech- tern gegliedert.«8

Allerdings sah Kantorowicz 1929 in einem Punkt die Realität noch nicht mit der heute möglichen Klarheit, weil er die Akten des Schuldreferats noch nicht kannte:

Zwar liefen, wie er richtig beobachtete, die Fäden der gigantischen Propagandakam- pagne in Berlin zusammen, im Schuldreferat, dem »Arbeitsausschuß deutscher Ver- bände« und der »Zentralstelle f ü r Erforschung der Kriegsursachen«. Aber entgegen der Annahme von Kantorowicz gab es sehr wohl »eine letzte Zusammenfassung«, eben jene, die das Schuldreferat besorgte9. Das Schuldreferat des Auswärtigen Amtes hatte politisch, administrativ und finanziell den »Arbeitsausschuß« und die »Zentral- stelle« an und in der H a n d . N a c h außen posierten sie als selbständige Organisationen, aber in Wirklichkeit waren sie, wie wir heute sagen würden, »Frontorganisationen«

des Auswärtigen Amtes zur D u r c h f ü h r u n g der deutschen Kriegsschuldkampagne.

Wie geschickt die T a r n u n g war, zeigen die Ausführungen Kantorowiczs, der bei sei- nem ungewöhnlichen Scharfsinn und seiner Hellsichtigkeit sicher die volle Wahrheit geschrieben hätte, wenn er sie in diesem Punkt schon 1929 gekannt hätte.

Der deutsche Revisionismus am Ende des verlorenen Ersten Weltkrieges w a r u.a. Re- aktion auf die zerstörte Illusion eines milden »Wilson-Friedens« und die bittere Ent- täuschung in Deutschland über die H ä r t e des Versailler Vertrages1 0. Die Revisionis- mus-Reaktion verdeckte zunächst noch das ostentative Bemühen um eine »deutsche Friedenspolitik« n, damals wesentlich getragen von der linken Mitte, von Mehrheits- sozialdemokraten und Mitgliedern bzw. Sympathisanten der Deutschen Demokrati- schen Partei ( D D P ) , mit ihrem »demokratischen Nationalismus«1 2. Es ist sicher nicht zufällig, daß namentlich der D D P zugehörige oder ihr nahestehende quasi-pazifisti- sche Persönlichkeiten einerseits nach dem verlorenen Krieg versuchten, f ü r ein demo- kratisch erneuertes Deutschland möglichst die Härten des Versailler Vertrages abzu- mildern, während sie andererseits gleichzeitig schon die Grundlagen f ü r die spätere Kriegsschuldkampagne legten als Ausgangsbasis für die Revision des Versailler Ver- trages. Zu nennen wären insbesondere: Max Weber1 3, Walter Schücking1 4, J o h a n n - Heinrich Graf v. Bernstorff1 5, M a x Graf Montgelas1 6, Albrecht Mendelssohn-Bar- tholdy1 7, Kurt H a h n1 8, deren Wirken in der Friedensfrage längst bekannt war, jetzt aber ergänzt um die Dimension des Kriegsschuld-Revisionismus des späteren Staats- sekretärs des Auswärtigen Amtes, Bernhard W . v. Bülow, der immerhin zu dieser Zeit

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ebenfalls Mitglied der D D P war1 9. Auch der wandlungsreiche Eugen Fischer2 0 gehört zu dieser Gruppe.

Sie alle und viele andere erweisen sich nach Kenntnis der Akten als geführt, vielleicht ihnen selbst nicht bewußt und in den historischen Konsequenzen nicht gewollt, als manipuliert vom Schuldreferat des Auswärtigen Amtes, gelegentlich mit geradezu zy- nischen Bemerkungen des jüngeren Bernhard W . v. Bülow2 1. Er hatte im Ersten Welt- krieg die deutschen Akten zur Julikrise 1914 verwaltet2 2. Seit Jahresende 1918/19 lei- tete er das »Spezialbüro v. Bülow«, die Keimzelle des späteren Schuldreferats. Mit seiner »Erfahrung als >Amtsarchivar< und Vater aller >Enthüllungen<«, wie er sich in- tern selbst bezeichnete2 3, gehörte er 1919 als Experte zur deutschen Friedensdelega- tion in Versailles24. V o n dort organisierte er die deutsche Abwehr der alliierten V o r - würfe vor allem in der Schuldfrage2 5, u.a. mit Hilfe der berühmten »Professoren- denkschrift«, verfaßt von vier Gelehrten — H a n s Delbrück2 6, Max Weber, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Max Graf Montgelas —, die im Mai 1919 kurzfristig nach Versailles berufen wurden, um als »unsere Gegen->Kommission<«27 den deutschen Ar- gumenten größeres Gewicht zu verleihen.

Seine Antwort auf den alliierten Kommissionsbericht zur »Feststellung der Verant- wortlichkeit der Urheber des Krieges und die aufzuerlegende Sühne«2 8 hatte Bülow schon vorher in großen Zügen fertig, mußte sie aber nach Eintreffen der »Gegen-

>Kommission<« noch einmal überarbeiten lassen. Auch lancierte er ein zweites »Weiß- buch« als propagandistische Entlastung2 9. Somit legte Bülow bereits die Grundlagen zur deutschen Propaganda in der Kriegsschuldfrage. Nach seiner Rückkehr aus Ver- sailles trennte sich Bülow vom Auswärtigen Amt, offensichtlich aus politischen G r ü n - den, stand aber — vor allem in den ersten Nachkriegsjahren — dem Schuldreferat mit den von ihm organisierten Aktivitäten zur Entlastung Deutschlands in der Kriegs- schuldfrage als sachverständige Auskunftsperson weiterhin zur Verfügung3 0. Ferner steuerte er selbst noch den quasi-offiziösen »Kommentar zu den Deutschen D o k u - menten zum Kriegsausbruch« bei, der den ursprünglich von Karl Kautsky3 1 zusam- mengestellten Dokumentenbänden zur Julikrise und zum Kriegsausbruch 1914 als Er- gänzungsband beigegeben wurde3 2, zur allgemeinen Sprachregelung wie zur Ab- schwächung des Eindrucks, den Kautsky mit seiner selbständigen Buchveröffentli- chung zum selben T h e m a3 3 hervorgerufen hatte. Schon 1923 kehrte Bülow, zunächst als Leiter des Völkerbundreferats, wieder ins Auswärtige Amt zurück. Als Staatsse- kretär von 1930 bis zu seinem T o d 1936 hatte er die Genugtuung, daß die Reichsre- gierung in steigendem M a ß e nun auch nach außen seine seit 1919 vertretene Linie in der Kriegsschuldfrage übernahm.

Nach Bülows Ausscheiden leitete der Gesandte Freytag3 4 das Schuldreferat (1919—21), gefolgt von Professor Richard Delbrück3 5 (1921/22), Legationsrat Fried- rich Stieve36 (1922—28), der sich auch als rühriger Autor und Herausgeber von D o - kumenten zur Verteidigung der deutschen Thesen einen N a m e n machte3 7, und Lega- tionsrat Schwendemann3 8 (1928—31). Letzterer schrieb ebenfalls ein Buch zu der von ihm von Amts wegen behandelten Frage3 9, und protestierte noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg als pensionierter Botschafter in einem Leserbrief an die Zeitschrift

»Das Parlament« gegen eine dort erschienene positive Rezension über das vom Ver- fasser posthum herausgegebene »Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914« von H e r - mann Kantorowicz4 0. N a c h ihm leiteten Ministerialdirektor de H a a s4 1 (1931/32), Geheimrat H u g o M ü n d t4 2 (1932—35) und nach dessen T o d Werner Frauendienst4 3

das Referat. 1936 wurde das Schuldreferat aufgelöst, weil seine Aufgabe im Dritten Reich als erfüllt galt.

Inhaltlich gab es die Aufgabenstellung für das Schuldreferat schon vor dessen forma- ler G r ü n d u n g nach dem Krieg, denn die Propagandamanöver des Deutschen Reiches

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in der Kriegsschuldfrage begannen im Grunde schon in der Julikrise 1914 selbst, in- dem die Reichsleitung bestrebt war, die eigene zum Krieg führende Politik nach au- ßen zu kaschieren und tunlichst das »Odium« der Kriegsentfesselung auf Rußland zu schieben44. G a n z auf diesen T e n o r war auch das von Kurt Riezler4 5 entworfene D e u t - sche Weißbuch vom 3. August 1914 gestimmt4 6, das H e r m a n n Kantorowicz als das am meisten gefälschte aller Farbbücher zum Kriegsausbruch 1914 bezeichnen konnte4 7. Schon am 31. August 1914 erteilte Staatssekretär v. J a g o w die Weisung4 8,

»für den bevorstehenden Kampf der Meinungen die Vorbereitung einer umfassenden Publikation über die Vorgeschichte des Krieges« in Angriff zu nehmen und das »für eine derartige größere Veröffentlichung geeignete Material vorläufig zusammenzu- stellen, so daß wir im Bedarfsfall in wenigen T a g e n publizieren können«4 9.

