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Kommunikation ist Teilhabe. Teilhabe ist Kommunikation

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„Kommunikation ist Teilhabe. Teilhabe ist Kommunikation“

Keynote von Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, bei der Tagung "Barrierefreie Kommunikation" anlässlich der Eröffnung des

gleichnamigen Masterstudiengangs an der Universität Hildesheim (18. Oktober 2018)

Liebe Frau Prof. Dr. Maaß, liebe Studierende, liebe Anwesende,

herzlichen Dank, dass Sie mich zu Ihrer Tagung im Rahmen der Eröffnung des neuen Studienganges „Barrierefreie Kommunikation“ eingeladen haben! Es ist mir eine große Ehre, denn ich darf hier vor Menschen sprechen, die Pioniere sind,

Menschen, die den Zeitgeist erkannt haben und die Gesellschaft voranbringen wollen.

Was jetzt ein bisschen nach Goldgräberstimmung klingt, ist aber natürlich immer noch einem kleinen Kreis vorbehalten, der sich des Themas barrierefreie

Kommunikation angenommen hat und die Notwendigkeit und auch den Wert erkannt hat.

Warum ist das eigentlich so? Und was macht barrierefreie Kommunikation eigentlich aus? Darüber will ich heute gemeinsam mit Ihnen ein bisschen nachdenken.

Barrierefreie Kommunikation als gesamtgesellschaftliches Thema ist eng mit der Entwicklung der Barrierefreiheit insgesamt verbunden – wenn auch zeitlich versetzt.

Ungeachtet der Tatsache, dass einzelne Kommunikationsformen, wie beispielsweise die Gebärdensprache, schon sehr lange existieren, ist Barrierefreiheit und auch barrierefreie Kommunikation ohne die in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufkeimende Emanzipationsbewegung von Menschen mit Behinderung kaum denkbar. Das Streben nach Teilhabe hat in Deutschland hier seinen Ursprung.

Barrierefreiheit wurde seitdem als wesentliche Voraussetzung für ein Leben inmitten der Gesellschaft gesehen, wenngleich zunächst vornehmlich als physische

Barrierefreiheit verstanden. Vielleicht liegt hierin begründet, warum barrierefreie Kommunikation als gesellschaftliches Thema erst deutlich später eine Rolle spielte.

Als mit dem Behindertengleichstellungsgesetz 2002 und dem ein Jahr zuvor verabschiedeten SGB IX der so genannte Paradigmenwechsel in der

Behindertenpolitik eingeleitet wurde – also weg von der Fürsorge und Versorgung

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und hin zur selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – spielte das Thema Kommunikation allerdings schon eine beachtliche Rolle.

Mit der Definition von Barrierefreiheit in § 4 BGG, der Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache sowie drei, die Kommunikation betreffende Verordnungen wurde deutlich, dass Barrierefreiheit eben nicht nur die gebaute Umwelt betrifft.

Seitdem wurden die genannten Gesetze und Verordnungen mehrfach zum Positiven verändert. Ich erinnere nur an die Aufnahme der Leichten Sprache. Der Adressat, nämlich in erster Linie die Bundesbehörden, blieb aber gleich.

Parallel dazu entwickelte sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention seit 2006 weltweit eine Sicht auf Behinderung und auf Menschen mit Behinderung, die weit über den bestehenden rechtlichen Rahmen hinausweist. Grundlegend ist die Erkenntnis, „dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht“. Aber auch der Beitrag, den Menschen mit Behinderung im Hinblick auf die Vielfalt einer Gesellschaft leisten, wird gewürdigt. Und schließlich lässt die Konvention keinerlei Grenzen mehr erkennen, wenn sie von der „vollen Teilhabe“ spricht. Damit aber steht aus meiner Sicht der gesellschaftliche Diskurs darüber, was volle Teilhabe ausmacht, erst am Anfang.

Ich will versuchen, das am Beispiel der Kommunikation zu verdeutlichen. Durch Kommunikation ist es Menschen seit jeher möglich, an sozialen und

gesellschaftlichen Entwicklungen teilzuhaben. Teilhabe bedeutet nach einer Definition der WHO das „Einbezogensein in eine Lebenssituation“.

