Chantal Camenisch, Universität Bern
Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen
von extremen Witterungsereignissen, Klimavariationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700:
Konzepte und Beispiele
Einleitung
In der Vergangenheit waren menschliche Gesellschaften immer wieder mit Klimavariationen, extremen Witterungsereignissen und ihren teils positiven, teils negativen Folgen konfrontiert. Ob eine Bevölkerung gegenüber Klimavariationen und extremen Witterungsbedingungen verletz- lich war oder nicht, hing dabei nicht nur von der Intensität der klimatischen Schwankungen oder meteorologischen Ereignisse ab, sondern auch von landwirtschaftlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die eine Gesellschaft präg- ten, weshalb klimadeterministische und mono- kausale Erklärungsmuster zu kurz greifen.1
Gesellschaftliche Klimafolgen betrafen und betreffen den Alltag der Menschen direkt und unmittelbar. Sie gehören deshalb zu den in der Gegenwart und sehr wahrscheinlich auch in der Zukunft für die Schüler*innen erfahrba- ren Themen ihrer Alltagswelt und eignen sich somit im Sinne von Wolfgang Klafki als für den Unterricht geeignete Problemfelder.2 In ihrer Behandlung im Unterricht gilt es allerdings, einige Besonderheiten zu beachten, weshalb Bernd- Stefan Grewe auf Fallstricke und Perspektiven der Umweltgeschichte an der Schule verweist.3 Auf die
1 Mauelshagen Franz, Klimageschichte der Neuzeit. 1500-1900, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), 2010, S. 85.
2 Klafki Wolfgang, «Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik», in Klafki Wolfgang (Hrsg.), Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, 1963, S. 126-153.
3 Grewe Bern-Stefan, «Umweltgeschichte unterrichten: Für eine kri- tische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern.», in Düselder Heike, Schmitt Annika, Westphal Siegrid (Hrsg.), Umweltgeschichte. Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2014, S. 37-54. Im
Abstract
Societal climate impacts are complex social and economic phenomena and processes, such as subsistence crises, epidemic diseases or damage to infrastructure. They are triggered or influenced, but not caused by extreme weather and climate variability alone. This article briefly presents theo- retical approaches to climate impact on society and discusses examples from Switzerland in the period from 1300 to 1700 with a view to application in school teaching.
Keywords
Climate, climate impact on society, economic history of Switzerland, famine, epidemic diseases, pre-industrial period
Camenisch Chantal, « Wirtschaftliche und gesellschaft- liche Folgen von extremen Witterungsereignissen, Klima- variationen und Epidemien in der Schweiz, 1300-1700:
Konzepte und Beispiele », in Didactica Historica 7/2021, p. 1-10.
DOI : 10.33055/DIDACTICA HISTORICA.
2021.02.07
Vergangenheit bezogen, gehören die gesellschaftli- chen Klimafolgen exemplarisch in den Unterricht im Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften»
(RZG) im 3. Zyklus des Lehrplans 21 sowie ins Fach «Geschichte» der Sekundarstufe II. In diesem Artikel werden Vorschläge vorgestellt, wie sich gesellschaftliche Klimafolgen der vorindustriel- len Zeit in den Unterricht der Sekundarstufe II integrieren lassen und wo sich die Thematik auch über die vorindustrielle Zeit hinaus erweitern lässt.4 Zu diesem Zweck wurde der Fokus auf zwei Arten von Klimafolgen gelegt: Schäden an der baulichen Verkehrsinfrastruktur infolge von Überschwemmungen und Hochwasser einerseits und Subsistenzkrisen, die oft Epidemien nach sich zogen, andererseits.
Vorschläge zur Einbettung in den Lehrplan und in Unterrichtsgefässe auf der Sekundarstufe II
Um die Zusammenhänge von Klima, Witterungsverlauf und menschlicher Gesellschaft in der Vergangenheit zu verstehen, greifen die Schüler*innen auf Kompetenzen zurück, die sie im 2. und 3. Zyklus des Deutschschweizer Lehrplans 21 erworben haben.5 Die Geschichte der Hochwasser- und Überschwemmungsschäden an der baulichen Verkehrsinfrastruktur können dabei einerseits das Bewusstsein für landschaftliche und ver- kehrsplanerische Veränderungen im Verlauf
selben Band sind weitere geschichtsdidaktische Artikel enthalten, die auf die Integration von Umweltgeschichte in den Lehrplan eingehen.
