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Weiterbildung: Personzentrierte Beratung nach Carl R. Rogers Dozentinnen: Silke Welge und Petra Brandes Autor: Alex Seuthe

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Weiterbildung: Personzentrierte Beratung nach Carl R. Rogers Dozentinnen: Silke Welge und Petra Brandes

Autor: Alex Seuthe

Menschenbild des personzentrierten Ansatzes und Grundkonzepte der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung. (22.7.2020)

Nachdem Carl Rogers 1928 eine erste Anstellung als Kinderpsychologe in Rochester angetreten hatte und dort 1929 Direktor des „Child Study Department“ wurde, erschien 1939 sein erstes Buch „Die klinische Behandlung des Problem-Kindes“, woraufhin er 1940 Professor für klinische Psychologie an der Ohio State University wurde. 1940 kann auch mit seinem berühmten Vortrag an der Universität von Minnesota als die Geburtsstunde der klient- zentrierten Psychotherapie angesehen werden. 1942 erschien sein zweites Buch „Die nicht- direktive Beratung: Counseling and Psychotherapy“ sowie nach einem Wechsel als Professor an die Universität von Chicago sein drittes Buch „Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie“, woraufhin er 1957 als Professor an die University of Wisconsin in Madison wechselte und dort sein viertes und wohl berühmtestes Buch „On Becoming a Person:

Die Entwicklung der Persönlichkeit“ veröffentlichte.1 Dieser Zeitraum war geprägt von der dynamischen und durch neuartige empirische Verfahren getriebene Entwicklung des personzentrierten Ansatzes. Durch immer wieder neu überarbeitete Theoriekonstrukte und neue klinische Untersuchungen, ist es schwierig, ein vollständiges und invariantes Konzept des Ansatzes genau zu fassen. Dies stellt aber vielleicht auch gerade in seiner Prozesshaftigkeit das Besondere des Ansatzes dar. Zwischen die Zeit seiner Buchveröffentlichungen fiel die Bitte der American Psychological Association, einen Übersichtsartikel über seine Theorie zu verfassen.2

Dieser 1959 erschienene Primärtext soll Grundlage der vorliegenden Facharbeit sein. Diese konzentriert sich auf die Grundkonzepte der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung und das damit implizierte Menschenbild Rogers‘. Der Text von 1959 ist sehr konzise formuliert und fasst trotz späterer Weiterentwicklungen die wesentlichen Bestandteile der Theorie. Es werden hier weitere Primärtexte Rogers‘ sowie verschiedene Sekundärtexte hinzugezogen, um auf aktuelle Neuerungen und einige spezifische Veränderungen der personzentrierten Theorie hinzuweisen.3 In Anbetracht der praktischen Grenzen dieser Arbeit, muss auf eine historische Einordnung sowie Entstehungsgeschichte von Rogers‘ Menschenbild sowie Theorie der Persönlichkeitsentwicklung bis auf einige Punkte verzichtet werden. Es sei dazu gesagt, dass Rogers bereits als Kind durch landwirtschaftliche Versuchsreihen in seinem wissenschaftlichen Weltbild und durch seine streng religiöse Familie spirituell und weltanschaulich geprägt wurde. Neben dem Aufkommen der sozialen Arbeit in den USA kann als weiterer wichtiger Einfluss auf Rogers die Erweiterung der klassischen Freud’schen Psychoanalyse Otto Ranks zählen, der bereits 1924 die besondere Rolle der therapeutischen Beziehung erkannte: „Es ist nicht das intellektuelle Wissen, sondern das unmittelbar affektive Erlebnis in der analytischen Situation, welches das therapeutische Agens in der Kur ausmacht.“

[Rank 1926 S.4]. Rogers kann als einer der Mitbegründer der empirischen Psychologie betrachtet werden: er nutze als einer der ersten Pioniere die Möglichkeit, Therapiegespräche4 aufzuzeichnen und systematisch in klinischen Studien auszuwerten. Rogers‘ Menschenbild ist

1 Vgl. Groddek 2011

2 Rogers 1959

3 Siehe dazu das Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit, sowie die einzelnen Quellenangaben innerhalb des Textes. Als Sekundärquellen wurde eine der wenigen deutschen Biographien zu Carl Rogers ausgewählt, die für die Arbeit zur Verfügung stand sowie zwei aktuelle Lehrbücher der personzentrierten Beratung, die dem Autor im Rahmen dieser Weiterbildung empfohlen wurden.

4 Im Folgenden ist hauptsächlich von „Therapie“ die Rede, da dies die Formulierungsweise der frühen Quellen ist, auf die sich diese Arbeit bezieht. Jedoch sind die meisten Aussagen auch auf die personzentrierte Beratung

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geprägt von der humanistischen Psychologie seiner Zeit, besonders mitgeprägt durch Namen wie Bühler, Maslow und Bugenthal, welche sich im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse oder dem Behaviorismus an den Werten der persönlichen und sozialen Freiheit, der Selbstverwirklichung, der Ziel- und Sinnorientierung sowie einer Einheit des „Leib-Seelisch- Körperlichen“ des Menschen orientiert.5 Carl Rogers formuliert selbst:

„Eine der revolutionärsten Einsichten, die sich aus unserer klinischen Erfahrung entwickelt hat, ist die wachsende Erkenntnis: der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.“ [Rogers 1961 S.99-100]

Im Folgenden soll erläutert werden, dass dies keine bloßen weltanschaulichen Phrasen oder therapeutischen Faustformeln sind, sondern innerhalb Rogers‘ Theorie durch klinische Studien untermauerte psychologische Erkenntnisse seiner Zeit darstellen.

Rogers Theorie hob sich durch klinisch-therapeutische Erfahrung ab, welche zur Formulierung wissenschaftlicher Hypothesen führte, woraufhin systematische Forschung zur Überprüfung der Theorie betrieben wurde, wodurch neue Aspekte der Erfahrung sichtbar wurden, die wiederum zu Modifikationen der Theorie führten. Rogers beschreibt die Entwicklung der Theorie als fortwährenden Prozess. In dem 1959 erschienenen Übersichtsartikel geht Rogers nach seiner methodologischen Einführung im zweiten Teil der Einleitung des Artikels auf die „allgemeine Struktur [seines] systematischen Denkens“ [Rogers 1959 S.22] ein. Seine Theorie lässt sich in verschiedene Teile gliedern, zwischen denen es Verbindungen gibt. Das Zentrum dieser, in der praktischen Arbeit gewachsenen Theorie, bildet die Theorie der Therapie, welche zur Persönlichkeitstheorie weiterentwickelt wurde, um die

„Natur der Persönlichkeit und die Dynamik des Verhaltens“ [Rogers 1959 S.22] zu erfassen.

