Integration aus dem Langzeitbezug – aus unwahrscheinlichen Fällen der Erwerbsintegration lernen
Aktuelle Herausforderungen im Jobcenter
Fachtagung Deutscher Verein, Berlin, 13.09.2018
Andreas Hirseland
(FB Erwerbslosigkeit und Teilhabe)
Andreas Hirseland Berlin
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden
sind
(Albert Einstein)
Ausgangspunkt: Langzeitarbeitslosigkeit (%)
3
3.890.000
4.861.000
3.259.000
3.415.000
2.691.000
1.454.000
1.864.000
1.138.000
993.000
37,4% 36,2%
46,1%
33,3% 36,9%
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Arbeitlose Langzeitarbeitslose Relativer Anteil LZA
Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2017
Andreas Hirseland Berlin 13.09.2018
Vermittlungshemmnisse
PASS (Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherheit): Regelmäßige repräsentative Befragung von ca. 10.000 Haushalten (ca. 15.000 Befragte)
„Hemmnisse“ für den Übergang in bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit (Achatz und Trappmann 2011, Beste und Trappmann 2016)
‐ Gesundheitliche Einschränkungen
‐ Fehlende Schul- und Ausbildungsabschlüsse
‐ Sprachdefizite
‐ Alter >50
‐ Mutterschaft / Pflege
Vermittlungshemmnisse als Marktbenachteiligung
5
Selbstverstärkender Prozess („Teufelskreis“)
‐ Entwertung von Qualifikationen und berufsbezogenen Kompetenzen über die Zeit
‐ Wachsende Bedürftigkeit führt zur Angewiesenheit auf / Abhängigkeit von Transferleistungen (Verstetigung Hartz IV)
‐ „faule Arbeitslose“? Dequalifizierte Arbeitslose? Entmutigte / deprivierte Arbeitslose?
‐ Stigma LZA/LZB? negative/skeptische Beurteilung
„Diskriminierung“ (riskante Personen? Einstellung als Risiko für das Unternehmen?)
Andreas Hirseland Berlin 13.09.2018
Kumulation von Vermittlungshemmnissen
5
17
32
30
12
4
0 5 10 15 20 25 30 35
0 1 2 3 4 5 6 bis 8
Anzahl der Hemmnisse
Prävalenz (%) (Beste/Trappmann 2016) Andreas Hirseland
Übergangschancen nach Anzahl der Hemmnisse
7
5
17
32
30
12
4 32
18
8
4
2
0 0
5 10 15 20 25 30 35
0 1 2 3 4 5 6 bis 8
Anzahl der Hemmnisse
Prävalenz (%) Übergangswahrscheinlichkeit (%)
(Beste/Trappmann 2016)
Andreas Hirseland Halle, 04.05.2018
Unerwartete Übergänge: Methodisches Vorgehen
PASS (2014): nur 3,8% (n=66) der LZA mit mindestens 2 weiteren Hemmnissen haben Übergang in bedarfsdeckende Arbeit geschafft
Qualitative Fallstudien:
‐ Welche sozialen Mechanismen und Prozesse haben zu diesen „unerwarteten Übergängen“ beigetragen? „Bedingungen der Möglichkeit“
‐ 33 qualitative Intensivinterviews
‐ Einzelfallrekonstruktionen Systematische Fallvergleiche fallübergreifende Muster
Längsschnittlich-relationale Perspektive
subjektive Faktoren (Biographie)
situative Gegebenheiten / Kontexte
Prozessbeteiligte (relevante Andere / Netzwerke / Qualität der Beziehungen)
Handlungsweisen und soziale Prozesse
9
... Wege zur Arbeit
Andreas Hirseland Berlin 13.09.2018
Erste Befunde: Fallübergreifende Muster
Mischformen
‚Patronage‘ (Bürgschaft von Dritten)
Eigeninitiative (‚Befreiungsschlag‘
bzw. ‚Coup‘)
Netzwerknutzung (Regelwissen) individualisierte
Vermittlung
Ausleuchten der „Black Box“:
Diachrone Rekonstruktion (Beispiel)
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1969-1989 1990-2001 2001-2013 ab 2013-2015
Ereigni s ebene Ak teurseb ene
Fach- arbeiterin für Lager- wirtschaft
Umschulung zur Verkäuferin
Arbeit im Verkauf und
Lager
Tochter
Arbeitslosigkeit
Qigong Leitung Qigongkurs
Umschulung Pflege- assistentin
Betreuungs- kraft im Seniorenheim
Vater der Tochter
Arbeits- beraterin
Neuer Arbeitsberater
Freund
„Chefin“
Ausbilder
Frau eines Freundes des Vaters der Tochter
Andreas Hirseland, Halle, 04.05..2018
... und am Arbeitsplatz?