4 Eine Vielzahl an Unterrichtsmaterialien zu verschiedenen Epochen und Aspekten der Umwelt- und Klimageschichte sowie konzep- tionelle Ansätze für den Unterricht enthält zudem Kuhn Bärbel, Windus Astrid (Hrsg.), Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht, Historica et Didactica. Fortbildung Geschichte 4, St. Ingbert:
Röhrig Universitätsverlag, 2013.
5 Zugang zum Lehrplan 21 für den Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG): https://v-fe.lehrplan.ch/index.
php?code=b|6|0&la=yes. Im 3. Zyklus sind dies etwa die Kompetenzbereiche RZG.1.2 «Geografie: Wetter und Klima», RZG.1.3 «Geografie: Naturphänomene und Naturereignisse» und teilweise RZG.2.1 «Geografie: Bevölkerung und Migration», die den Schüler*innen Wissen zu den meteorlogischen Phänomen vermitteln, welche auch für historische Witterungsereignisse gültig sind. Auch die Kompetenzbereiche RZG.5 «Schweiz in Tradition und Wandel» oder RZG.7 «Geschichtskultur» bieten Voraussetzungen für diese Thematik.
der Jahrhunderte schärfen, aber auch exemp- larisch Orts- und Regionalgeschichte anhand von Bauwerken, Bildern und schriftlichen Zeugnissen darstellen. Subsistenzkrisen und Epidemien gehören zur Alltagsgeschichte als eine Form von Wirtschaftskrisen, aber auch zum Kompetenzbereich «Schweiz in Tradition und Wandel verstehen». Auf der Sekundarstufe II bieten viele kantonale Lehrpläne Platz für Alltagsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit oder Regionalgeschichte, wenn nicht sogar explizit Umweltgeschichte oder das Themenfeld «Kleine Eiszeit» vorgeschlagen werden. Die Geschichte der Hochwasserschäden ebenso wie diejenige der Subsistenzkrisen und der Epidemien las- sen den Schüler*innen viel Spielraum, um ein Thema mit unterschiedlichen Quellengattungen zu bearbeiten. So bietet es sich an, diese Inhalte in Form von Gruppenarbeit oder eines
«Gruppenpuzzles» erarbeiten zu lassen, indem beispielsweise jede Gruppe andere Quellen analysiert oder unterschiedliche Aspekte von Hochwasser oder Subsistenzkrisen unter- sucht. Da Klimafolgen fächerübergreifende Themenfelder betreffen, ist eine interdiszi- plinäre Herangehensweise mit den Fächern Geografie oder Wirtschaft eine Option, was sich auch in Form einer Projektwoche umset- zen lässt.6 Mit der entsprechenden Vorarbeit der Lehrperson, insbesondere der Formulierung von Aufträgen und einer engeren Begleitung eignet sich die Thematik auch für die Sekundarstufe I.
Kleine Eiszeit und gesellschaftliche Klimafolgen
In den hier primär behandelten Untersuchungs- zeitraum fällt die «Kleine Eiszeit», die sich durch tiefere Durchschnittstemperaturen auszeichnete,
6 Ein sehr gelungenes und gut verständliches Beispiel für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen zum Zusammenspiel von Vulkanausbrüchen, Klima und gesell- schaftlichen Klimafolgen wird etwa in einer ARTE-Dokumentation zum Ausbruch des Samalas 1258 von Pascal Guérin gezeigt: Le mystérieux volcan du Moyen Âge / Rätselhafter Vulkanausbruch.
https://www.srf.ch/sendungen/myschool/raetselhafter-vulkanaus- bruch, konsultiert am 30.08.2020.