Die Ziele von Therapie werden in der „Theorie der vollentwickelten Persönlichkeit“ erfasst.

Aus den Erfahrungen der therapeutischen Beziehungen zwischen Therapeut*in und Klient*in entwickelte Rogers ebenfalls eine Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen. Er strebt darüber hinaus eine Ausweitung dieser Theoriebestandteile auf allgemeinere Aspekte des menschlichen Lebens an. Rogers entwickelt seine Theorie einerseits anhand dieser oben beschriebenen Einzelteile des Theoriegebäudes, findet dabei aber auch in wechselseitiger Entstehung „verschiedene systematische Konstrukte“ [Rogers 1959 S.24]. Gemeint sind damit Definitionen von Begriffen, die er in sogenannte Cluster semantischer Ähnlichkeit ordnet.

Diese Begriffe stellen zentrale Konstrukte seiner Theorie dar und werden im Folgenden zusammengefasst.6

1. Aktualisierungstendenz

Unter Aktualisierungstendenz versteht Rogers „die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder der Förderung des Organismus dienen.“ [Rogers 1959 S.26] Dies umfasst sowohl Grundbedürfnisse des allgemeinen Überlebens als auch Reproduktion, Effizienzsteigerung des Lebens und inneres Wachstum. Laut Rogers ist darin ein Weg zur individuellen Autonomie, weg von Fremdbestimmung angelegt. Diese Tendenz zur Weiterentwicklung des aktuellen Zustands sowie menschlichen Wachstums stellt in Rogers‘ Theorie das einzige axiomatisierte Motiv des Menschen dar. Die Aktualisierungstendenz ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, „sich auszuweiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen“

[Rogers 1961 S.49]. Die Tendenz zur Selbstaktualisierung hingegen bezieht sich auf die

„Aktualisierung des Teils der organismischen Erfahrung, in dem sich das symbolisiert, was wir Selbst nennen.“ [Rogers 1959 S.26] Ein Teil der organismischen Erfahrung symbolisiert somit das Selbst und die Tendenz zur Weiterentwicklung des Selbst heißt Selbstaktualisierung. Das

5 Vgl. Sander, Ziebertz 2010 S.61

6 Die folgende Zusammenfassung bezieht sich auf S. 24-46 von Carl Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie und die fettgedruckten Begriffe stellen die semantischen Cluster dar, in denen in kursiv gedruckt die

Unterkonstrukte als Grundbegriffe der Theorie erläutert werden. Es mag zunächst etwas befremdlich wirken, erst unzusammenhängende Definitionen vorzufinden, jedoch kann sich beim Lesen bereits eine innere Logik der Kernkonstrukte erschließen.

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Selbst ist die organisierte Gesamtheit der Selbsterfahrungen (siehe weiter unten). Wenn das Selbst und diese organismische Erfahrung im Einklang stehen, sie also kongruent sind, ist die Aktualisierungstendenz eher einheitlich. Sind Selbst und organismische Erfahrung inkongruent, kann die Aktualisierungstendenz im Widerspruch zur Entwicklung des Selbst und der Selbstaktualisierungstendenz stehen. Hier setzt wie später beschrieben die personzentrierte Therapie/Beratung an.

2. Erfahrung

Unter Erfahrung versteht Rogers „all das, was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potentiell der Gewahrwerdung zugänglich ist.“

[Rogers 1959 S.27] Die damit formulierte Möglichkeit der Gewahrwerdung schließt folglich auch Erfahrungen ein, die dem Subjekt nicht bewusst sind. Ebenfalls einbezogen sind sensorische Eindrücke sowie die den Moment prägende Erinnerungen. Um die Gesamtheit des Erfahrungsbegriffs zu verdeutlichen, weist Rogers auf frühere von ihm verwendete Begriffe wie „sensorische und viscerale Erfahrungen“ oder „organismische Erfahrung“ hin sowie auf die Einschränkung des Begriffs der Erfahrung auf den aktuellen Moment. Geschieht bewusste Symbolisierung der zuvor beschriebenen Erlebnisse, kommt es zum Erleben. Gefühle oder das Erleben eines Gefühls bezeichnet die zusammenhängende Wahrnehmung von Emotion und Kognition.7 Wird ein Gefühl im Moment vollständig in seinem Kontext und Erfahrungsfeld wahrgenommen, spricht Rogers von Kongruenz der Erfahrung, „dem Gewahrsein seiner Gefühle und ihrem Ausdruck.“ [Rogers 1959 S.29]

3. Bewusstsein

Unter den zuvor schon synonym verwendeten Begriffen Gewahrwerdung, Symbolisierung und Bewusstsein versteht Rogers die „symbolische Repräsentation (nicht notwendigerweise in verbalen Symbolen) eines Teils unserer Erfahrung“[Rogers 1959 S.29], welche verschiedene Graduierungen der Deutlichkeit aufweisen kann. Symbolisierungen können durch Leugnung oder Deformation gehemmt oder verändert werden. Findet die Symbolisierung ohne solche Hindernisse statt, ist die Erfahrung vollständig und exakt der Gewahrwerdung zugänglich. Im Kontext der exakten Symbolisierung kommt Rogers zu der erkenntnistheoretischen Frage, wie sich „wahrgenommene Ereignisse, die man gemeinhin als wirklich oder exakt bezeichnet, von solchen [unterscheiden], die nicht wirklich existieren.“ [Rogers 1959 S.29] Er beantwortet diese Frage, indem er Wahrnehmung als „eine Konstruktion aus unserer eigenen Vorerfahrung und eine Vermutung oder Vorhersage über die Zukunft“[Rogers 1959 S.29] versteht. An die von ihm in Anführungszeichen verwendeten Begriffe der „Realität“ und „wirklichen Erfahrung“ kann sich somit durch nachträgliche Überprüfung der Wahrnehmungshypothese angenähert werden. Unter dem bereits erwähnten Begriff der Wahrnehmung versteht Rogers

„eine Vermutung oder eine Vorhersage einer Handlung [...], die im Gewahrsein entsteht, wenn Reize auf den Organismus einwirken“ [Rogers 1959 S.30] Diese Definition postuliert damit eine untrennbare Einheit von äußerem Reiz und dessen Bedeutung. Im Gegensatz zu Gewahrwerdungen, welche sowohl interne Reize als auch externe Reize fassen, bezieht sich die Wahrnehmung als engerer Begriff auf äußere Reize, die Teil eines Prozesses sind. Rogers differenziert die Wahrnehmung der Reize durch die Einführung des Begriffs der unterschwelligen Wahrnehmung, bei der es zwar zu einer Reizunterscheidung des Organismus kommt, jedoch zu keiner höheren kognitiven Symbolisierung.