Die erste Sichtung erfolgte durch B. W . v. Bülow in seiner Eigenschaft als »politischer Archivar« des Auswärtigen Amtes5 0. Riezlers Versuch, noch im Krieg eine größere Aktenpublikation durch den zuverlässig nationalgesinnten, später alldeutschen und nationalsozialistischen M ü n c h n e r Historiker Karl Alexander v. Müller5 1 vorbereiten zu lassen, schlug schon 1915 fehl: Nach eingehender Information über den Aktenin- halt durch Riezler gab Müller den Auftrag dankend zurück5 2. Er erkannte offenbar die Unmöglichkeit, aus den deutschen Akten die Friedfertigkeit der deutschen Reichspolitik im Juli 1914 nachzuweisen, ohne seinen Ruf als damals noch junger H i - storiker aufs Spiel zu setzen.

Das Schuldreferat entwickelte sich nach dem Kriege aus der Stelle Bülows als Politi- scher Archivar des Auswärtigen Amtes im Kriege und dem »Spezialbüro v. Bülow« in- haltlich gleichsam als Fortsetzung des Kriegszielreferats im Auswärtigen Amt, nun aber mit anderen Mitteln und Nahzielen. Aber die politische Gesinnung war geblie- ben. Schon am 22. Februar 1919 fand in Berlin unter Vorsitz des früheren deutschen Botschafters in Washington, des Grafen v. Bernstorff, eine amtliche Sitzung statt, um die allgemeine Marschroute festzulegen. Teilnehmer waren u.a. W . v. Kries5 3, die Generalmajore im Generalstab v. Winterfeldt5 4 und v. Wrisberg5 5 sowie Legations- sekretär v. Bülow. Drei große Komplexe galt es fortan zu unterscheiden:

»A. Schuld am Ausbruch des Krieges.

B. Schuld im Kriege.

C. Verantwortlichkeit des Kaisers.«56

Ganz im Sinne der ursprünglichen Anweisung Jagows vom 31. August 191457 hatte Bülow bereits vor seinem Aufenthalt bei der deutschen Friedensdelegation in Versail- les »zwei ziemlich dicke Aktenbände voll Material gesammelt, das jederzeit losge- schossen werden konnte«5 8. In die Frühzeit des Schuldreferats fallen auch die inter- nen Gutachten durch den Grafen A. v. O b e r n d o r f f5 9 und den Referatsleiter Freytag zur geplanten Veröffentlichung der von Karl Kautsky vorbereiteten »Deutschen D o - kumente zum Kriegsausbruch 1914«60 sowie die geheime Finanzierung des früheren serbischen Geschäftsträgers in Berlin, Boghitschewitsch, der mit der Preisgabe der ihm bekannten serbischen Dokumente zur Entlastung der deutschen amtlichen Posi- tion beitrug6 1.

Entgegen der sonst üblichen eher sparsamen Personalausstattung im Auswärtigen Amt hatte das Schuldreferat eine beachtliche personelle Besetzung. Schon A n f a n g 1922 gehörten ihm neben dem Referatsleiter drei höhere Mitarbeiter und »sonstiges Personal« an6 2. Ursprünglich hatte das Auswärtige Amt gehofft, die aufwendige Kriegsschuldpropaganda durch das Schuldreferat selbst leisten zu können. Die O r - ganisatoren der Kriegsunschuldkampagne sahen sich jedoch rasch großen Schwierig- keiten gegenüber, weil das offizielle W o r t in den Wirren nach Kriegsende nicht mehr viel galt. D a h e r empfahl Bülow schon früh seinem Amtsnachfolger Freytag amtliche

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Initiativen, die aber aus taktischen Gründen wie private aussehen sollten, zunächst eine private Propagandabroschüre zur Kriegsschuldfrage:

»Natürlich müßte man mit allergrößter Vorsicht zu Werke gehen. Heutzutage ist amtliches Material in allen Ländern diskreditiert, und der Wert des unsrigen steht im Ausland noch unter dem Wert der Mark. Von den Aussagen einzelner Personen läßt sich, wenn die nur glaubhaft frisiert werden, nicht dasselbe sagen. Vor allen Dingen werden Rechtsfreunde, Pazifisten und andere Schwarmgeister solches Material sehr viel williger annehmen, wie jedes andere.«63

Fünf Wochen später kommentierte Freytag die Idee einer »privaten« Propaganda- organisation unter tatsächlicher amtlicher Leitung mit nicht minderer Offenheit unter den Eingeweihten:

»Ich habe in der Sache auch mit Karo 64 gesprochen, der natürlich Feuer und Flamme dafür ist. Ich habe ihm auch gesagt, daß selbstverständlich unter allen Umständen ver- mieden werden muß, daß diese Organisation eine Gründung der Regierung oder des Amtes oder auch nur des zuständigen Referenten im Amte ist. Sie muß absolut als eine Schöpfung erscheinen, die von Privaten ausgeht. Ich habe ihm dabei auch er- klärt, wie unerwünscht es für mich persönlich wäre, wenn ich als Anreger dieser Sa- che bekannt würde.« 65

Ahnlich unterstrich Freytag Anfang 1920 die Langfristigkeit der Arbeit:

»Sehr wichtig ist für mich in der Sache, . . . daß ich keine Propaganda im weitläufigen Sinne will. Von einer Propaganda kann m.E. erst die Rede sein, wenn das ganze Land so von unseren Anhängern überzogen ist, daß man von einer gleichzeitig auf- sprießenden Saat reden kann. ... Ich denke mir die Organisation sehr viel innerlicher, tiefliegender Kabel, die von keinen Außenstehenden zu erkennen sind, verspreche mir aber davon eine viel nachhaltigere Wirkung.«

In diese langfristige Perspektive paßte auch eine Verfügung des Reichskanzlers Her- mann Müller vom 20. Dezember 1919, derzufolge ins Ausland zu entsendende Be- amte des Auswärtigen Amtes in Berlin durch Vorträge über die Kriegsschuldfrage und den Krieg für ihre Aufgabe vorzubereiten waren: »Bei der Auswahl der Vortra- genden ist eine Sicherheit dafür zu schaffen, daß ihre Grundgesinnung eine gemein- same ist.«66 Als Referenten wurden u.a. vorgeschlagen: Kurt Hahn6 7, Hjalmar Schacht68, der Historiker Justus Hashagen69, Mendelssohn-Bartholdy, der österrei- chische Historiker Hans Uebersberger70, Graf Montgelas, Oberst a.D. Schwertfe- ger71 und Walter Schücking.

Anfang 1921 waren die Vorarbeiten für den Aufbau jener Organe, die die offizielle Propaganda getarnt durchführen sollten, so weit gediehen, daß der neue Referatslei- ter, Professor Richard Delbrück, nach Rom melden konnte:

»Was zunächst versucht werden soll, ist folgendes. Es wird in (wirklich) allernächster Zeit eine Zentralstelle über die Forschung über die Kriegsursachen in Berlin errichtet, deren Leitung höchstwahrscheinlich der Schweizer Sauerbeck72 übernimmt. Die Di- rektiven soll die Zentralstelle teils direkt vom Auswärtigen Amt erhalten, teils durch einen Beirat aus wenigen Personen, früheren Diplomaten und Historikern. Gedacht ist zum Beispiel an Rhomberg (sic! I.G.)73, Lancken74, Professor Mendelssohn, Ham- burg.« 75

Im April 1921 wurde die »Zentralstelle« gegründet, für deren Anfangsfinanzierung das Auswärtige Amt um 1,2 Mio. Mark nachsuchte76. Die politische Begründung gab ein halbes Jahr später Reichskanzler Joseph Wirth als Antwort auf eine Anfrage des bayrischen Gesandten in Berlin, v. Preger, vom 8. November über die Haltung der Reichsregierung zur Kriegsschuldfrage. An Hand einer Vorlage des Auswärtigen Am- tes umriß er in fast schon klassischer Kürze Ziele und Methoden der offiziellen Kriegsunschuldpropaganda nach außen und innen:

»Die Regierung hält die Aufklärung der öffentlichen Meinung im neutralen wie im bisher feindlichen Auslande, nach wie vor für eine ihrer wesentlichsten, für die Durchsetzung einer Revision des Friedensvertrags grundlegende Aufgaben. Nach hie- siger Auffassung ist der Zeitpunkt für eine ausgedehnte, auf die Umstimmung der Volksmassen im Ausland gerichtete Propaganda, sowie für eine amtliche Stellung-

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nähme der Deutschen Regierung in der Schuldfrage indessen noch nicht gekommen.

Es erscheint empfehlenswerter, abzuwarten, bis die unter der Intelligenz der Feind- länder erwachte Gegenbewegung gegen den Versailler Vertrag und gegen das Dogma von der alleinigen deutschen Kriegsschuld noch weiter um sich gegriffen hat.