Dieses Einbezogensein in eine Lebenssituation ist weit, weit mehr als ein Rechtsanspruch auf Kommunikation in einer bestimmten Situation in einem

zugänglichen Format. Denn es ist doch mitnichten so, dass die Interaktion zwischen Menschen, gleich welche kommunikative Beeinträchtigung vorliegt, in Echtzeit funktionieren würde.

Lassen Sie mich dies an einem banalen Beispiel erläutern. Stellen Sie sich vor, Sie möchten mit der Bahn von A nach B kommen. Am Bahnhof stellen Sie fest: Der Zug fällt aus, mehr Informationen bekommen Sie nicht. Was werden Sie tun? Sie fragen sich durch, bis Sie wissen, wo der nächste Zug abfährt. Sie kommunizieren, fragen:

Mitreisende, Bahnmitarbeiter, Schaffner. Soweit so einfach. Aber nicht für jeden Menschen.

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Denn vielen bleibt der direkte Weg dieser gesellschaftlich gelernten und gelebten Kommunikation verwehrt: Menschen, die nur Gebärdensprache sprechen, Menschen, die mit geistigen oder psychischen Einschränkungen leben, Menschen, die aus

anderen Ländern kommen und nicht so gut Deutsch sprechen.

Für sie kann es eine sprachliche oder emotionale Hürde sein, mit anderen Menschen in Kommunikation zu treten, um Informationen zu erhalten. Sie können selbst nicht an der Kommunikation teilhaben, die für die Zugänderung nötig wäre. Anschluss verpasst.

Unser gesamtes gesellschaftliches System beruht auf verschiedensten

Kommunikationswegen und Kanälen. Ob wir uns in einer Bar kennenlernen oder beim Tanzen verliebte Dinge zuflüstern, mit dem Mitarbeiter vom Amt streiten, an der Supermarktkasse den Preis erfragen:

Jeder Mensch hat die Möglichkeit, so zu kommunizieren und dabei andere Menschen kennenzulernen und das Leben mit ihnen zu teilen, wie er oder sie es möchte – wenn er oder sie denn die Sprache spricht und in der Lage ist, an allgemeiner gesellschaftlicher Kommunikation teilzuhaben.

Warum sollte das a) bei Menschen mit Behinderung nicht genauso sein und b) warum wird diese kommunikative Teilhabe Menschen mit Behinderung oft verwehrt?

Es gibt doch überhaupt keinen Grund dazu. Außer man versteht den

Zusammenhang von Kommunikation und Teilhabe nur in Grenzen von Bedarf und Angemessenheit.

Was nur zu oft der Fall ist. Denn als Grundlage barrierefreier Kommunikation gelten oft Gesetze und Verordnungen mit den dazugehörigen Adressaten. Darin wird beispielsweise auch der behördliche Umgang mit Leichter Sprache je nach Anforderungslage geregelt, auf Verlangen.

Wenn man sich so einen Vorgang mal praktisch vorstellt: Jemand möchte einen Bescheid in Leichter Sprache erklärt bekommen, die Behörde setzt dies um. Aber was passiert dann mit Nachfragen oder gar einem persönlichen Treffen in der Amtsstube? Wie viel Empathie muss ein Behördenmitarbeiter mitbringen, um sich auf die Lebenssituation und die Kommunikationsfähigkeiten beispielsweise eines Menschen mit kognitiven Einschränkungen einzustellen? Wie soll er in der direkten Kommunikation und außerhalb des Bescheides in Leichter Sprache mit ihm

bedarfsorientiert kommunizieren?

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Es stellen sich hier doch ganz klar nicht nur Fragen des Regelungsbedarfes, sondern auch der individuellen Fähigkeit jedes einzelnen Menschen, mit unterschiedlichen Kommunikationsfähigkeiten umgehen zu können.

Man muss an dieser Stelle natürlich auch sagen: Gut, dass es überhaupt

Verordnungen und Gesetze gibt, die den Trägern öffentlicher Gewalt vorgeben, was sie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland tun müssen.

Aber dieser Rahmen ergibt noch lange keine gesellschaftliche Akzeptanz auf allen Ebenen, was auch immer wieder dadurch sichtbar wird, dass die Privatwirtschaft von diesen Gesetzen weitgehend ausgenommen ist.

Offene Grenzen, die jedem alles ermöglichen, sind – bisher – nicht vorgesehen und werden im Großen und Ganzen noch nicht einmal angedacht.