4. Selbst

Selbsterfahrung bezeichnet Ereignisse oder „Einheiten des phänomenologischen Feldes“, welche vom Individuum unterschieden werden können, als „Rohmaterial, aus dem das organisierte Selbstkonzept geformt ist“ [Rogers 1959 S.31]. Das Selbstkonzept, Selbst oder die Selbststruktur stellen hingegen eine organisierte Gestalt dar, der gewahrgenommen werden kann, jedoch nicht muss, und einen Prozess, der sich in der Zeit verändern kann, sowie durch operationale Begriffe, also die Angabe von Operatoren erfasst werden kann. Das Selbstideal

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ist dabei ein Selbstkonzept, das eine Person bei sich sehen möchte oder anstrebt. Das Selbst stellt für Rogers ein zentrales Element seiner Theorie dar. In seiner klinischen Tätigkeit stellte er fest, dass das Selbst durchaus nichts ist, was ausschließlich durch langfristiges Wachstum oder schrittweise Lernprozesse gefügt ist, sondern sich schlagartig von einem Tag zum anderen wandeln kann, er weist dem Selbst die Eigenschaften einer Konfiguration8zu. Die verworfenen Ansichten über das Selbst in Form von Konzepten der Verdrängung oder Unterdrückung tabuisierter Impulse aus der klassischen Psychoanalyse werden ersetzt durch das grundlegende Konzept der Übereinstimmung mit dem Selbst: Vollständig gewahr werden nur Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept der Person übereinstimmen. Da Operationalisierungen des Selbst nur bewusste Gegenstände betreffen können, schließt Rogers‘ Selbst-Definition, der Gewahrwerdung verschlossenes, unbewusstes Material aus.9

5. Inkongruenz

Inkongruenzen zwischen Selbst und Erfahrung treten dann auf, wenn „Widersprüche zwischen dem wahrgenommenen Selbst und der tatsächlichen organismischen Erfahrung“

[Rogers 1959 S.35] existieren; wenn also die Selbstwahrnehmung der Person von Charaktereigenschaften und Gefühlen in Widerspruch zu einer exakten Symbolisierung stehen.

Stehen Selbstkonzept und Erfahrungen in Inkongruenz, führt dies zu inneren Spannungen und Verwirrungen. Dies ist damit begründet, dass die Aktualisierungstendenz dann in eine andere Richtung als die Selbstaktualisierung arbeitet, was zu unverständlichem, ungeordnetem Verhalten führen kann. Befindet sich eine Person in einem ihr nicht bewussten Zustand der Inkongruenz, ist sie anfällig für Angst, Bedrohung und Desorganisation, besonders durch mit dem Selbst unvereinbare Ereignisse. Angst bezeichnet hierbei einen Zustand des Unwohlseins und der Spannung, deren Grund dem Individuum verborgen ist. Von außen betrachtet entsteht dieser Zustand durch unterschwellige Wahrnehmungen, die im Widerspruch zum Selbstkonzept stehen, worauf der Organismus mit Angst antwortet. Dies geschieht, da der Fall eintreten könnte, dass diese Diskrepanz gewahrwerden könnte und es zu einer unvermeidlichen erzwungenen Änderung des Selbstkonzept kommen muss. Bedrohung bezeichnet hier die Erwartung einer inkongruenten Erfahrung.10

6. Die Reaktion auf Bedrohung

Als Antwort auf diese Bedrohung reagiert der Organismus mit Abwehrverhalten, welches entweder durch Verzerrung der inkongruenten Erfahrung oder seltener durch komplette Zensur unterschwelliger Erfahrungen charakterisiert ist. Legt eine Person dieses Verhalten an den Tag, befindet sie sich im Zustand der Abwehr. Diesen Zustand zeichnen sogenannte intensionale Reaktionen aus, welche verabsolutierte Konzepte, unangreifbare Meinungen, rigide Verallgemeinerungen etc. beinhalten, also das eigene Verhalten nicht an die von außen herangetragenen Erfahrungen anpassen zu können.11

7. Kongruenz

Liegt im Gegensatz zur Inkongruenz die Kongruenz von Selbst und Erfahrungen vor, sind Selbstkonzept und exakt symbolisierte Erfahrungen im Einklang. Gilt dies für einzelne Erfahrungsbereiche, spricht Rogers von Kongruenz, liegt hingegen eine alle Selbsterfahrungen umfassende Kongruenz vor, spricht er von einer völlig gesunden Person (fully functioning person). Eine innerlich kongruente Person agiert in einer Offenheit für Erfahrung, ist also nicht durch Bedrohung zu Abwehr genötigt. Alle Erfahrungen sind dem Gewahrwerden der Person in diesem Zustand zugänglich, wodurch in diesem Zustand der psychischen Ausgeglichenheit keine Bedrohung möglich ist, weil alle Erfahrungen in das Selbstkonzept integriert werden können. Diese Offenheit charakterisiert sich u.a. durch sogenanntes extensionales Verhalten, welches die Begrenztheit von Fakten anerkennt und weniger Wert auf unveränderliche

8 Siehe Abschnitt unten zu den Erneuerungen der personzentrierten Theorie

9 Vgl. Rogers 1959 S.32-34

10 Vgl. Rogers 1951 S.35

11 Vgl. Rogers 1959 S.36-37

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Konzepte legt. Die damit einhergehende Reife zeichnet sich durch Offenheit für neue Erfahrungen, ausbleibendes Abwehrverhalten, wertschätzendes Verhalten anderen und sich selbst gegenüber sowie Vertrauen in das eigene nach der Realität gerichtete Urteilsvermögen und Verantwortung für das eigene Handeln aus.12