Bis dahin ist vor allem die ernste, wissenschaftlich begründete Aufklärung und die sachliche Diskussion zwischen deutschen und ausländischen Persönlichkeiten in jeder Weise zu fördern, besonders durch Sichtung und Herausgabe des vorhandenen histo- rischen Materials und durch Erschließung neuer Quellen. In dieser Richtung glaubt das Auswärtige Amt, die sich bietenden Möglichkeiten tunlichst auszunutzen, wobei es allerdings aus naheliegenden Gründen nicht in die Öffentlichkeit tritt. Ferner mußte in der deutschen Öffentlichkeit eine möglichst einheitliche und geschichtlich haltbare Auffassung über die Schuldfrage geschaffen werden, die ihre W i r k u n g auf das Ausland, auch ohne eigentliche Propaganda, nicht verfehlen dürfte. Auch in die- ser Richtung hat das Auswärtige Amt planmäßig das Erreichbare zu verwirklichen ge- sucht.«

Wirth teilte ferner mit, die ersten sechs Bände der »Großen Politik« hätten bereits die Druckerlaubnis bzw. seien im Satz7 7. Dem Schuldreferat oblag die »Zensur« der Bände und die Überprüfung auf ihre politische Unbedenklichkeit vor Freigabe zur Veröffentlichung 78.

Hierzu gründete das Schuldreferat im Frühjahr 1921 gleich drei angeblich unabhän- gige Organisationen, die intern jedoch als »dem Schuldreferat angegliedert« galten:

»1) Büro zur Herausgabe der politischen Akten des Auswärtigen Amtes von 1871 bis 1914 (,) kollegialisch geleitet von den Herren Dr. Johannes Lepsius79, Geheimrat Al- brecht Menselssohn Bartholdy in H a m b u r g , Dr. Thimme8 0.

Die ersten 6 Bände erscheinen in kürzester Zeit, 14 weitere sind geplant. D e r Text wird vor dem D r u c k vom Amt geprüft8 1.

2) Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen, nach außen unabhängig. Leiter Dr. Sauerbeck, Hilfspersonal. Aufgaben: Sammlung und Sichtung des historischen Materials über die Kriegsursachen, Auskunfterteilung an Private und Vereine. Veröf- fentlichung von knappen, sachlichen Darstellungen, Fertigung von Berichten und Gutachten f ü r das Amt. Die Zentralstelle arbeitet zusammen mit Berliner Gelehrten und Politikern. Ihre Beziehungen im übrigen Deutschland und mit dem Ausland sol- len und müssen noch ausgebaut werden.

3) Ausschuß Deutscher Verbände. Die wichtigsten deutschen politischen Vereine, von deutschnationalen bis zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, haben sich auf Veranlassung des Amtes f ü r die Kriegsschuldfrage zu einer Arbeitsgemeinschaft zu- sammengeschlossen, die ständig an Boden gewinnt. Vorsitzender von Lersner8 2, Ge- schäftsführer Geheimrat von Vietsch8 3. Ein Arbeitsausschuß tritt regelmäßig zusam- men. Der Zweck, die Schuldfrage einigermaßen außerhalb der parteipolitischen Dis- kussion zu halten, eine maßvolle gleichmäßige Auffassung überall durchzusetzen und unüberlegte Aktionen zu verhindern, wird in zunehmendem M a ß e erreicht. Beeinflus- sung der Presse, der Redetätigkeit, Vertrieb guter Literatur, Sammlung der Auslands- beziehungen. Es fehlt an Mitteln, da der Ausschuß parteilos ist und in aller Stille ar- beiten muß. Er ließe sich auch für andere Zwecke als die Schuldfrage verwenden und könnte dadurch ein brauchbares O r g a n f ü r die Regierung werden.«8 4

Die »Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen« stand zunächst unter Leitung des Schweizer Privatdozenten Dr. Ernst Sauerbeck. Sie wurde direkt vom Auswärti- gen Amt finanziert, jedoch so diskret, daß schon die Anmietung von Räumen Schwie- rigkeiten bereitete, um die Fiktion der Unabhängigkeit nach außen aufrechtzuerhal- ten8 5. Die »Zentralstelle« erhielt »in Dr. von H a g e n und Dr. Adamitz zwei akade- misch gebildete Hilfsarbeiter, ferner in M a j o r von Wegerer8 6 einen Gehilfen f ü r den Verkehr mit Verbänden und Personen, sowie für praktische Angelegenheiten«8 7. N a c h Spannungen zwischen Sauerbeck und seinen deutschen Mitarbeitern einerseits, Sauerbeck und dem Schuldreferat andererseits erhielt die »Zentralstelle« im Herbst 1922 ein 7köpfiges Direktorium, dem, neben Sauerbeck selbst, Professor H a n s Del- brück (1. Vorsitzender), M a x Graf Montgelas (2. Vorsitzender), Dr. Eugen Fischer vom parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Reichstags, Professor Georg Karo (Halle), der politische Publizist H e r m a n n Lutz (München)8 8 und B. W . v. Bü-

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low angehörten8 9. Die Konstruktion ließ sich jedoch nicht lange halten. Schon im fol- genden Jahr schied Sauerbeck aus und machte Alfred v. Wegerer in der Leitung der Zentralstelle Platz, der nach außen unabhängig auftrat, in Wirklichkeit aber einen Dienstvertrag als Angestellter des Auswärtigen Amtes besaß9 0.

Die »Zentralstelle« sollte die »wissenschaftliche« Seite der Unschuldkampagne bear- beiten. Neben zahlreichen größeren und kleineren Publikationen, Zeitungsartikeln von festen und freien Mitarbeitern gab die »Zentralstelle« selbst eine eigene Zeit- schrift heraus, »Die Kriegsschuldfrage«, f ü r deren Start sich auch auf dem H ö h e - punkt der Inflation im Herbst 1923 noch die notwendigen Beträge in Goldmark be- schaffen ließen. Unterstützt von seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern9 1, entfaltete Wegerer unter seinem N a m e n eine enorme literarische Tätigkeit, kulminierend in ei- ner zweibändigen Darstellung der Julikrise 1914, die allerdings erst 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, erschien9 2. T r o t z ihrer eklatanten Schwächen — apologetische Einseitigkeit, verschleiernde Zitierweise der Dokumente, so daß der Leser ohne den ständigen Vergleich mit den Quellen nicht erkennen kann, w o die Wiedergabe der Dokumente (ohne Anführungszeichen) aufhört und w o die Referie- rung durch Wegerer beginnt — galt sein Buch auch nach 1945 in der Bundesrepublik zunächst noch als seriöse grundlegende Darstellung9 3.

Die Abhängigkeit der »Zentralstelle« vom Schuldreferat des Auswärtigen Amtes läßt sich nach Kenntnis der einschlägigen Akten jedenfalls nicht mehr leugnen, ebensowe- nig der durchgängige Propagandacharakter ihrer Publikationen, die nach außen mit wissenschaftlichem Anspruch vertreten wurden9 4. Wegerers »Kurzer Bericht über die Tätigkeit der Zentralstelle und die Auswirkungen ihrer Monatsschrift >Die Kriegs- schuldfrage<« vom Dezember 1923 betonte selbst die Notwendigkeit der Zurückhal- tung nach außen:

»Es ist selbstverständlich, daß diese Tätigkeit der Zentralstelle sich nicht vor der brei- ten Öffentlichkeit abspielen darf, sondern mit einer gewissen Diskretion betrieben werden muß. Diese ist leider vielfach der Grund, daß von der Tätigkeit der Zentral- stelle Außenstehende weniger sehen und hören als von Organisationen, welche eine öffentliche Propaganda treiben.«9 5

Die Zeitschrift »Die Kriegsschuldfrage« hatte damals eine Auflage von durchschnitt- lich 2000 Exemplaren, »von denen etwa ein Viertel an die ersten ausländischen Wis- senschaftler und Politiker abgehen«.

Ebenso wie die »Zentralstelle« wurde auch der »Arbeitsausschuß deutscher Ver- bände« im April 1921 durch das Schuldreferat nach langwierigen Vorarbeiten gegrün- det, und zwar eigens für die Binnenpropaganda in Deutschland. Über den Arbeitsaus- schuß mit seiner eigenen Zeitschrift »Der W e g in die Freiheit« informierte bereits 1929 H e r m a n n Kantorowicz in seiner erfrischend ironisch-polemischen Art:

»Statistische Einzelheiten sind mir nur über den — nicht weniger als 1100 Organisa- tionen umfassenden — >Arbeitsausschuß deutscher Verbände< bekannt. Darüber gibt Auskunft der Geschäftsbericht f ü r das Jahr 1925, den das geschäftsführende V o r - standsmitglied des Arbeitsausschusses Draeger am 26. 1. 1925 mit nicht zu überbie- tender — leider auch nicht mehr wiederholter Offenheit veröffentlichte. Jeder, der den Apparat der deutschen Unschuldspropaganda kennenlernen will, studiere dieses Denkmal unserer Zeit.