Müsste die Kommunikation für Menschen mit Behinderung aber nicht von vornherein so gedacht werden, dass sie ohne Einschränkungen und von Anfang an mittendrin sein und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können? Um beim Behördenbeispiel zu bleiben: Wie sensibilisiert müssen Menschen sein, dass sie Kommunikation als Teilhabe verstehen und dann eben auch unterschiedliche Bedürfnisse einschätzen können?

Wenn für alle Menschen Kommunikation eine wesentliche Dimension von Teilhabe darstellt, dann ist es das Recht von Menschen mit Behinderung, dass diese in unserer Gesellschaft auch barrierefrei gelingt. Es gibt eine Menge an Instrumenten für die Durchführung barrierefreier Kommunikation wie z.B. die Leichte Sprache, Gebärdensprache, Braille-Schrift, barrierefreie Dokumente usw.

Für viele Menschen mit Behinderung sind diese Werkzeuge oft die einzigen Mittel und Wege, um sich zu verständigen. Ein gehörloser Mensch, der im Wesentlichen nur die Gebärdensprache beherrscht, ist in nahezu jeder Lebenssituation auf die reine Kommunikation in seiner Sprache angewiesen. Ein Mensch mit kognitiven Einschränkungen braucht eine Form von Leichter Sprache, um mit

Behördenmitarbeitern kommunizieren zu können und auch komplizierte Sachverhalte in Echtzeit verarbeiten zu können. Und nicht erst, wenn er dafür Bedarf angemeldet hat. Und ein blinder Mensch sollte jeden Kaufvertrag Screenreader-tauglich vorgelegt bekommen, damit er seine Geschäftsfähigkeit eigenständig ausüben kann und nicht erst eine Assistenz zum Vorlesen braucht.

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Barrierefreie Kommunikation darf also nicht rein auf den rechtlichen Rahmen und die damit verbundenen Techniken reduziert werden, denn das Recht auf Teilhabe gilt ja, wie für alle Menschen, auch für Menschen mit Behinderung 24 Stunden am Tag.

Es ist daher wichtig zu verstehen, dass barrierefreie Kommunikation nicht nur das Erlernen von Instrumenten wie Leichter Sprache oder Gebärdensprache und ihre Anwendung im rechtlich geregelten Bereich ist. Denn ein Bescheid in Leichter

Sprache beispielsweise macht im Leben eines Menschen, der darauf angewiesen ist, vielleicht 10 Minuten des Tages aus. Was ist aber mit den restlichen 23 Stunden und 50 Minuten?

Es geht darum zu verstehen, dass barrierefreie Kommunikation eine Einstellung ist, die Sie und mich doch eigentlich den ganzen Tag beschäftigt, nämlich bei der Frage:

Ist Teilhabe mit einem Bescheid in Leichter Sprache getan? Da sage ich: Nein. Wenn Menschen beim Thema Kommunikation darauf reduziert werden, ihnen beides nur dann zukommen zu lassen, wenn es einen Anlass gibt, bleibt Ihnen die Teilhabe im Sinne einer freien Entscheidung natürlich verwehrt. Auch hier gilt dann: Anschluss verpasst.

Ich möchte Sie deshalb an dieser Stelle ermutigen, sich als Lehrende und Studierende des Studiengangs Barrierefreie Kommunikation nicht nur mit dem Erforschen und Erlernen von Instrumenten der barrierefreien Kommunikation zu befassen. Es geht doch vielmehr darum, das Feld der barrierefreien Kommunikation als das zu begreifen, was es ist: Selbstbestimmtheit und Teilhabe, Wahl und

Auswahl, Abwägen und Entscheiden. Und zwar für alle, 24 Stunden am Tag.

Barrierefreie Kommunikation ist mehr als ein technisches Hilfswerk oder eine Krücke zum Verständnis und Informationsaustausch. Nehmen Sie sich deshalb vor, über den Tellerrand zu schauen und sich selbst nicht auf Ausführende von technischen Hilfsmitteln zu reduzieren. Lassen Sie aus barrierefreier Kommunikation umfassende Teilhabe entstehen.

Wenn Teilhabe der Maßstab ist, sind aus meiner Sicht bislang weder die

unterschiedlichen Dimensionen noch die Grenzen barrierefreier Kommunikation hinreichend erkennbar. Eine wunderbare Ausgangssituation für einen neuen Studiengang.

Vielen Dank!

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