8. Bedingungslose positive Beachtung

Rogers rekurriert im Folgenden auf die von Standal entwickelten Konstrukte und psychologischen Variablen der bedingungslosen positiven Beachtung: Sobald es zu einer Veränderung des Erlebnisfeldes einer anderen Person durch eine andere Person kommt, wird hierbei von Kontakt gesprochen. Dieser Begriff macht noch keine Aussage über die Tiefe oder Qualität dieser minimalen Beziehung. Zu Wertschätzung einer anderen Person gegenüber kommt es, wenn durch die Wahrnehmung von Selbsterfahrung das eigene Erlebnisfeld positiv verändert wird. In diesem Sinne erfährt eine Person selbst Wertschätzung, wenn sie eine positive Wirkung einer anderen Person gegenüber bewirkt. Das Bedürfnis nach Wertschätzung wird hier als für den Menschen grundlegend, in der Kindheit erlernt angesehen. Werden Selbsterfahrungen einer anderen Person durch die eigene Person unabhängig vom Wert nach der eigenen Wertschätzung wahrgenommen, erlebt man bedingungslose Wertschätzung für diese Person. „Sich selbst wahrzunehmen als jemand, der bedingungslose Wertschätzung erhält, heißt, dass keine meiner Selbsterfahrungen vom anderen als mehr oder weniger seiner Wertschätzungen wert eingeschätzt werden.“ [Rogers 1951 S.41] Synonym wird hierfür der Begriff des „jemanden schätzen“ verwendet, also eine Person unabhängig von eigenen Bewertungen ihrer Verhaltensweisen zu schätzen. Rogers betrachtet dies als einen zentralen Bestandteil der therapeutischen Arbeit: Durch die erlebte Wertschätzung auch gegenüber unangenehmen Selbsterfahrungen, kann es zu Veränderungen, Selbstakzeptanz und Kongruenz kommen. All jene Selbsterfahrungen und Zusammenhänge, die im Wissen der Person Einfluss auf die Wertschätzung durch andere haben werden als Bewertungskomplex bezeichnet. Damit geht die Wirkung von positiver und negativer Beachtung einher. Ist das positive Erlebnis der Befriedigung dieses Bedürfnisses unabhängig von anderen Personen, wird von Selbst-Wertschätzung gesprochen. Rogers geht davon aus, dass einer Selbst- Wertschätzung die Wertschätzung durch andere vorausgegangen sein muss. Diese ist damit ein sekundäres, erlerntes Bedürfnis. Hat eine Person die Wahrnehmung von sich selbst, dass sie alle Erfahrungen in gleicher Wertschätzung annimmt, erlebt sie bedingungslose Selbst- Wertschätzung.13

9. Bewertungsbedingungen

Haben Teilmengen von Selbsterfahrungen für die Selbst-Wertschätzung einer Person einen unterschiedlich hohen Wert und führen alleine damit zu besonders betontem oder vermeidendem Verhalten bezüglich dieser Selbsterfahrungen, spricht Rogers von einer Charakterisierung der „Selbststruktur [...] durch eine Bewertungsbedingung.“ [Rogers 1951 S.42] Es kommt zu der Bewertungsbedingung durch erlebte selektive Wertschätzung bestimmter Verhaltensweisen durch andere Personen, die folglich von der Person übernommen werden. Nun bewertet das Individuum selbst einzelne Erfahrungen als negativ oder positiv aufgrund dieser externen, aufgenommenen Kriterien und nicht aufgrund ihrer Förderlichkeit für den eigenen Organismus. Es kommt damit zu einer nicht-exakten Symbolisierung, da Erfahrungen so bewertet werden, als ob diese der Aktualisierungstendenz folgen würden, es jedoch nicht tun: „Eine Erfahrung kann so als organismisch befriedigend bewertet werden, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht ist. Indem eine solche Bewertungsbedingung den Bewertungsprozess stört, hindert sie das Individuum, sich frei und effektiv zu verhalten.“

[Rogers 1959 S.43]

10. Mit Bewertung zusammenhängende Konstrukte

12 Vgl. Rogers 1959 S.38-40

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Entstehen die Bewertungen innerhalb einer Person selbst und vertraut sie diesen, liegt der Bewertungsort in ihr selbst. Bewertet eine andere Person Dinge oder Erfahrungen, liegt dieser Ort außerhalb. Der organismische Bewertungsprozess meint, die dynamische Ausrichtung der Bewertungen und ihrer exakten Symbolisierungen nach der erlebten organismischen Erfahrung.14

11. Mit dem Ursprung des Wissens zusammenhängende Konstrukte

Als inneren Bezugsrahmen bezeichnet Rogers die Gesamtheit der momentan dem Gewahrwerden zugänglichen Erfahrungen. Dieser Bezugsrahmen ist die subjektive Welt einer Person, die niemals gänzlich von einer anderen Person verstanden werden kann. Es kann sich dieser nur durch empathisches Einfühlen angenähert werden. Empathie bedeutet hier die möglichst exakte Wahrnehmung des inneren Bezugsrahmens einer anderen Person in einer Haltung des „Als-ob“. Ohne dieses Bewusstsein, dass Erfahrungen nur so wahrgenommen werden, wie die andere Person sie wahrnimmt, kommt es zu Identifikation. Wird vom äußeren Bezugsrahmen aus wahrgenommen, wird lediglich vom eigenen subjektiven Bezugsrahmen geschlossen, jedoch die andere Person in ihrer Subjektivität ohne Empathie außer Acht gelassen. Rogers unterscheidet anhand dieser Begriffe drei Formen des Wissens: das subjektive, den eigenen Bezugsrahmen betreffende Wissen, welches nur durch Konzentration auf den eigenen Rahmen geprüft werden kann, und dem empathischen Wissen, welches zu seiner Überprüfung das empathische Verstehen und die empathische Schlussfolgerung verwendet. Dieses Wissen kennzeichnet Rogers als für besonders wertvoll für den Therapieprozess und Veränderungen der Persönlichkeit. Jedoch wird nur Wissen, welches durch das Einnehmen des äußeren Bezugsrahmens bestimmt wird, als wissenschaftlich anerkannt.15

I. Theorie der Therapie und der Persönlichkeitsveränderung

Rogers entwickelt seine Theorie der Persönlichkeitsveränderung in der Therapie nach einem Wenn-Dann-Schema. So gibt er einen Satz von Bedingungen (A) für den gelingenden Prozess der Therapie an. Ist dieser Prozess in Gang gesetzt, kommt es unter weiteren Bedingungen des Therapieprozesses (B) zu Veränderungen der Persönlichkeit (C). Die einzelnen Prozesse sind dabei voneinander abhängig. Rogers gibt für den Beginn des therapeutischen Prozesses folgende Bedingungen an:16

A. Bedingungen für den therapeutischen Prozess 1. Zwei Personen befinden sich in Kontakt.

2. Die erste Person, die wir Klient17 nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz;

sie ist verletzlich und voller Angst.

3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen, ist kongruent in der Beziehung.

4. Der Therapeut empfindet bedingungslose Wertschätzung gegenüber dem Klienten.

5. Der Therapeut erfährt empathisch den inneren Bezugsrahmen des Klienten.

6. Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaße die Bedingungen 4 und 5 wahr.