Hiernach wurden von den kleineren Schriften des Vereins die >Schuld am Kriege ?< in 2V2 (später: 3) Millionen, das >Merkblatt zur Kriegsschuldfrage< in 500 000, der Ka- lender >Für Freiheit und Ehre< in 100 000 Exemplaren abgesetzt; die Auflage des Mit- teilungsblattes stieg im Berichtsjahr von 5500 auf 10 000. Mit Korrespondenzbüros wurden dauernde Beziehungen, mit etwa 1500 reichsdeutschen Tageszeitungen ein ständiger Briefwechsel unterhalten; manche Korrespondenzen wurden von 300 Zei- tungen nachgedruckt, in manchen M o n a t e n wurden 1600—1700 N a c h d r u c k e festge- stellt, so daß noch viel mehr erschienen sein müssen. M a n kann also gewiß im Tages- durchschnitt 100 vom Arbeitsausschuß lancierte, fast durchweg die Kriegsschuldfrage behandelnde Artikel annehmen; ferner wurden 1456 Vorträge gehalten. Welches Hirn soll einem solchen Trommelfeuer auf die D a u e r Widerstand leisten?«96

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Die Aktivität des Arbeitsausschusses lief in der Berliner Geschäftsstelle unter dem Ge- schäftsführer H a n s Draeger zusammen9 7, der für seine Verdienste um die deutsche Unschuldpropaganda 1928 sogar Ehrendoktor der Universität Jena wurde9 8. Einer der rührigsten Angestellten der Berliner Geschäftsstelle war Wilhelm Schaer9 9, der mit eigenen Publikationen hervortrat1 0 0. Gegen Ende der Weimarer Republik blok- kierte er mit einem aufschlußreichen Gutachten f ü r das Schuldreferat die vom Parla- mentarischen Untersuchungsausschuß vorgesehene Veröffentlichung von drei D o k u - mentenbänden zur deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg1 0 1.

Die U n t e r o r d n u n g von »Zentralstelle« und »Arbeitsausschuß« unter das Auswärtige Amt geht aus mehreren Aktenstücken hervor, die sich heute teilweise, ginge es nicht um einen so ernsten Gegenstand, fast schon amüsant lesen. So faßte der damals neue Leiter des Schuldreferats, Professor Richard Delbrück, im Juni 1921 seine bisherige Tätigkeit in einer instruktiven Aufzeichnung folgendermaßen zusammen:

»Die ersten Aufgaben des Referenten bei der Uebernahme des Schuldreferats waren:

1) die Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen in Gang zu bringen, 2) zu veranlassen, dass die in der Schuldfrage tätigen deutschen Verbände sich zu ei- ner Arbeitsgemeinschaft zusammenschlössen.

Beides ist geschehen. Sowohl bei der Zentralstelle wie bei dem Ausschuss deutscher Verbände besteht die grösste Bereitwilligkeit, nach den Weisungen des Amtes zu ar- beiten; leider ist aber aie Unselbständigkeit derartig, dass ohne solche bis ins einzelne gehende Weisungen nichts geschieht. Tatsächlich naben beide Stellen in den 4 W o - chen ihres Bestehens nicht das mindeste geleistet.

D e r Referent hatte während der G r ü n d u n g der Zentralstelle und des Ausschusses na- turgemäss aus der an sich gebotenen Reserve etwas heraustreten müssen, sich aber, so- bald die Gründungen perfekt waren, sofort wieder zurückgezogen und auf wenige Winke f ü r die Tätigkeit beider Stellen beschränkt1 0 2. D a bei diesem Verhalten wie ge- sagt auf ein Ergebnis nicht zu rechnen ist, wird geneigte Weisung erbeten, ob der Re- ferent sich wieder aktiv betätigen soll. Dies würde im Augenblick am besten dadurch geschehen, dass der Zentralstelle f ü r die von ihr auszuarbeitenden Aufzeichnungen, Rededispositionen usw. und dem Ausschuss deutscher Verbände für die V e r w e n d u n g dieses Materials bestimmte Vorschläge gemacht würden. Erhalten die beiden Stellen keine Weisungen und wird also das bestehende Bedürfnis nach einer lebhaften Erör- terung der Schuldfrage nicht durch sie befriedigt, so muss damit gerechnet werden, dass in ganz kurzer Zeit private Stellen die Arbeit übernehmen. Diese w ü r d e n voraus- sichtlich vom Amt viel weniger leicht zu beeinflussen sein.«103

Das Schuldreferat mußte also seine von ihm eingesetzten Helfer anfangs selbst soweit einweisen und anleiten, daß sie in der Lage waren, nach außen wenigstens einigerma- ßen »selbständig« aufzutreten. Tatsachlich hat noch 1923 »das Schuldreferat f ü r den Arbeitsausschuß Deutscher Verbände ein Flugblatt >Das Geheimnis von Poincares Politik< verfaßt, das in deutscher und englischer Sprache verbreitet wurde«1 0 4. Nach einer gewissen Anlaufzeit funktionierten aber beide Organisationen, allen gelegentli- chen persönlichen Reibungen zwischen ihnen zum T r o t z , insgesamt im Sinne des Auswärtigen Amtes. Die Arbeitsteilung war klar — »Zentralstelle« f ü r »wissen- schaftliche« Publikationen und Außenpropaganda, »Arbeitsausschuß« f ü r die direkte Binnenpropaganda im Reich.

D e r »Arbeitsausschuß« genoß eine regelrechte Mischfinanzierung: Er erhielt Zuwen- dungen der deutschen Wirtschaft, u. a. mit einer »Kampfspende gegen Kriegsschuld- lüge und Versailler Diktat«1 0 5, zu der das Büro des Reichspräsidenten, wenn nicht gar Reichspräsident v. Hindenburg selbst, wenigstens 1925 R M 500,— beisteuerte, wes- halb der »Arbeitsausschuß«, dessen Geschäftsstelle die »Kampfspende« organisierte, f ü r 1926 um eine Wiederholung der Spende bat1 0 6. Ende 1927 bat die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in einem Rundschreiben an die in ihr zusammen- geschlossenen Arbeitgeberverbände um eine Spende für den »Arbeitsausschuß«, dem schon mit R M 50,— pro Verband finanziell geholfen wäre1 0 7. H i n z u kam ein laufen- der Zuschuß vom Auswärtigen Amt von R M 20 000,—, was den Reichsverband der

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Deutschen Industrie ermutigte, für 1926 noch einmal einen einmaligen Sonderzu- schuß über gleich R M 100 000,— zu beantragen1 0 8. Der »Arbeitsausschuß« durfte sich gar 1926, zusammen mit anderen Verbänden, an einer Lotterie beteiligen109. 1932 be- lief sich der monatliche Zuschuß des Auswärtigen Amtes auf R M 3000,— monatlich, also R M 36 0 0 0 , - jährlich110.

Die »Zentralstelle« erhielt um 1930 einen jährlichen Zuschuß von R M 84 000,—, wor- aus auch die jährlichen Kosten für die »Berliner Monatshefte«1 1 1 bestritten wurden1 1 2. Generell läßt sich die Tätigkeit des Schuldreferats als direkte oder indirekte Steue- rung der deutschen Kriegsunschuldkampagne zusammenfassen, vor allem durch Lan- cierung oder Förderung von Publikationen der verschiedensten Art — von der »Gro- ßen Politik« über »Enthüllungs«-Dokumentationen1 1 3 und Broschüren bis zu buch- stäblich ungezählten Artikeln (teilweise vom Schuldreferat bezahlter Autoren) — vor allem mit Hilfe der »Zentralstelle« und des »Arbeitsausschusses«.

Die Manipulation der »Kriegsschuldfrage« begann im Grunde bereits mit der Provo- zierung der Alliierten Mantelnote durch die »Professoren-Denkschrift«. Die in der T a t extreme Position der Mantelnote ließ sich leicht »widerlegen«, ohne deshalb schon die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkrieges konstruktiv zu beantwor- ten. Die Mantelnote als beliebter Anknüpfungspunkt deutscher »Kriegsschuld«-Apo- logien hatte Nachwirkungen bei deutschen Historikern selbst noch nach 1945. An- geblich erhielt durch sie »die alliierte Kriegsschuldthese ihre . . . authentische Inter- pretation, von der es später kein Abrücken mehr gab«114. In Wirklichkeit hat kein ver- antwortungsbewußter, auf seine wissenschaftliche Reputation bedachter Historiker sie je aufrechterhalten. Abgesehen davon, daß die moralisierende »Kriegsschuld« mit ihren politischen Vergiftungen keine wissenschaftliche Kategorie mehr sein sollte, mußte der Bezug auf die Mantelnote vom 16. Juni 1919 als Ausgangspunkt die ge- samte Problematik des Kriegsausbruchs 1914 automatisch verzerren.

Darüber hinaus intervenierte das Schuldreferat in zahlreichen konkreten Fällen. Ein gutes Beispiel für die verdeckte Einflußnahme auf scheinbar wissenschaftliche Arbei- ten ist das bekannte Buch von Erich Brandenburg: V o n Bismarck zum Weltkrieg1 1 5. Ursprünglich hatte das Auswärtige Amt es bestellt, »um der Propaganda wenigstens eine Schrift in die H a n d zu geben, die die wichtigsten Tatsachen über die Vorge- schichte des Weltkrieges in kurzer und zuverlässiger Form enthält«1 1 6. O b w o h l Bran- denburg als »national« zuverlässig galt und es auch war, obwohl er durch Einsicht in die Akten des Auswärtigen Amtes, die er jedoch nicht offen zitierte, alle nur denkbare Unterstützung erhalten hatte, war das Schuldreferat über das Ergebnis alles andere als glücklich. Der Grund läßt sich nach Kenntnis der Reaktion Karl Alexander v.