Arbeitsverhältnisse begründen:
Beziehungsstrukturen
Andreas Hirseland
Berlin 13.09.2018 13
„Und da hat man sich gesagt: ‚Du gehst jetzt einfach hin.
Irgendwie kriegst Du das hin‘. Und dann auch, wie ich da hin gekommen bin – ich mein, es war kalter Februar – sagt er [AG]: ‚Wollen Sie einen Kaffee haben?‘ Da hat‘s mich gleich gerissen, sag ich. Ich frage nur nach und der bietet mir einen Kaffee an...“
„...in diesem ganzen Jahr ist nicht einmal ’n böses Wort gefallen, ich werde gut bezahlt, äh die Atmosphäre ist
freundschaftlich, ähm mir wurde ein unheimliches Vertrauen
entgegengebracht...
Gestaltungsspielräume:
Kompetenzen ent-decken
Andreas Hirseland
„... nach drei Tagen hab ich den Schlüssel für den Bereich gekriegt und die haben zu mir gesagt: ‚Uns egal, wie Sie’s machen, aber machen Sie’s.‘ Ja und dann hab ich das ganze Lager aufgeräumt und hab dann das alles so
eingerichtet, wie ich es mir eben halt vorstelle, dass es einen reibungslosen Ablauf gibt und das fanden die toll alles. Die haben das Lager nicht wiedererkannt und haben dann
gesagt, tja, [...] und ich war von Knall auf Fall war ich in ’ner
festen Beschäftigung.“
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Systematisierende Zusammenfassung Schlussfolgerungen/Empfehlungen
Andreas Hirseland Berlin 13.09.2018
Zusammenfassung:
Wirkzusammenhänge erwartungswidriger Übergänge
• Selbst : arbeitsfähig/
- bereit(schaft)
• Coping :
Stigmamanagement / Hemmnisse
• Kreativität : Informelle und soziale
Kompetenzen
• Klein- und Mittelbetriebe
• Flexibilität
• Soziale Dienstleister
• Nachfrage
• Interaktion/Support :
Anbahnen, Ausweiten, Etablieren (Beziehungs- / Sachebene)
• Performativität : Entformalisierung/
Personalisierung
Progressiver Ausbau des Anstellungsverhältnisses
• Autonomie : Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume Subjektive
Kapazitäten/
Habitus
Momentum: günstige Gelegenheit AM-Kontexte:
„Nischen“
Andreas Hirseland
...und was lässt sich für die Praxis folgern?
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Übergänge
Persönliche und soziale Stabilisierung:
Soziale Aktivierung Beratung und
Vermittlung:
„Fallbezug“
Arbeitswelten:
„Passungen“
suchen/schaffen
„Momentum“
ermöglichen:
Begegnung mit Arbeitgebern
Andreas Hirseland Berlin 13.09.2018
www.iab.de
Kontakt:
Dr. Andreas Hirseland
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Regensburger Str. 100 90478 Nürnberg
andreas.hirseland@iab.de
Danke für Ihr Interesse
Weitere Mitarbeit:
Jonas Beste (IAB) Arne Bethmann (IAB) Marie Boost (IAB) Ivonne Küsters (IAB)
Lukas Kerschbaumer (IAB)
Mark Trappmann (IAB)
Literatur und Quellen
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Achatz, Juliane; Fehr, Sonja; Schels, Brigitte; Wolff, Joachim (2012): Ein-Euro-Jobs,
betriebliche und schulische Trainingsmaßnahmen: Wovon junge Arbeitslose im SGB II am meisten profitieren. (IAB-Kurzbericht, 06/2012), Nürnberg, 8 S.
Achatz, Juliane; Trappmann, Mark (2011): Arbeitsmarktvermittelte Abgänge aus der Grundsicherung * der Einfluss von personen- und haushaltsgebundenen Barrieren.
(IAB-Discussion Paper, 02/2011), Nürnberg, 41 S.
Beste, Jonas; Trappmann, Mark (2016): Erwerbsbedingte Abgänge aus der Grund-
sicherung: Der Abbau von Hemmnissen macht's möglich. (IAB-Kurzbericht, 21/2016), Nürnberg, 8 S.
Bundesagentur für Arbeit, Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung (2016): Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Die Arbeitsmarktsituation von langzeitarbeitslosen Menschen 2016, Nürnberg. Online verfügbar unter http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-
Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/Broschuere/Langzeitarbeitslosigkeit.p df. zuletzt aktualisiert am 11.07.2016
Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2017): Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, Nürnberg. Hg.
v. Bundesagentur für Arbeit, Statistik. Online verfügbar unter
http://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-
Themen/Arbeitslose-und-gemeldetes-Stellenangebot/Arbeitslose/Arbeitslose- Nav.html, zuletzt aktualisiert am 12.06.2017.
Andreas Hirseland