[Rogers 1959 S.46-47]

Obwohl Rogers anmerkt, dass es noch andere Elemente einer gelingenden Therapie gibt, sind für ihn diese Punkte dafür zwingend notwendig. Er nennt damit u.a. die später als

„Basisvariablen“ bekannt gewordenen Grundbedingungen der therapeutischen Haltung. In diesem frühen Entwurf seiner Theorie geht Rogers noch davon aus, dass es das therapeutische Verhalten unabhängig vom Gegenüber sein muss, um die Authentizität der therapeutischen

14 Vgl. Rogers 1959 S.43

15 Vgl. Rogers 1959 S.45-46

16 Die nummerierten Statements hier und weiter unten werden en bloc zitiert, da sie kaum einfacher zusammenzufassen sind und dazu einen Einblick in die Art des Formulierens Carl Rogers‘ geben.

17 Die deutsche Übersetzung aus den Achtzigerjahren verwendet hier durchgehend die männliche Form „Klient“

und „Therapeut“. Eine sprachliche Form, die die Grundgesamtheit der Personen einbezieht, wäre hier wünschenswerter.

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Beziehung zu gewährleisten. Er weist jedoch schon auf aufkommende Studien hin, welche zeigen, dass eine Anpassung der Therapieform an die Struktur der zu behandelnden Personen therapeutisch sinnvoll sein kann und räumt ein, dass in dieser Hinsicht seine Theorie in Zukunft überarbeitet werden könnte. Als zentrales Kernelement der Therapiebedingungen nennt Rogers die Kongruenz des Therapeuten, welcher in der Beziehung in effektiver Therapie Erfahrungen exakt symbolisiert. Damit ist jedoch keine immer fortwährende Kongruenz des Therapeuten gemeint, sondern lediglich Kongruenz innerhalb der Beziehung; ansonsten würde keine Person jemals Therapie oder Beratung durchführen können und so erklärt sich ebenfalls, wie sich Menschen mit Problemen gegenseitig helfen können. Zum Abschluss des Abschnitts, wie auch in den folgenden Theorieabschnitten, listet Rogers eine große Reihe von zu seiner Zeit aktuellen empirischen Studien zur Untermauerung seiner Thesen auf.18

Sind nun die minimalen Bedingungen dauerhaft gegeben, kommt der therapeutische Prozess mit der im Folgenden aufgelisteten Entwicklung in Gang:

B. Der Therapieprozess

1. Der Klient kann seine Gefühle zunehmend freier ausdrücken, sei es verbal oder durch körperliche Ausdrucksformen.

2. Seine ausgedrückten Gefühle haben zunehmend mehr Bezug zu seinem Selbst als zum Nicht-Selbst.

3. Er unterscheidet zunehmend besser die Objekte seiner Gefühle und seine eigenen Erfahrungen und all ihre Beziehungen untereinander. Er wird zunehmend weniger intensional und mehr extensional in seinen Wahrnehmungen, d.h. seine Erfahrungen werden zunehmend exakter symbolisiert.

4. Die Gefühle, die der Klient zum Ausdruck bringt, haben zunehmend mehr Bezug zur Inkongruenz zwischen bestimmten Erfahrungen und seinem Selbstkonzept.

5. Der Klient wird sich zunehmender Bedrohung durch diese Inkongruenz bewusst. [...]

6. Der Klient erfährt vollständig im Gewahrsein Gefühle, die in der Vergangenheit der Gewahrwerdung nicht zugänglich waren oder nur entstellt gewahr werden konnten.

7. Sein Selbstkonzept wird reorganisiert, so dass diese Erfahrungen, die früher entstellt worden sind oder keinen Zugang zum Gewahrsein hatten, assimiliert und aufgenommen werden.

8. Indem die Reorganisation der Selbststruktur voranschreitet, wächst die Kongruenz von Selbstkonzept und Erfahrung; das Selbst beinhaltet nun Erfahrungen, die früher für die Gewahrwerdung zu bedrohlich waren. [...]

9. Der Klient kann zunehmend die bedingungslose Wertschätzung des Therapeuten ohne Bedrohungsgefühl erleben.

10. Er empfindet in zunehmendem Maße eine bedingungslose Selbst-Wertschätzung.

11. Er erfährt sich zunehmend als Ort seiner eigenen Bewertung.

12. Er reagiert auf Erfahrungen immer weniger im Sinne seiner Bewertungsbedingungen, sondern zunehmend im Sinne seines organismischen Bewertungsprozesses. [Rogers 1959 S.52-53]

Auch wenn Rogers im Anschluss an diese Auflistung schreibt, dass es sich nicht mit Sicherheit umfänglich um notwendige Punkte des Therapieprozesses handelt, so nennt er sie dennoch besonders charakteristisch. Erläuternd fügt er an, dass bewusst auf tieferliegende Erklärungsmechanismen verzichtet wird; er fundiert seine Theorie auf einer empirisch nachgewiesenen Wenn-Dann-Relation der einzelnen Theorievariablen inklusive der therapeutischen Ergebnisse, welche die theoretischen Beobachtungsdaten an Hand von gesicherten Fakten der therapeutischen Empirie darstellen.19

Innerhalb der vorgestellten Theorie wird nicht zwischen Prozess und Ergebnis unterschieden.

Jedoch fasst Rogers Veränderungen als Ergebnisse der Therapie, welche auch außerhalb der

18 Vgl. Rogers 1959 S.46-49

19

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Therapie beobachtet werden können, sowie eine gewisse Permanenz aufweisen. Als Hauptpunkt wird neben 14 weiteren Ausdifferenzierungen die folgende Veränderung benannt:

C. Ergebnisse im Bereich der Persönlichkeit und des Verhaltens

1. Der Klient ist kongruenter, offener für seine Erfahrung, weniger in Abwehr.

2.-15. [...] [Rogers 1959 S.52-53]

Als weitere Punkte werden u.a. Zunahme von Extensionalität, Problemlösungskompetenz, psychischer Ausgeglichenheit, realistischerem Selbstbild, höherer Kongruenz von Selbst und Selbstideal, positiver Selbst-Wertschätzung, Verschiebung des Orts der Bewertung in das Individuum, Akzeptanz anderer Personen und soziales, reifes Verhalten genannt.20

Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen leitet Rogers Hypothesen einer allgemeineren Theorie über den Menschen ab, welche ihn im Weiteren zu einer eigenen Theorie der Persönlichkeit führen werden:

D. Einige Schlussfolgerungen, die sich auf die Natur des Menschen beziehen

1. Das Individuum besitzt die Fähigkeit mit Gewahrsein die Faktoren seiner psychischen Fehlanpassung wahrzunehmen, nämlich die Inkongruenz zwischen seinem Selbstkonzept und der Ganzheit seiner Erfahrungen.