Müllers nach Einsichtnahme in die deutschen Akten zur Julikrise 1914117 leicht ver- stehen. U m die deutsche Politik einigermaßen »objektiv« darzustellen, trotzdem die Entente zu belasten und seine intellektuelle Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler ei- nigermaßen zu wahren, mußte Brandenburg einen wahren Eiertanz aufführen, der das Schuldreferat bis zur Ungeduld irritierte:

»Das Manuskript des Brandenburgschen Buchs liegt nunmehr vor. Es reicht von der Entlassung Bismarck's bis zum Frühjahr 1914. Die kritischen W o c h e n sind nicht be- handelt. . . . Brandenburg vertritt die Auffassung, daß die Leiter der deutschen Au- ßenpolitik dauernd ungeschickt und kurzsichtig gehandelt hätten, jedoch ohne einen Krieg zu wünschen. Bei der Darstellung aller Krisen ist diese Unzulänglichkeit der führenden Persönlichkeiten stark betont. Fortlaufend erwähnt, aber nirgends heraus- gearbeitet, ist der Wille zum Krieg auf gegnerischer Seite.

Das Buch wird also im Ausland gegen die Behauptung von den kriegerischen Absich- ten Deutschlands benutzt werden können, es ist hingegen nicht zu gebrauchen, um Stimmung gegen Frankreich, Rußland und England zu machen; es m u ß dem deut- schen Ansehen dadurch schaden, daß es den Eindruck hervorruft, als wäre Deutsch- land jahrzehntelang widerspruchslos von einer kleinen Anzahl vermindert zurech-

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nungsfähiger Personen regiert worden. Im Inland könnte das Buch durch seine T e n - denz zwar die Selbsterkenntnis fördern, wird aber, da es lebhaften Widerspruch aus den Kreisen der früheren Regierung hervorrufen dürfte, voraussichtlich dazu beitra- gen, die Schuldfrage zum Gegenstand des Parteikampfes zu machen, was bisher ei- nigermaßen mühsam verhindert wurde.

Das W e r k enthält zahlreiche Belege aus den zur Herausgabe bestimmten Akten des Amtes und wird also die Beurteilung des Dokumentenwerkes (»Die G r o ß e Politik«, I.G.) stark präjudizieren.

Am besten wäre es, wenn das Buch nicht erschiene, jedoch wird sich dies praktisch kaum verhindern lassen, da Brandenburg alles tun dürfte, um sein Erscheinen durch- zusetzen. . . . Empfehlenswerter erscheint es dem Referenten, die direkten Zitate aus dem Aktenmaterial des Amtes möglichst zu vermindern, um dadurch die Beziehungen zu dem Dokumentenwerk zu lockern; ferner wäre Brandenburg zu bitten, ein Kapitel hinzuzufügen, in dem die kriegerischen Absichten der Gegner zusammenfassend und eindrucksvoll dargelegt werden.«1 1 9

Wenige Wochen später zum Rapport von Leipzig nach Berlin bestellt, zeigte sich Brandenburg einsichtig: Er verteidigte zwar seine Methode, denn — so die Aufzeich- nungen Delbrücks — er hielt es f ü r das beste, »wenn wir ruhig unsere Fehler zugäben, aber betonten, daß uns keine eigentliche Verschuldung treffe. N u r auf dieser Basis werde es uns gelingen, eine sichere Position gegenüber den Schuldangriffen unserer Feinde zu gewinnen.«119 Delbrück räumte zwar die generelle Vernünftigkeit dieses Grundsatzes ein, beharrte aber darauf, »daß H e r r Brandenburg denn doch unsere Fehler ganz einseitig unterstrichen habe, so daß unsere Feinde ein sehr erhebliches Kapital daraus schlagen könnten«. D e r Fehlschlag dieser Auftragsarbeit war also of- fenkundig und das bei einem so nationalen Historiker wie Brandenburg. Immerhin er- klärte sich Brandenburg bereit, sein Buch gemäß den Wünschen des Schuldreferats umzuschreiben. Es hatte also nicht geholfen, daß die deutsche Unschuldpropaganda von der eigentlichen Julikrise 1914 auf das weite Feld der weiteren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ausgewichen war, w o die Strategen der deutschen Unschuldkam- pagne eher hofften, Punkte sammeln zu können 12°.

Welche Probleme die Julikrise 1914 f ü r die deutsche Kriegsunschuldapologie aufwer- fen würde, mußte im Auswärtigen Amt schon früh bekannt gewesen sein: Bereits Ja- gows Instruktion an Fürst Lichnowsky, die am 7. Juli 1914 entworfen, aber erst am 12. Juli abgeschickt worden war, hatte das sachliche Dilemma ungewollt umrissen, denn Jagow verlangte von seinem Botschafter in London, auf die englische Presse im von Berlin gewünschten Sinne »einzuwirken, dabei aber sorgfältig (zu) vermeiden, was den Anschein erwecken könnte, als hetzten wir die Österreicher zum Kriege«121. Lichnowsky mußte mit seinem Auftrag scheitern, weil das Drängen in Wien auf den raschen Krieg gegen Serbien tatsächlich Hauptinhalt der deutschen Politik im Juli 1914 war.

Die schweren Probleme mit der eigenen intellektuellen Redlichkeit und Glaubwürdig- keit wurden immer dann besonders akut, wenn es galt, deutsches Aktenmaterial zu publizieren. Entgegen dem offiziellen siegesgewissen Pathos, das stets auf die eigenen Akten pochte und auf die Akten der »Feindmächte« hoffte, taten sich die amtlichen Stellen des Deutschen Reiches in Wirklichkeit stets äußerst schwer, wenn sie mit ih- rem eigenen Aktenmaterial herausrücken sollten. W e n n schon die verschleierte, jeder Manipulation offene Darstellung durch einen »national« zuverlässigen deutschen Ge- schichtsprofessor wie Brandenburg solche Schwierigkeiten bereitete, daß das Auswär- tige Amt das von ihm selbst bestellte »wissenschaftliche« Propagandabuch am liebsten unterdrückt hätte1 2 2, so läßt sich leicht vorstellen, wie unbehaglich es dem Auswärti- gen Amt wurde, wenn es seine eigenen Akten zur Julikrise 1914 veröffentlichen lassen sollte. So wurde eine der wesentlichen Aufgaben des Schuldreferats die interne Zen- sur und Kontrolle zur Begutachtung, ob und wieweit Aktenmaterial in welcher Form zur Veröffentlichung freigegeben wurde. N a c h dem M o t t o »Die guten ins T ö p f c h e n ,

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die schlechten ins Kröpfchen« wachte es auch darüber, daß nur die politisch richtigen Historiker an die richtigen D o k u m e n t e herankamen, während politisch Unzuverlässi- gen Einsicht in die Vorkriegsakten des Auswärtigen Amtes tunlichst verwehrt blieb.

Hashagen, Brandenburg, der Alldeutsche Richard Fester123 erhielten Material, teil- weise offensichtlich auch ohne reguläre Archivbenutzung1 2 4. Dagegen mußte G. W . F. Hallgarten mit der Archivbürokratie um fast jedes Aktenstück kämpfen, und als be- lastend angesehene Stücke blieben ihm vorenthalten1 2 5.

Als für die Weltkriegsforschung besonders wichtige Beispiele der Zensurmaßnahmen gegenüber Publikationsvorhaben wichtiger Quellen zur deutschen Reichspolitik vor und im Ersten Weltkrieg seien hier in unterschiedlicher Ausführlichkeit vorgeführt:

die amtliche Reaktion auf die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, die

»Große Politik« und die geplanten drei Dokumentenbände des 2. Unterausschusses des Untersuchungsausschusses des Deutschen Reichstags über die Ursachen des deut- schen Zusammenbruchs 1918 aus dem Jahr 1931.

Entsprechend der politischen Situation, der Interessenlage und dem eigenen politi- schen Handlungsspielraum fielen die amtlichen Eingriffe unterschiedlich aus. Die Kautsky-Dokumente wurden trotz Bedenken mit einigen Kautelen zur Absicherung 1919 freigegeben; die »Große Politik« wurde grundsätzlich befürwortet, alle 1921—27 erstellten Aktenbände waren jedoch von ständiger Kontrolle und »Zensur«

begleitet; die Publikation der drei Urkundenbände des 2. Unterausschusses wurde 1931 unterdrückt. Zum besseren Verständnis des letzten, hier besonders interessieren- den Falls trägt die Kenntnis des Vorgehens und der Wirkung in den beiden anderen Fällen bei. Das H a u p t a r g u m e n t gegenüber den Kautsky-Akten 1919 und den Kriegs- zielakten 1931 war stets dasselbe: Die Dokumente sind so belastend, daß ihr Erschei- nen am besten unterbleibt.