wobei die Temperaturen nicht permanent und konstant tiefer waren, sondern einzelne Kühlpha- sen, aber auch Normaljahre sowie Hitze- und Nie- derschlagsanomalien feststellbar sind.7
Zu den gesellschaftlichen Klimafolgen zäh- len verschiedene Phänomene und Prozesse, die einen mehr oder weniger direkten kausalen Zusammenhang mit Klimavariationen oder extre- men Witterungsereignissen aufweisen.8 Es können dabei sehr unterschiedliche (bio-) physikalische, sozio-ökonomische und kulturelle Ebenen betrof- fen sein, wobei je nach Ebene neben dem Klima- und Witterungsgeschehen weitere Faktoren die hier als Klimafolgen zusammengefassten Phänomene und Prozesse beeinflussen. Auch Bewältigungs- und Adaptionsstrategien gehören zum Bereich der Klimafolgen. Um wirtschaftliche und gesellschaftliche Klimafolgen besser einord- nen zu können, ist es sinnvoll, auch eine zeitli- che Unterscheidung vorzunehmen. Klimafolgen können sich ebenso wie deren Ursachen über
7 Behringer Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München: Verlag C. H. Beck, 2009, 120; zu den verschiedenen Phasen während der «Kleinen Eiszeit»: Pfister Christian, Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen, Bern et al.: Haupt, 1999;
Pfister Christian, «Weeping in the Snow. The Second Period of Little Ice Age-type Impacts, 1570-1630», in Behringer Wolfgang, Lehmann Hartmut, Pfister Christian (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der «Kleinen Eiszeit»/Cultural Consequences of the
«Little Ice Age», Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2005, S. 31-86; Camenisch Chantal, Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 5, Basel: Schwabe, 2015; Camenisch Chantal, «The Potential of Late Medieval and Early Modern Narrative Sources from the Area of Modern Switzerland for the Climate History of the Fourteenth Century», in Bauch Martin, Schenk Gerrit Jasper (Hrsg.), The Crisis of the 14th Century.
Teleconnections between Environmental and Societal Change?, Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beihefte 13, Berlin & Boston: de Gruyter, 2020, S. 43-61; Rohr Christian, Camenisch Chantal, «Klima und extreme Naturereignisse in der Schweiz, 1350-1850. Nutzen und Potenziale historischer und naturwissenschaftlicher Klimaforschung für die Archäologie», in Niffeler Urs (Red.), Die Schweiz von 1350 bis 1850 im Spiegel archäologischer Quellen / La Suisse de 1350 à 1850 à tra- vers les sources archéologiques. Akten des Kolloquiums / Actes du Colloque, Bern, 25.-26.1.2018, Basel: Verlag Archäologie Schweiz, 2018, S. 479-487, auch online unter http://www.
archaeologie-schweiz.ch/Kolloquiumsakten-SPM.338.0.html, konsultiert am 30.08.2020.
8 Mauelshagen Franz, Pfister Christian, « Vom Klima zur Gesellschaft. Klimageschichte im 21. Jahrhundert », in Welzer Harald, Soeffner Hans-Georg, Giesecke Dana (Hrsg.), KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt:
Campus Verlag, 2010, S. 241-269.
kurzfristige, konjunkturelle oder langfristige Ereignisse, Prozesse oder Abfolgen von Prozessen erstrecken.9
Welche gesellschaftlichen Folgen Klimavariationen und extreme Witterung nach sich ziehen und wie stark diese Folgen ausfallen, hängt von der Vulnerabilität und der Resilienz einer Gesellschaft gegenüber diesen Phänomenen ab.
Die Vulnerabilität bestimmt dabei, in welchem Ausmass und in welcher Art extreme Witterung und Klimavariationen Folgen auf ein System oder eine Gesellschaft haben. Diese Vulnerabilität hängt von verschiedenen Variablen ab – wie der topografischen Lage einer Siedlung, der Nähe zum Entstehungsort von Naturgefahren, der Verkehrsanbindung und Marktintegration ebenso wie von den politischen Gegebenheiten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Vulnerabilität ist im stän- digen Wandel und nicht statisch. Mit der Resilienz wird ausgedrückt, wie erfolgreich und wie schnell ein System Störungen bewältigen kann.10 Letztlich bietet die Diskussion der Vulnerabilität einer Gesellschaft der Lehrperson die Möglichkeit, viele Aspekte des Alltagslebens der Menschen in der vorindustriellen Zeit zu thematisieren und auch aufzuzeigen, welche Veränderungen im Zuge der Industrialisierung diese Vulnerabilität beeinflusst haben. Als Beispiele seien hier die Intensivierung der Landwirtschaft oder die Veränderungen im Transportwesen durch den Bau von Eisenbahnen genannt.