2. Das Individuum besitzt die Fähigkeit und hat die Tendenz, sein Selbstkonzept zu reorganisieren; und zwar in der Weite, dass es kongruenter mit der Ganzheit seiner Erfahrung wird, so dass es sich von einem Zustand der psychischen Fehlanpassung zu einem Zustand der psychischen Ausgeglichenheit entwickelt.

3. Diese Fähigkeit und diese Tendenz, selbst wenn sie eher unterschwellig als offensichtlich sind, verwirklichen sich in jeder zwischenmenschlichen Beziehung, in der der Partner kongruent in der Beziehung ist, bedingungslose positive Beachtung gegenüber dem anderen erlebt, empathisch die Person erfährt und über diese Haltungen Kommunikation mit dem Individuum zustande kommt [...] [Rogers 1959 S.55]

Die Fähigkeit zur Weiterentwicklung stellt hier ein maßgebliches psychologisches und philosophisches Paradigma für den Therapieprozess dar, da es dazu führt, „die vorhandenen Fähigkeiten eines potentiell kompetenten Individuums zu fördern“ [Rogers 1959 S.56] und den Ansatz externer Manipulation durch geschulte Expert*innen verwirft. Somit besteht die Aufgabe der Therapie oder Beratung darin, die Bedingungen für dieses Wachstum zu ermöglichen und wiederherzustellen.21

Aus dieser Theorie der Therapie und Persönlichkeitsveränderung heraus entwickelt Rogers seine Theorie der Persönlichkeit, welche er ebenfalls anhand von aufgelisteten Sätzen präsentiert. Auf eine vollständige Zitatwiedergabe soll hier jedoch angesichts des begrenzten Rahmens dieser Facharbeit verzichtet werden. Es werden jedoch die Grundthesen knapp umrissen:

II. Persönlichkeitstheorie

In den (A) Postulaten über das Wesen des Kindes listet Rogers einen Satz grundlegender Eigenschaften auf, über die jedes Kind verfügt. Als Realität des Kindes versteht er die Erfahrungen des Kindes, welche mit der Wirklichkeit, unabhängig von einer hypostasierten

„wirklichen Welt“, gleichgesetzt werden: Das Kind schafft sich seine Welt selbst. Es verfügt über die „Tendenz zur Aktualisierung des Organismus“ [Rogers 1959 S.56] und über ein inneres Motivationssystem, das Erfahrungen anhand der Aktualisierungstendenz organismisch bewertet und Verhalten danach ausrichtet, um das Bedürfnis nach Aktualisierung zu befriedigen.22

20 Vgl. Rogers 1959 S.51-53

21 Vgl. Rogers 1959 S.56

22 Vgl. Rogers 1959 S.56-57

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In den Sätzen über (B) Die Entwicklung des Selbst beschreibt Rogers im Gewahrsein symbolisiertes Sein und Handeln, also die Selbsterfahrungen. Diese entstehen durch Umweltinteraktion, besonders soziale Interaktion, und bilden damit das Selbstkonzept.

Mit diesem Gewahrsein entsteht das (C) Bedürfnis nach positivem Bezug, nach Wertschätzung. Rogers differenziert nicht dazwischen, ob es erlernt oder angeboren ist, jedoch bedarf es der Gewahrwerdung des Selbst zur Entwicklung dieses Bedürfnisses. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses hängt maßgeblich mit dem Erfahrungsfeld anderer Personen zusammen und kann mit vielen verschiedenen Erfahrungen verbunden sein. Befriedigt eine Person das Bedürfnis nach Wertschätzung einer anderen Person, erfährt diese wechselseitig selbst Wertschätzung. Diese ist dann mit dem ganzen Bewertungskomplex der anderen Person verbunden und damit kann die extern erlebte Wertschätzung wichtiger werden als positive Bewertungen durch den organismischen Bewertungsprozess selbst. Aus der Menge der Befriedigungen des Bedürfnisses nach Wertschätzung entwickeln sich Selbsterfahrungen, welche später vom Individuum interaktionsunabhängig erlebt werden, somit die Selbst- Wertschätzung darstellen.

Das entwickelte (D) Bedürfnis nach Selbstbeachtung ist somit ein erlerntes Bedürfnis, mit sich selbst als Gegenüber und Teil der Selbstbewertung.

Zur (E) Entwicklung von Bewertungsbedingungen kommt es, wenn Selbsterfahrungen in der externen Interaktion selektiv wertgeschätzt werden und demzufolge ebenfalls selektiv vom Individuum aufgesucht werden und die Selbst-Wertschätzung prägen. Im Falle von konstanter bedingungsloser Wertschätzung käme es nicht zur Entwicklung von Bewertungsbedingungen und die Wertschätzungs-Bedürfnisse würden nie von der organismischen Bewertung abweichen, was Rogers als in der Wirklichkeit nicht erreichtes, jedoch theoretisches Ideal der vollständigen psychischen Angepasstheit (fully functioning) bezeichnet.23

Zur (F) Entwicklung der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrungen kommt es, wenn durch das Bedürfnis nach Selbst-Wertschätzung Erfahrungen selektiv anhand der entwickelten Bewertungsbedingungen wahrgenommen werden. Liegt Übereinstimmung mit diesen vor, werden sie korrekt im Gewahrsein symbolisiert, ansonsten werden sie verzerrt oder zensiert, also nicht korrekt symbolisiert zu einem Teil der Selbststruktur. Entspricht der Mensch in seinem Verhalten den Bedingungen anderer, ist er sich selbst entfremdet, verzerrt eigene Erfahrungen und ist nicht er selbst. Therapie hat hier zum Ziel diese Entfremdung aufzuheben und zum Selbst zurückzuführen, das in Übereinstimmung mit seiner Erfahrung ist und durch einen einheitlichen organismischen Bewertungsprozess in seinem Verhalten reguliert ist.

Aus dieser Inkongruenz entwickelt sich in der Folge (G) widersprüchliches Verhalten:

einerseits existiert Verhalten, das mit dem Selbstkonzept in Einklang steht und korrekt symbolisiert wird; andererseits existieren Verhaltensweisen, die im Widerspruch zum Selbstkonzept stehen, aber die Aktualisierung des Organismus fördern, jedoch in der Abwehr nicht korrekt symbolisiert gewahrwerden, um sie wieder in Einklang mit dem Selbstkonzept zu bringen.24 Erfahrungen, die also in Widerspruch zum Selbstkonzept stehen, werden als unterschwellig bedrohlich wahrgenommen, da sie im Falle einer korrekten Symbolisierung das Bedürfnis nach Selbst-Wertschätzung nicht befriedigen würden, es also zu Angstzuständen kommen kann.

Dies beschreibt (H) Die Erfahrung von Bedrohung und der Prozess der Abwehr, wobei typische Abwehrmechanismen wie z.B. Verzerrung oder Zensur oben bereits beschrieben wurden.