Zur Beurteilung der Kautsky-Dokumente zum Kriegsausbruch 1914 benötigte das Auswärtige Amt gleich zwei interne Gutachter: D e r erste, Graf O b e r n d o r f f , kam in seiner Stellungnahme zu einem Gesamturteil, das objektiv das Dilemma der deut- schen Unschuldpropaganda widerspiegelte — die logische Unmöglichkeit, den D r u c k des Deutschen Reiches auf Österreich-Ungarn zur raschen »Aktion« gegen Serbien im Juli 1914 zu rechtfertigen und gleichzeitig zu leugnen. Oberndorff betonte zwar vorsichtshalber, daß er nur einen Teil des Dokumentenmaterials in der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit durchsehen konnte, und er sich deshalb ein abweichen- des Urteil nach voller Kenntnisnahme des Materials vorbehielt. Dennoch legte er be- reits den Finger auf die w u n d e Stelle jeglicher deutscher Unschuldsbeteuerungen. Die bekannte Reaktion Wilhelms II. auf die serbische Antwortnote vom 25. Juli (Randbe- merkungen und Handschreiben an den Reichskanzler vom 28. Juli)1 2 6 war f ü r ihn zwar Widerlegung der Anklage, »dass wir den Weltkrieg zur Verwirklichung lange gehegter imperialistischer Pläne angestrebt hätten . . .« D a n n folgt aber eine Passage, die jeder deutschen Unschuldkampagne den Boden hätte entziehen müssen:

»Wenn nun die Akten zeigen, dass wir den Weltkrieg nicht gewünscht haben, ihn viel- mehr wohl zu vermeiden hofften, so lassen sie doch auf der anderen Seite deutlich er- kennen, dass es uns nicht darum zu tun war, ihn unter allen Umständen zu vermeiden.

Nach dem Bilde, das sich aus den vorliegenden Berichten und Erlassen ergibt, galt uns in jenem Augenblick die gewaltsame Demütigung Serbiens als österreichisches und damit als deutsches Lebensinteresse, dem wir alles, selbst die Gefahr eines Welt- krieges unterordnen zu müssen glaubten. Unsere Politik erstrebte die Rettung der österreichischen Stellung am Balkan; deshalb haben wir von Anfang an unzweicfeutig für die scharfe Richtung in Wien Partei genommen und es immer wieder abgelehnt, auf unsere Verbündeten mässigend einzuwirken. Dabei verhehlten wir uns nicht, dass die österreichisch-serbische Verwicklung zum Weltkrieg führen könne.

Es ist klar, dass dieses Bild, wie es aus den gesammelten Akten entgegentritt, nicht günstig wirkt und uns leicht dem Vorwurf aussetzen kann, dass wir durch unsere ei-

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gensinnig schroffe H a l t u n g in der serbischen Frage den Weltkrieg jedenfalls leichtsin- nig herbeigeführt haben, selbst wenn wir ihn nicht gerade suchten. Unseren Gegnern wäre es ein Leichtes, diesen Gedanken so aufzubauschen, dass er zu einem vollgülti- gen Schuldbeweis heranwüchse.«1 2 7

Diese Meinung, später von ausländischen Historikern (Β. E. Schmitt, L. Albertini)1 2 8

vorgetragen, galt in Deutschland als antideutsch1 2 9, von einheimischen Historikern (H. Kantorowicz, F. Fischer) als undeutsch. D e r Gutachter riet daher von der V e r ö f - fentlichung der deutschen Akten dringend ab und wies bereits den Ausweg für die spätere deutsche Unschuldkampagne:

»Das Bild, das die Akten geben, ist aber aus dem Zusammenhang gerissen und daher einseitig und trügerisch. Die Katastrophe von 1914 kann nicht als ein von der politi- schen Entwicklung der V o r j a h r e los gelöstes Ereignis gewertet werden. U m den Ent- schluss der M ä n n e r zu beurteilen, die damals Deutschlands Geschicke lenkten, muss man sich in die Mentalität zurückversetzen, die in jener Zeit in allen Staatskanzleien Europas herrschte und die sich in langjährigem, vom gegenseitigen Misstrauen erfüll- ten Ringen gegen das immer wieder auftauchende Schreckgespenst des europäischen Krieges gebildet hatte. Wir müssten uns vor allem auch die G r ü n d e ins Gedächtnis zurückrufen, die uns immer wieder an die Gefahr eines feindlichen Angriffes glauben Hessen und die auch heute noch unsere Gegner schwer belasten. V o n alledem enthal- ten die Akten nichts.«

Oberndorff hätte also im M ä r z 1919 die unbequemen Kautsky-Dokumente am lieb- sten gänzlich unterdrückt, weil sie f ü r die deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 so belastend waren. D a sich die Aktenpublikation aus innen- wie außenpolitischen Gründen doch nicht mehr verhindern ließ, zeigte Oberndorff so bereits die interne Richtung für die spätere deutsche Kriegsschuldapologie: Ausweichen auf allgemeine (natürlich nicht zu leugnende) Spannungen im Zeitalter des Imperialismus, die Ein- kreisung Deutschlands (explizit so nicht genannt) und die zumindest subjektive Be- rechtigung eines deutschen (wieder von ihm nicht so genannten) Präventivkrieges, ganz im Sinne des Gesprächs Moltke—Jagow wenige Wochen vor Sarajevo1 3 0. Bran- denburgs vom Auswärtigen Amt bestelltes und beeinflußtes Buch und die Konzeption der »Großen Politik« lesen sich geradezu wie Vollzugsmeldungen dieser Strategie.

In der Erregung über den Friedensvertrag von Versailles, als sich zugleich erwies, d a ß die Veröffentlichung der Kautsky-Dokumente doch unvermeidlich sei, wurde Mitte 1919 ein zweites Gutachten durch den Leiter des Schuldreferats Freytag erforder- lich131. Er monierte editionstechnische Mängel, die in der Endfassung zum Teil besei- tigt wurden, umriß aber auch die Spannung, in der die Dokumente würden erschei- nen müssen: Als politisches Kampfinstrument gegen Versailles sollten die D o k u m e n t e einerseits beweisen, »daß Deutschland einen europäischen Krieg nicht wollte, wenn es auch nicht bereit war, ihn um jeden Preis zu vermeiden, und daß der Krieg vermie- den worden wäre, wenn die russische Mobilmachung nicht die Krise überstürzt hätte«. Andererseits sollten sie, »bei allem Streben nach historischer Wahrheit und der bestimmten Absicht, nichts zu verheimlichen, nicht den Anschein erwecken, als wenn sie aus Opposition gegen das alte deutsche Regime die Sache der Feinde fördern wolle«. Als Kompromiß zwischen den schier unvereinbaren Prinzipien ergab sich die von Freytag empfohlene Mittellösung: Herausgabe, jedoch endgültige Fassung der Dokumente durch eine neue Kommission, ohne Kautsky ganz auszuschließen, V e r - schiebung der Aktenpublikation, so daß die Veröffentlichung der von Gooss1 3 2 edier- ten österreichischen Akten1 3 3, von denen sich die Deutschen Entlastung der deutschen Reichspolitik im Juli 1914 erhofften, noch vorher erfolgen könnte. Das Reichskabi- nett beauftragte Anfang Juli 1919 Montgelas, Hans Delbrück und den Völkerrechtler Walter Schücking mit der Endredaktion der Kautsky-Dokumente. Die Begründung zeigt, daß sich die Regierung die Argumentation des Schuldreferats zu eigen machte:

»Es besteht Einigkeit darüber, dass die Veröffentlichung dringend ist aus innerpoliti-

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sehen und aussenpolitischen Gründen, vor allem auch weil zu befürchten steht, dass die Entente auf Grund des Friedensvertrags die Herausgabe des Belastungsmaterials fordert, und unter allen Umständen vermieden werden muss, dass dann Dokumente zum Vorschein kommen, deren Verheimlichung der gegenwärtigen Regierung zum Vorwurf gemacht werden könnte. Es wird andererseits nicht verkannt, dass gerade im gegenwärtigen Moment sowohl im Inlande als im neutralen Auslande die Veröffentli- chung für die Auszuliefernden sehr schädlich wirken wird und ausserdem der Entente als Begründung für noch weiter gehende Forderungen dienen kann.«134

So waren zur Sicherheit immerhin zwei Mitglieder von Bülows Versailler »Gegen«- Kommission135 für die endgültige Publikation dazwischengeschaltet, und Bülow konnte gar noch mit seinem, dem amtlichen Quellenwerk angefügten Kommentar- band136 nunmehr für alle sichtbar die Grundlagen zur deutschen Apologie legen — mit Nachwirkungen weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus.

Innerhalb der Julikrise 1914 war »das Telegramm Szögyenys Nr. 307 . . . ein Punkt, über den wir nie ganz hinwegkommen werden«, wie Bülow aus Versailles nach Berlin schrieb137, denn dieses Telegramm des österreichisch-ungarischen Botschafters vom 27. Juli 1914 über eine Unterredung mit Staatssekretär Jagow gab zu erkennen, daß die Reichsleitung die vermittelnden Schritte Englands nach Wien nur zum Schein weitergeben würde, um sich das Wohlwollen Englands zu erhalten138.