Quellen und Materialien für den Unterricht
Die Forschung zu gesellschaftlichen Klimafolgen stützt sich auf historische Quellen, welche gesell- schaftliche und wirtschaftliche Ereignisse und Prozesse festhalten. Für die Zeitspanne von 1300 bis 1700 bieten sich einerseits erzählende Texte
9 Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh». Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 4, Basel: Schwabe, 2015, S. 104-108, 205-209. Eine genauere Beschreibung findet sich auch in einer kürzeren Version dieses Artikels in der Didactica Historica 7/2021, S. 23-28.
10 Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…, S. 205-212.
aus dem Bereich der Historiografie an, etwa Chroniken oder Annalen. Viele Quellen die- ser Art sind in edierter Form oder als Original auf frei zugänglichen Repositorien und in Datenbanken erhältlich und können somit übers Internet konsultiert werden. Mit Euro-Climhist steht eine frei verfügbare Klima-Datenbank der Universität Bern mit einer Vielzahl von Einträgen zu unterschiedlichen klimabezoge- nen Themen und Epochen zur Verfügung, die von den Schüler*innen selbstständig oder im Klassenverband ausgewertet werden kann. Die Chronik des Berner Chronisten Valerius Anshelm ist beispielsweise über DigiBern als Pdf erhält- lich.11 Valerius Anshelm beschreibt immer wie- der extreme Witterung und die Folgen, die sich daraus für die Gesellschaft ergaben. Im folgen- den Zitat aus seiner Chronik berichtet er von einem zerstörerischen Hagelzug, der sich laut Julianischem Kalender am 22. Juni 1502 ereig- nete (im aktuellen Gregorianischen Kalender entspricht dies dem 1. Juli):
«Demnach uf den 22. tag Junii kam ein gru- samer hagel, ging von Jenf uber Bern, Zuͤrich und den Costentzerse hinuss in Swaben, zuͦm schmaͤlsten einer halben mil breit, mit steinen als hiener- und gaͤnseier, ouch groͤsser, wie der baͤr zeigt uf dem undren lantwerk am muͤns- ter – desse jars mit dem strebbogen gemacht – dieser linien dik. Erschluͦg in herd alle fruͤcht, low und gras, vil gfigel und tier, zam und wild; taͤt ouch grossen schaden an fenstern und daͤchern.»12
Wie Anshelm berichtet, zog der Hagelsturm von Westen kommend über Genf, Bern, Zürich und den Bodensee bis nach Schwaben, wobei er an seiner schmalsten Stelle mindestens eine halbe Meile breit war. Die Hagelkörner waren so gross wie Hühner- oder Gänseeier, wenn nicht sogar noch grösser. Anshelm verweist
11 Z. B. https://www.e-codices.unifr.ch/de, https://www.digibern.
ch/ oder https://www.euroclimhist.unibe.ch/de/. Zu Euro-Climhist siehe auch den spezifischen Artikel dazu in der Didactica Historica 7/2021, S. 149-155.
12 Blösch Emil (Hrsg.), Die Berner Chronik des Valerius Anshelm, Bd. 2, Bern: K. J. Wyss, 1886, S. 363.
zusätzlich für einen Grössenvergleich auf ein architektonisches Element am Münster – einen Bären – das seinen Lesern wohl bekannt war.
Diese riesigen Hagelkörner haben alle Früchte, das Laub und das Gras erschlagen, dazu noch viel Geflügel, Wildtiere und Vieh. Ausserdem hat der Hagel auch Fenster und Dächer beschä- digt. Anhand der Quelle von Anshelm liesse sich eine kritische Quellenanalyse durchführen.
Für wie glaubwürdig halten die Schüler*innen diese Schilderung und haben sie Vergleichbares schon selbst erlebt? Wieso wählte Anshelm den Vergleich mit den Hühner- und Gänseeiern oder mit der Verzierung am Münster?
Welche Folgen mochte ein Hagelsturm die- ser Grössenordnung für die Gesellschaft wohl gehabt haben?