Scheitern diese Abwehrmechanismen, kann es unter bestimmten Bedingungen zu einem (I) Prozess des Zusammenbruchs und der Desorganisation kommen, bei dem nun den Abwehrmechanismus passierende Erfahrungen korrekt symbolisiert werden und die Selbststruktur angreifen.25

In Situationen wie (G), (H) und teilweise (I) kann es jedoch ebenfalls unter bestimmten Bedingungen zu einem (J) Prozess der Reintegration kommen. Diese Entwicklung in

23 Vgl. Rogers 1959 S.59-61

24 Vgl. Rogers 1959 S.61-62

25

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Richtung zunehmender Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung und der Umkehrung des Abwehrprozesses, also der korrekten Symbolisierung, bedeutet ebenfalls eine Abnahme der Bewertungsbedingungen sowie ein Anwachsen der bedingungslosen positiven Selbst- Wertschätzung. Dies kann in der Interaktion mit einem anderen Menschen geschehen, der das Erleben bedingungsloser positiver Wertschätzung durch empathisches Verstehen vermittelt.

Rogers führt dazu aus, dass das empathische Verstehen immer Grundlage der positiven Wertschätzung ist: ohne einen Menschen zu verstehen oder wirklich zu kennen, ist positive Wertschätzung weniger wert. Wird einer Person bei großer Vertrautheit immer noch bedingungslose positive Wertschätzung entgegengebracht, hat diese einen hohen Wert und kann mit völliger Akzeptanz verglichen werden.26

III. Theorie der voll entwickelten Persönlichkeit

Ist die Aktualisierung eines Menschen höchst entwickelt, ist er psychisch vollständig ausgeglichen, verfügt über optimale psychische Reife, Kongruenz, Offenheit gegenüber Erfahrungen und kann durch Extensionalität charakterisiert werden, spricht Rogers vom Idealkonzept der „fully functioning person“. Diese ist der Realität nicht anzutreffen, jedoch als therapeutisches asymptotisches Ideal nützlich. Rogers bemerkt, dass dabei dieses Ideal nicht durch statische Attribute charakterisiert werden kann, sondern immer nur durch Prozessmerkmale: die fully functioning person ist eine Person, die fortwährend im Prozess befindlich ist und sich ständig verändert. Sie ist anpassungsfähig und befindet sich in einem laufenden Prozess der Selbstaktualisierung.

IV. Theorie der zwischenmenschlichen Beziehung

Rogers erweitert seine Theorie noch durch eine ausführliche an die vorherigen Theorieteile anschließende Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen, in der er Bedingungen, den Prozess und Ergebnisse gestörter sowie verbesserter Beziehungen detailliert ableitet und Ansätze eines Gesetzes der zwischenmenschlichen Beziehungen entwirft.27 Er weitet in einem letzten Teil der hier hauptsächlich behandelten Theoriearbeit [Rogers 1959] diese Theorien auf weitere Anwendungsfelder wie das Familienleben, Erziehung und Lernen sowie Gruppenleitung und Konflikte aus, was spätere wichtige biographische Stationen Rogers‘

bereits erahnen lässt.28

Weiterentwicklungen der Theorie

In seinem 1961 erschienenen Buch „On Becoming a Person“ beschreibt Rogers detailliert ein Kontinuum der Persönlichkeitsveränderung innerhalb der Therapie. Anhand der Qualitäten der geäußerten Gefühle könnte so die Position innerhalb eines Prozessphasenmodells bestimmt werden. Die erste Phase zeichnet sich durch eine noch eher starre und distanzierte Haltung aus, die nach der Erfahrung der Akzeptanz durch den Therapeuten in die zweite Phase übergehen kann, welche sich durch eine Auflockerung und größere symbolische Ausdrucksweise auszeichnet. In der dritten Phase werden unter weiterer positiver Wertschätzung und empathischem Verstehen auch die Ausdrucksweisen über das Selbst aufgelockert. Fühlt die Person sich weiterhin verstanden, akzeptiert und wertgeschätzt, kann er in der vierten Phase intensivere Gefühle beschreiben, sie können in manchen Momenten plötzlich hervorbrechen, werden aber selten offen akzeptiert. Es kommt zu einer Differenzierung der Gefühle und Ungereimtheiten zwischen Erfahrung und Selbst werden zum ersten Mal anfänglich gespürt.

In der fünften Phase können nun Gefühle spontan zum Ausdruck gebracht werden und werden fast vollständig erfahren. Es kommt zu einer größeren Offenheit Widersprüchen und Ungereimtheiten gegenüber und persönliche Konstrukte werden neu entdeckt oder kritisch hinterfragt. In der sechsten Phase wird die Unmittelbarkeit der Gefühle langsam akzeptiert, sie müssen nicht mehr geleugnet werden, eine Objektifizierung des Selbst nimmt ab und wird von einer Identifikation mit dem eigenen Gefühl abgelöst, wobei das Erfahren dieser Phase

26 Vgl. Rogers 1959 S.66-67

27 Vgl. Rogers 1959 S.72-78

28 Vgl. Rogers 1959 S.78-82

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Prozessqualität erhält. Es kommt zu freierer innerer Kommunikation, wobei Inkongruenzen bewusst wahrgenommen und in Kongruenzen aufgelöst werden. Das vollständige Erfahren wird zu einem neuen Bezugspunkt, wobei sich vorherige Selbstkonstrukte auflösen. Es kommt ebenfalls zu einer viel genaueren Differenzierung des Erfahrens, Probleme werden nicht mehr als Objekte betrachtet, sondern als Teil des Prozesses. Die siebte Phase ist davon ausgezeichnet, dass hier die Erfahrung von Gefühlen als klare Bezugsinstanz wahrgenommen wird, sie werden akzeptiert und als dem Individuum zugehörig empfunden. Dabei entsteht ein Vertrauen in den eigenen Prozess, wobei strukturgebende Aspekte durch ein Prozesserfahren ersetzt werden: eine neue Situation wird in die Zukunft hinein beurteilt und weniger aus der Vergangenheit heraus erfahren. Das Selbst wird seltener als Objekt, sondern eher als im Prozess befindlich wahrgenommen und Symbolisierungen und Erfahrungen sind kongruent.