Der dunkle, weil »der für uns belastendste« Punkt war Bülow immerhin offenbar so wichtig, daß er ihn sofort noch aus Versailles »schnell aufgeklärt sehen« wollte. Er bat darum, über den österreichischen Gesandten in Berlin, Hartmann1 3 9, rasch »Einsicht in das Original&onzepf des Telegramms Szögyeny nach Wien Nr. 307 vom 27. Juli 1914 (abends)« zu erhalten140. Da das Ergebnis offenbar enttäuschend war, entwarf Bülow später eine Formel, um den wunden Punkt elegant zu überspielen141. Bülow jedenfalls zeigte keine Lust, auf den »dunklen Punkt« von sich aus »freiwillig . . . zurückzukommen«142. Spätere deutsche Historiker wählten die peinlichere Me- thode, den 1914 zwar schon 73jährigen, bis dahin aber wegen seiner Erfahrung stets hochgeschätzten österreichisch-ungarischen Botschafter als bereits senil und nicht mehr ganz zurechnungsfähig hinzustellen143.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Amt kommentierte Bülow die Ab- sicht der Reichsregierung, »das langgeplante Weissbuch über den Kriegsausbruch144

endlich fertigstellen zu lassen« gegenüber seinem Nachfolger im Schuldreferat, Frey- tag:

»Der Zeitpunkt für die Herausgabe muss natürlich sorgfältig gewählt werden. Ich meine wegen der zahlreichen dunklen Punkte, die dabei neu ans Tageslicht kommen, sollte sie erfolgen, solange unsere Aktien noch so niedrig stehen wie jetzt, weil sie dann weniger Schaden anrichten werden. Erst wenn wir die neuen Anfeindungen überwunden haben, die auf Grund dieser Aktenveröffentlichung zu gewärtigen sind, kann der Propagandafeldzug zur Entlastung Deutschlands in der Schuldfrage mit Er- folg einsetzen, und die erste Vorbedingung für eine Revision des Friedens schaffen.

. . . Auf Grund meiner Kenntnis der Archive des Auswärtigen Amts möchte ich Sie aber darauf aufmerksam machen, dass es ungeheure Schwierigkeiten bereiten wird, den Band 1 zusammenzustellen. Es gibt keinen roten Faden in der weiteren Vorge- schichte des Krieges, den man blosslegen könnte. Auch Knotenpunkte der diplomati- schen Verhandlungen der letzten Jahre herauszuschälen wird nicht leicht sein. Durch ausgewählte Stücke Deutschland zu entlasten wäre kaum möglich, da der Verdacht mangelhafter Objektivität, den eine unvollständige Sammlung erwecken muss, schwer oder gar nicht zu widerlegen ist: Jedes Land wird immer nur durch seine eigenen Ak- ten compromettiert, das liegt nun einmal in der Natur der Sache.«145

Bülows Rat enthält bereits zwei zentrale Punkte des deutschen »Propagandafeldzu- ges«, wie er selbst dieses Unternehmen nannte: nach der unvermeidlichen, wenn auch im Augenblick peinlichen Veröffentlichung der deutschen Akten zum Kriegsausbruch 1914 — zunächst Flucht nach vorn, um später Ansatzpunkte für eine Revision von Versailles durch den künftigen »Propagandafeldzug zur Entlastung Deutschlands in

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der Schuldfrage« zu finden und, gemäß seiner eigenen Praxis, tunlichste Verschleie- rung der »zahlreichen dunklen Punkte« in den deutschen Akten. Bülows Kommentar- band zu den deutschen Akten, zumal in Verbindung mit seinen im Kriegsschuldrefe- rat hinterlassenen dokumentarischen Spuren, darf fortan als sein richtungweisender Beitrag zur deutschen Vernebelungsstrategie gelten. Es ist sicher kein Zufall, daß das Schuldreferat, in Zusammenarbeit mit Dr. Eugen Fischer vom Parlamentarischen U n - tersuchungsausschuß, das kritische Gutachten von H e r m a n n Kantorowicz f ü r die Weimarer Republik endgültig zu Fall brachte, als Bülow Staatssekretär im Auswärti- gen Amt war. Erst recht paßt dazu die Unterdrückung der drei geplanten U r k u n d e n - bände zur deutschen Kriegszielpolitik im Jahre 1931.

Kürzer läßt sich die Befassung des Schuldreferats mit der »Großen Politik« abhan- deln: Die »Große Politik« galt als Kernstück wissenschaftlicher Bemühungen durch das Auswärtige Amt, mit dem Ziel, Quellenmaterial f ü r die Revision des Versailler Vertrags zu liefern146. Gemäß der von Oberndorff im M ä r z 1919 intern formulierten Gesamtstrategie, die früheren Kriegsgegner auf das weite Feld der Vorkriegsge- schichte im Zeitalter des Imperialismus zu ziehen147, war das Auswärtige Amt am Er- scheinen der »Großen Politik« grundsätzlich interessiert, wachte aber darüber, daß

die hierdurch der Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangenden Dokumente politisch un- bedenklich waren. In diesem Zusammenhang fiel intern zur Charakterisierung der ei- genen Kontrollarbeit zumindest zweimal das W o r t »Zensur«148. Das Erscheinen der berühmten »Großen Politik« unter Oberaufsicht und Zensur des Schuldreferats er- klärt schon fast hinreichend die insgesamt apologetische Schlagseite dieses wichtigen Quellenwerkes, die einer aufmerksamen Kritik, teils nur aus inneren Kriterien, teils aber aus praktischen Erfahrungen mit der Archiv-Zensur im Auswärtigen Amt (Hall- garten) schon früher aufgefallen war149.

Gleichsam zum Ausgleich f ü r das Zugeständnis, daß die Dokumente überhaupt er- schienen, fiel ihre Anordnung so unübersichtlich aus, daß schon wieder ein mehrbän- diger Leitfaden durch das Aktenlabyrinth erforderlich wurde1 5 0, den Schwertfeger, ein »Experte« in der »Kriegsschuldfrage« im Dienste des Schuldreferats, lieferte.

Schon die Beschränkung nur auf die Bestände des Auswärtigen Amtes, also unter Aussparung der Akten der Reichskanzlei oder militärischer Behörden, begrenzte den Blick auf nur einen, wenn auch freilich zentralen Ausschnitt der politischen Realität.

Die unübersichtlich systematische Anordnung führte manchmal zur Zerstückelung wichtiger Dokumente und Verteilung auf verschiedene Kapitel. Wichtige D o k u m e n t e blieben dem Leser dadurch vorenthalten und tauchten erst später in der jüngeren Spe- zialforschung gestückelt wieder auP51. T r o t z d e m bleibt natürlich die »Große Politik«

eine wesentliche Grundlage f ü r die Forschung. Sie kann sich aber nicht auf die Akten- ausgabe allein verlassen, sondern muß stets um Überprüfung und Ergänzung im Ar- chiv des Auswärtigen Amtes bemüht sein.

Nach diesen amtsinternen Präzedenzfällen für die gutachterliche U b e r p r ü f u n g von zur Veröffentlichung vorgesehenen Dokumenten zur deutschen Reichspolitik vor und im Ersten Weltkrieg läßt sich der Vorgang im Jahre 1931 erst richtig würdigen, auf den es hier eigentlich ankommt. In der Endphase der Weimarer Republik, in der das Auswärtige Amt hinter den Kulissen frei und souverän entscheiden konnte, traf die »Zensur« nicht mehr nur einige Namen, Teile von Dokumenten oder ganze Ak- tenstücke: In einer Atmosphäre des wachsenden Rechtsdrucks in der Weltwirtschafts- krise bewirkte das Schuldreferat — jetzt mit seinem ersten Referatsleiter Bülow als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes — das Nichterscheinen des unbequemen D o k u - mentenmaterials.

Als Abschluß seiner Arbeit seit 1919 hatte der Parlamentarische Untersuchungsaus- schuß des Reichtstages durch seinen Generalsekretär Dr. Eugen Fischer am 30. Ja-

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nuar 1931 das Ergebnis des 2. Unterausschusses dem Schuldreferat zur P r ü f u n g vor- gelegt: fünf Manuskriptbände mit Dokumentierung der bisher vertraulichen Sitzun- gen des 2. Unterausschusses über die Friedensmöglichkeiten im Weltkrieg, in zwei weiteren (schon gesetzten und umbrochenen) Bänden die öffentlichen Sitzungen.

H i n z u kamen drei U r k u n d e n b ä n d e mit zum größten Teil bisher unveröffentlichten Quellen/Fischer empfahl die Veröffentlichung auch des bis dahin vertraulichen Mate- rials und machte nur auf einige untergeordnete Bedenken aufmerksam: Stellung des Vatikans, Österreichs und des Reichspräsidenten Hindenburg1 5 2.