Neben schriftlichen Quellen können auch Bildquellen, alte Karten und Pläne, Bauwerke, Spuren in der Landschaft und archäologische Überreste nicht nur wertvolle Informationen, sondern auch interessante Grundlagen für das methodische Arbeiten liefern.13 Je nachdem, wel- che Kompetenzen die Schüler*innen erwerben sol- len, lohnt sich ein Besuch in einem Staats- oder Gemeindearchiv.
Hochwasserschäden an Brücken im Gebiet der Stadt und Republik Bern
Die Schweiz mit den Alpen und dem Jura ist von einer grossen Zahl an Fliessgewässern und Seen durchzogen, die jeweils eigene hydrolo- gische Dynamiken aufweisen. Es gibt deshalb Grossereignisse, die mehrere Gewässer und Regionen betreffen, jedoch hat jeder Fluss oder Bach bedingt durch sein Einzugsgebiet und andere Eigenschaften seine eigene Hochwassergeschichte und letztlich jede Infrastrukturbaute ihre eigene Schadenschronik.14
13 Rohr Christian, Camenisch Chantal, «Klima und extreme Naturereignisse in der Schweiz, 1350-1850…», S. 479-480.
14 Hügli Andreas, Aarewasser. 500 Jahre Hochwasserschutz zwischen Thun und Bern, Bern: Ott Verlag, 2007, S. 32.
Brücken gehören für eine Gesellschaft zu den zentralen Infrastrukturbauten, da sie Zugänge zu Siedlungen ermöglichen, Verkehrswege passierbar machen sowie Waren- und Personentransporte beschleunigen und vereinfachen.16 Am Beispiel von Aarberg soll hier vorgestellt werden, wie anfällig Brücken jedoch gegen Hochwasser und Überschwemmungen waren.17 Hochwasser und
15 https://www.e-codices.ch/en/list/one/bbb/Mss-hh-I0016, konsultiert am 04.08.2020.
16 Bähler Anna, «Die Aare macht Geschichte», in Bähler Anna, Däpp Walter, Gruner Ueli, Lüthi Christian, Stalder Lisa, Steiner Markus, Witschi Franziska (Hrsg.), Berns Aare, Bern:
Haupt Verlag, 2013, S. 59-75, hier S. 64-67.
17 Zur Unterscheidung der Begriffe Hochwasser (überdurchschnitt- licher Wasserstand oder Abflussmenge eines Gewässers) und Überschwemmung (Überflutung einer Fläche ausserhalb des Gewässerbetts) siehe Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz an der Gürbe. Eine Herausforderung für Generationen (1855-2010), Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU) 7, Basel:
Schwabe, 2017, S. 78-79. Zu den Ursachen für Hochwasser siehe Vischer Daniel L., Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der
Überschwemmungen können anhand der Grösse des betroffenen Gebiets und anhand des Ausmasses der Schäden klassifiziert werden, die von leich- ten Schäden an Feldern, Gärten und Wäldern in Ufernähe bis zu grossräumiger Zerstörung von Ernten und Infrastrukturen in mehreren Gemeinden reichen.18 Mit den Quellen vor 1700 lassen sich oft nur mehr grosse und sehr grosse Hochwasserereignisse nachbilden. Eine Ausnahme stellen in der Schweiz die Wochenausgabenbücher der Stadt Basel dar, die sehr detailliert Auskunft auch über kleinere Reparaturen geben.19
Auch im Herrschaftsgebiet des Berner Stadtstaats kam Brücken grosse Bedeutung für den Verkehr und Warentransport zu. Das Städtchen Aarberg lag im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit auf einer kleinen Insel in der Aare, wo sich die Strassen von Bern nach Nidau und Biel sowie von Solothurn nach Murten und Avenches kreuzten.
Es ist dabei wichtig, sich vor Augen zu halten, wie sehr sich die Landschaft und der Verlauf der Aare über die Jahrhunderte verändert haben.
Heute fliesst die Alte Aare nur mehr an einer Seite der Altstadt von Aarberg vorbei, da der eigent- liche Fluss im Zuge der Juragewässerkorrektion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Hageneckkanal in den Bielersee umgeleitet wurde.20
Als Aarberg noch von der Aare umflossen wurde, überspannten zwei Holzbrücken, die aus demsel- ben Zeitraum stammten und 1271 erstmals in den Quellen erwähnt wurden, die beiden Flussarme.