Es entsteht ein Bewusstsein für die Offenheit der möglichen Zukunft.29

Aus dieser bisher dargestellten komplexen und wissenschaftlich-empirisch fundierten Theorie der Psychotherapie und Beratung lassen sich die drei sehr bekannten Grundbedingungen für gelingende Therapie oder Beratung ableiten. Wie wir sehen, sind diese jedoch nicht simpel aus der Luft gegriffen, sondern tief in der Persönlichkeitstheorie Carl Rogers‘ verankert. Die Kernbedingungen einer gelingenden personzentrierten Beratung oder Therapie lassen sich zusammenfassen zu:

1. Aufrichtigkeit und Kongruenz

2. Bedingungslose positive Beachtung und vollkommene Akzeptanz

3. Tiefes empathisches Verständnis spüren und dies auch vermitteln [Mearns et. al. 2016 S.35]

Mearns et. al. machen hierbei jedoch auch deutlich, dass es zwar einfach ist, diese Kernbedingungen so aufzulisten, um sie vollständig zu erlernen und voll zu leben es aber oft ein ganzes Leben dauern kann und dies auch das Leben der beratenden Person maßgeblich prägen kann.30 Da der personzentrierte Ansatz ein Feld vielfältiger und dynamischer Weiterentwicklungen ist, stellen dieselben Autoren im zweiten Kapitel ihres Lehrbuchs aktuelle Entwicklungen dar. Dazu fokussieren sie sich auf die Begriffe der Aktualisierungstendenz und der Störungsgenese. In seinen ersten beiden Hauptbeiträgen zur Persönlichkeitstheorie ([Rogers 1951, Rogers 1959]) ist das Konzept von Aktualisierungstendenz und Störungsgenese in etwa identisch. Im dritten Hauptbeitrag ([Rogers 1963]) ändert sich jedoch diese Sichtweise, in dem Rogers den der Aktualisierungstendenz entgegenwirkenden sozialen Kräften eine deutlich negativere Rolle zuspricht. Mearns et. al. erklären das mit Rogers‘ damaliger therapeutischer Situation mit den sogenannten „Chicago-Neurotikern“, Personen, die besonders durch introjizierte Wertvorstellungen in ihrem freien Leben eingeschränkt waren. Die Autoren weisen nun darauf hin, dass eine soziale Mäßigung ebenso wichtig sei und eine „Homöostase zwischen den Geboten der Aktualisierungstendenz und der sozialen Mediation“ [Mearns et. al. 2016 S.43]

eher die anzustrebende Veränderung sei, also die Berücksichtigung anderer Menschen des Lebens bei Erhaltung der eigenen gesunden Entwicklung.31

Dies führt sie zu einer Aktualisierung der Prämissen des personzentrierten Ansatzes:

Erste Prämisse: Die Aktualisierungstendenz ist die einzige motivierende Kraft.

29 Vgl. Rogers 1961 S.136-162

30 Vgl. Mearns et. al. 2016 S.35

31

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Zweite Prämisse: Die Anregungen der Aktualisierungstendenz tragen zu ihrer eigenen Mäßigung innerhalb des sozialen Lebens des Menschen bei. Diese Mäßigung wird „soziale Mediation“ genannt.

Dritte Prämisse: Zwischen dem Antrieb der Aktualisierungstendenz und der durch die soziale Mediation generierten Mäßigung entwickelt sich eine psychologische Homöostase. Das Konfigurieren und das Rekonfigurieren dieser Homöostase ist der „Aktualisierungsprozess“.

Vierte Prämisse: Eine „Störung“ entsteht, wenn die Person innerhalb ihres eigenen Aktualisierungsprozesses chronisch stecken bleibt, so dass das homöostatische Gleichgewicht nicht rekonfiguriert werden kann, um sich auf sich verändernde Umstände einzustellen. [Mearns et. al. S.51-53]

Damit überarbeiten die Autoren die Theorie der Aktualisierungstendenz durch die Einführung der sozialen Mediation, welche zu einer Homöostase innerhalb des Individuums führen kann.

Ebenfalls wird die Störungsdefinition in Richtung einer Dysfunktion der Rekonfiguration abgeändert. Daneben werden neue Konzepte der sogenannten Konfigurationen, welche eine Art Sub-Selbste bezeichnen u.a. als Abwehrmechanismen beschrieben. Ebenfalls wird der egosyntone Prozess, als Verarbeitungsmodus eingeführt. Bei diesem ist das Individuum lediglich in der Lage, die soziale Welt innerhalb des eigenen Erlebens zu verstehen, also nicht über den eigenen Rahmen hinausblicken zu können.32 Innerhalb dieser Arbeit konnte jedoch damit nur exemplarisch darauf hingewiesen werden, dass es eine Reihe moderner Erneuerungen der personzentrierten Theorie gibt, welche ebenfalls Thema aktueller empirischer Forschung sind.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die personzentrierte Theorie der Persönlichkeit und Veränderung der Persönlichkeit eine auf therapeutischer Erfahrung und empirischer Forschung basierende psychologische Theorie ist, die bis heute ein aktives Feld theoretischer und empirischer Erneuerungen darstellt. Es kann mit gewisser Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass die grundlegenden Ideen Carl Rogers‘, wie er sie in seinen drei Hauptbeiträgen zur Persönlichkeitstheorie dargestellt hat, heute immer noch ihre Spuren hinterlassen haben und der praktisch gelebten personzentrierten Beratung ein solides theoretisches Fundament als Orientierung bieten.

Literatur:

• Carl R. Rogers: Client-Centered Therapy: Current Practice, Implications and Theory. 1951.

Deutsch: Die klientenzentrierte Gesprächstherapie.

• Carl R. Rogers: A Theory of Therapy, Personality and Interpersonal Relationships as Developed in the Client-centered Framework. 1959. Deutsch: Eine Theorie der Psychotherapie. Ernst Reinhard Verlag 2009.

• Carl R. Rogers: On Becoming a Person. A Therapist’s View of Psychotherapy. 1961.

Deutsch: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten.

Klett Cotta Verlag 2020.

• Carl R. Rogers. Actualizing tendency in relation to "Motives" and to consciousness. In M.

R. Jones (Ed.), Nebraska symposium on motivation (p. 1–24). U. Nebraska Press 1963.

• Carl R. Rogers: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Fischer Taschenbuch Verlag 1983.

• Otto Rank: Technik der Psychoanalyse. 1926. Neuausgabe der Ausgabe von 1926 (Franz Deuticke) im Psychosozial-Verlag 2006.

• Norbert Groddeck: Carl Rogers: Wegbereiter der modernen Psychologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011.

• Dave Mearns, Brian Thorne, John McLeod: Personzentrierte Beratung und Psychotherapie in der Praxis. GwG Verlag 2016.

32 Vgl. Mearns et. al. 2016 S.45-67

(13)

• Klaus Sander, Torsten Ziebertz: Personzentrierte Beratung. Ein Lehrbuch für Ausbildung und Praxis. Juventa Verlag 2010.

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