Das Schuldreferat beauftragte Wilhelm Schaer von der Geschäftsstelle des vom Aus- wärtigen Amt ohnehin abhängigen »Arbeitsausschusses deutscher Verbände« mit ei- nem Gutachten, das Mitte August 1931 vorlag153. Es bildete offenbar die einzige und ausschlaggebende Grundlage für den Entschluß, die drei Quellenbände nicht zu ver- öffentlichen, mit Argumenten, die sich, zumal im Lichte der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der Forschungen Fritz Fischers und der sich anschließenden Fischer- Kontroverse dreifach instruktiv lesen. Das Gewicht des Gutachtens läßt sich auch nicht durch den Verweis auf die sonst historisch unbedeutende Stellung seines Autors verringern: Das Auswärtige Amt und damit das Deutsche Reich identifizierte sich mit Schaers Votum1 5 4. Die Manuskriptbände gingen an den Reichstag zurück und müs- sen seitdem als verloren gelten. Vielleicht lassen sie sich aber bei genauer Durchsicht der Reichstagsakten doch noch irgendwo im Deutschen Zentralarchiv Potsdam auf- finden. Immerhin erwähnt das Gutachten von Schaer einige in den Aktenstücken be- handelte Komplexe, so daß es wenigstens nachträglich möglich wird, einen Teil wie- der zu rekonstruieren, unter Verweis auf die Darstellung bei Fritz Fischer sowie auf die dreibändige Quellenpublikation Scherer/Grunewald1 5 5.

Das Gutachten spricht für sich, gewinnt aber besondere Bedeutung durch die Fischer- Kontroverse eine Generation später. Schaer behandelte zunächst die von Dr. Eugen Fischer selbst genannten Bedenken als sekundär und bezeichnete die Komplexe, die in der T a t problemlos waren, weil die Materialien entweder nicht mehr neu oder nur von untergeordneter Bedeutung seien: Kompromittierung noch lebender Persönlich- keiten (von denen einige N a m e n ohnehin schon stillschweigend vorbeugend getilgt worden waren), Friedensfühler mit Rußland und Frankreich, Sixtus-Affäre, päpstli- che Friedensaktion.

Ganz in den Mittelpunkt seiner Argumentation rückte Schaer die politische Rolle des deutschen Militärs in der zweiten H ä l f t e des Ersten Weltkrieges. Das Gutachten er- hebt grundsätzliche Bedenken zur Behandlung der deutschen Kriegsziele durch die Dokumentenbände, vor allem der 3. O H L unter H i n d e n b u r g / L u d e n d o r f f :

»Der jetzige Reichspräsident, der in den Augen der ganzen Welt heute grosse Ach- tung geniesst und in der deutschen Aussenpolitik ein beträchtliches Aktivum bildet, hat als oberster H e e r f ü h r e r Schriftstücke unterzeichnet, deren Veröffentlichung ge- waltiges Aufsehen erregen würde. Er hat sie zwar bestimmt nicht selbst angefertigt, das ändert aber an der Tatsache seiner Unterschrift und damit seiner Verantwortung für den Inhalt nichts.

Ich verweise hierbei zunächst auf die Kriegsziele der Obersten Heeresleitung im Band 2, S. 332/34 und 518/201 5 6 sowie die Kreuznacher Besprechungen vom 24.157

April 1917158, Band 2, S. 544/49. Sodann auf seinen Schriftwechsel mit Bethmann- Hollweg und hier namentlich auf die Randbemerkungen zum Schreiben Bethmanns auf S. 690/93, Band 3, sowie endlich auf die Kreuznacher Besprechungen vom 9. Au- gust 1917159, S. 773/81 Band 3, denen sich mit noch verrückteren Ideen diejenigen vom 7. Oktober1 6 0 S. 9 1 5 / 2 7 und 931/32 Band 3 anschliessen. Was man namentlich bei den letzteren Besprechungen mit dem Bundesgenossen Oesterreich vorhatte,, grenzt doch schon an Verrat, wie man sich auch zu der T r e u e desselben stellen mag.

Die französische Propaganda für die »geheiligten« Reparationen würde sich wohl freuen, wenn sie den Reichspräsidenten als Kronzeugen anführen könnte. D e n n et- was anderes ist doch wohl aus den Seiten 437, 489 und 519, Band 2 nicht herauszule-

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sen, als dass die Zerstörungen bei der Zurücknahme der deutschen Front gänzlich sinn- und zwecklos waren und nur um der Zerstörung willen gemacht wurden.

Ich kann aus den Akten nicht zu dem Urteil des II. Unterausschusses kommen, wo- nach die Politik der Heeresleitung nicht einen möglichen Frieden verdorben oder aus- geschlossen habe. Das ist doch nur bedingt der Fall und nur in der belgischen Frage, in der die Oberste Heeresleitung Mitte 1917 zwar zum Verzicht auf die flandrische Küste und auf eine offene Annexion bereit war, wenn dieser Verzicht bis Ende 1917 zum Frieden führen würde161. Im Gegenteil hat doch dann Hindenburg am 13. De- zember 1917 alle Konzessionen wieder zurückgezogen und sich auf die Kreuznacher Abmachungen versteift162. Band 3, S. 970.

Ganz unverständlich ist mir das Argument Fischers, dass die Wirksamkeit des Feld- marschalls von Hindenburg einer abgeschlossen(en) Epoche angehört. Ich glaube kein Wort darüber verlieren zu brauchen, dass wir in der mit dem Jahre 1914 ange- brochenen Epoche noch längst nicht am Ende sind.

Eine vorherige Fühlungsnahme mit Wien (mit Sofia halte ich nicht für notwendig) wäre m.E. angesichts der auch nicht gerade bescheidenen Kriegsziele der Donau- monarchie unbedingt notwendig. Es war doch schliesslich ein ziemlich starkes Stück, dass dieses ohnehin an einem Dutzend Völkerstämmen krankende Habsburger Reich sich noch einige weitere einverleiben wollte und überhaupt aus dem Kriege nicht gross genug hervorgehen konnte, trotzdem man bei Ausbruch des Krieges in Wien alle Eide schwor, keinerlei Annexionspolitik zu treiben, sondern nur zur Verteidigung den Krieg zu führen. Auch der deutsch-österreichische Streit um Polen und Rumä- nien, der das Gegenteil eines schönen beiderseitigen Einvernehmens zeigt, kann wohl kaum ohne Zustimmung Wiens veröffentlicht werden. Allerdings dürfte den Oester- reichern das vorher erwähnte Protokoll von Kreuznach nicht in die Hände geraten.«

Besonders empörte sich Schaer über den Einfluß der deutschen Schwerindustrie, re- präsentiert durch den politisierenden Hugo Stinnes, in der Kriegszielfrage:

»Geradezu toll sind die Ansichten von Stinnes163 über einen Sonderfrieden mit Ruß- land S. 62/63, Band 1 und mit Italien S. 408, Band 2. Es zeigt sich hier, wenn auch nur in der Person von Stinnes, der Einfluß der deutschen Schwerindustrie, in der Ver- folgung eines Kriegszielprogramms, das jeden Friedensversuch im Keime ersticken müßte.«

Aufschlußreich sind Schaers Bemerkungen zur zentralen Stellung der »Halbgötter« in der 3. OHL, der politisierenden Generalstabsoffiziere Bartenwerffer164, Nicolai165 und Bauer166:

»Eines scheint heute festzustehen und ist mir auch durch General von Haeften1 6 7, den Verbindungsoffizier zwischen Reichsleitung und Oberster Heeresleitung, bestätigt worden. Nicht Hindenburg oder Ludendorff waren die unentwegtesten Vertreter ei- nes Siegfriedens, sondern diese hinter ihnen arbeitenden Obersten. Nur haben jene ih- ren Namen hergegeben und ihr Gewicht in die Waagschale geworfen.«168

Anschließend führte Schaer ein eher formales Argument gegen die geplante Doku- mentenveröffentlichung ins Feld, das bei ihm aber auch inhaltliche Qualität gewann:

»Zur Frage des bisher Bekannten und Veröffentlichten habe ich zur Nachprüfung so ziemlich alle Literatur, wenigstens die deutsche, durchgesehen, die darüber etwas bringen könnte. Und es ist auch in der Tat inzwischen sehr viel bekannt geworden, sowohl im Wortlaut als auch auszugsweise. Jedoch scheint mir heute noch eine grund- sätzliche Betrachtung angezeigt. Es ist etwas ganz anderes, ob ich im Laufe von 10 Jah- ren brocken- und tropfenweise hier und da in der Literatur etwas gelesen habe, das mir heute längst aus dem Gedächtnis entschwunden ist, oder ob mir heute durch eine derartige, zudem noch amtliche, Veröffentlichung ein lückenloses Bild der ganzen deutschen Kriegszielfrage gegeben wird. Ich glaube kaum, dass heute noch sich ir- gend jemand die Mühe macht, alle die von mir durchgesehenen Veröffentlichungen auf Kriegsziele hin durchzuprüfen.«

Erst recht bedenklich fand Schaer die Bekanntgabe von »noch nicht veröffentlichten Urkunden«, vor allem »über die deutschen Kriegsziele«:

»Hier wird dem Grundsatz gehuldigt, daß Deutschland und Preußen alles nachholen müsse, was sie in den letzten 60 oder 100 Jahren versäumten. Man stelle diese Kriegs- ziele dem Vertrag von Versailles gegenüber und ich glaube, der letztere kommt noch gut dabei weg. Ein Stück aus dem Tollhaus ist doch hier das Programm des Kai- sers.« 169

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