Die Geschichte dieser Brücken zeigt, wie vulner- abel solche Bauten gegenüber Hochwasser waren und vor allem auch wie kostspielig deren Unterhalt und gelegentlicher Wiederaufbau war. So wurde
Schweiz. Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berichte des BWG, Serie Wasser 5, Bern: Bundesamt für Wasser und Geologie BWG, 2003, S. 9-13.
18 Salvisberg Melanie, Der Hochwasserschutz an der Gürbe …, S. 92-97.
19 Wetter Oliver, Pfister Christian, Weingartner Rolf, Luterbacher Jürg, Reist Tom, Trösch Jürg, «The largest floods in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instrumental evidence», Hydrological Sciences Journal, Nr. 56/5, 2011, S. 733-758.
20 Speich Chassé Daniel, «Die Korrektion der Natur», in Mathieu Jon, Bakchaus Norman, Hürlimann Katja, Bürgi Matthias (Hrsg.) Geschichte der Landschaft in der Schweiz.
Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, Zürich: Orell Füssli, 2016 S. 175-188.
Abb. 1. Bau der «Untertorbrücke» in Bern 1255/56. Diebold Schilling, Spiezer Chronik, Bern, Burgerbibliothek, Mss.h.h.I.16, S. 81.15
eine der Brücken 1414 bei einem Hochwasser, das durch einen Eisstau verursacht wurde, schwer beschädigt. Da in den Jahrzehnten davor die Stadt Bern ihren Einfluss bereits auf Aarberg ausgeweitet hatte, traten die dortigen Bürger anlässlich dieses kostspieligen Wiederaufbaus ihre Rechte an der Brücke, welche die Erhebung von Brückenzöllen einschloss und somit auch die finanzielle Last an den Berner Stadtrat ab.21
Im Sommer 1480 ereigneten sich Ende Juli Überschwemmungen an der Aare, der Saane und dem Rhein. Ursache dafür waren eine siebenwö- chige Regenperiode, die mit drei Tagen sintflutar- tiger Regengüsse zu Ende ging. Die Schäden dieses Ereignisses waren überwältigend und betrafen eine ganze Reihe von Infrastrukturbauten entlang der genannten Flüsse.22 In den Chroniken ist die Zerstörung der Brücke bei Aarberg zwar nicht beschrieben, aber nachweislich musste in den Jahren danach, um 1490, dort eine neue Brücke errichtet werden. Sehr wahrscheinlich war die Ursache für diesen Neubau das beschriebene Hochwasser 1480, denn in diesem Jahr wurde der Abt des Klosters Frienisberg dazu aufgefordert, 30 Baumstämme für den Wiederaufbau der Brücke in Aarberg zu liefern. Offenbar zogen sich die Bauarbeiten über längere Zeit hin, denn noch 1485 wurden Wagen dazu angehalten, den Weg über Aarberg zu mei- den, da sich die Aare dort nicht passieren liesse.23 Als Ursache für den verzögerten Wiederaufbau könnten finanzielle Engpässe der Stadt Bern infrage kommen, aber auch die Verkehrsplanung des Stadtrats, denn dieser wollte die Strasse über Gümmenen und Freiburg fördern.24
Im Sommer 1556 verursachten ausgiebige Regenfälle an vielen Orten in Europa Überschwemmungen.25
21 Die Landvogtei Aarberg war zwar prestigeträchtig, aber keines- wegs besonders einträglich. Siehe dazu auch Gerber Roland, Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich, Forschungen zur Mittelalterlichen Geschichte 39, Weimar: Böhlau, 2001, S. 439–441.
22 Siehe dazu auch Pfister Christian, Wetter Oliver, «Das Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein», Berner Zeitschrift für Geschichte, Nr. 73/4, 2011, S. 41-49.
23 Hunger Felix, Geschichte der Stadt Aarberg, Aarberg: Burger- und Einwohnergemeinde Aarberg, 1930, S. 129
24 Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis…», S. 73-80;
Geber Roland, Gott ist Burger …, S. 322-323.
25 Glaser Rüdiger, Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt: Primus, 2013, S. 113.
Auch die Aare führte zu dieser Zeit Hochwasser, wel- ches beide Brücken in Aarberg weggeschwemmte.
Sie wurden bereits 1557/1558 wieder aufgebaut.
Weniger als zehn Jahre später, 1566, war Aarberg erneut von einem schweren Hochwasser betrof- fen.26 Ausgelöst wurde dieses vorwiegend durch eine wegen kalter und nasser Frühlingsmonate verzögert einsetzenden Schneeschmelze Ende Mai, bei der in kurzer Zeit die hohen Massen eines schneereichen und langen Winters tauten.27 Der Berner Chronist Johann Haller beschreibt Schnee und Hochwasser in seiner Chronik: «[…] war die Aare so groβ, von vielewegen der Schneen, so vergangenen Winter gefal- len, deren Etlich bey den 40 gezählt […].»28 Ende Juni ereigneten sich zudem heftige Regenfälle, wie Franz Rudella aus dem nahen Freiburg berichtet:
«[…] regnet es den ganzen tag im ganzen land so unge- stuͤmicklichen, das die wassern gar gross wurdend.»29 Die Zerstörungen in Aarberg stellt wiederum Johann Haller in seiner Chronik dar: «zu Aarberg stieβ es die äussere Brücke hinweg, die ward folgen- den Winter und Frühling mit groβem Kosten wieder erbauen […].»30 Laut diesem Bericht wurde also die äussere, westliche Brücke fortgerissen, wobei der kurz darauf erfolgte Wiederaufbau sehr teuer war.
Mitverursacht wurden die hohen Kosten durch die neuen steinernen Pfeiler, die wohl die Brücke stabiler machen sollten – mit Erfolg, denn es ist bis heute bei dieser Konstruktion geblieben.31 Hochwasser der Aare gab es auch in der Folgezeit. Ein besonders schlimmes Ereignis dieser Art im Jahr 1651 hatte aber wohl auch durch die baulichen Veränderungen keine schweren Folgen für die Brücken von Aarberg.
26 Camenisch Chantal, «From the alpine mountain height to the Swiss Lake District: climate and society in the city and Republic of Bern from the 14th to the 16th centuries», in Kiss Andrea, Pribyl Kathleen (Hrsg.), The Dance of Death in late Medieval and Renaissance Europe. Environmental stress, mortality and social res- ponse, London & New York: Routledge, S. 89-106, hier S. 96-98.
27 Pfister Christian, Wetternachhersage …, S. 229-230.
28 Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen Handschriften des Joh. Haller und Abraham Müslin, von 1550 bis 1580, Zofingen: D. Gutermeister, 1829, S. 112.
29 Zehnder-Jörg Silvia (Hrsg.), «Die Grosse Freiburger Chronik des Franz Rudella. Edition nach dem Exemplar des Staatsarchivs Freiburg. Teil II», Freiburger Geschichtsblätter, Nr. 85, 2007, S. 670.
30 Gränicher Samuel (Hrsg.), Chronik aus den hinterlassenen Handschriften …, S. 112.
31 Domeniconi Eneas, «Brücken im Seeland und im Berner Jura», in Schüpbach Hans (Hrsg.), Berner Brückengeschichten, Chapelle- sur-Moudon: Ketty und Alexandre, 1997, S. 95-117, hier S. 98.
Nach ähnlichem Muster wie in Aarberg ist es für viele Gemeinden und Infrastrukturbauten möglich, eine Schadenschronik oder auch eine Hochwasserchronik mit den Schüler*innen zusammenzustellen, die sich nicht auf die vor- industrielle Zeit beschränken muss. Für die Recherche kommen einerseits die bereits beschrie- benen historischen Quellen infrage, aber auch Ortschroniken und ältere Geschichtswerke, die für fast alle Gemeinden in der Schweiz existieren.
Vielleicht gibt es in der Gemeinde neben alten Brücken auch Hochwassermarken zu besich- tigen, die an einem exponierten Gebäude oder einer Infrastrukturbaute angebracht sind?33 Die Hochwasser- und Schadenschronik könnte mit- hilfe von alten Zeitungsberichten, Fotos und durch die Befragung älterer Bewohner*innen der Gemeinde erweitert werden. Vielleicht sind
32 https://www.helveticarchives.ch/detail.aspx?ID=480568, konsultiert am 04.08.2020.
33 Zu den Hochwassermarken Rohr Christian, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Umwelthistorische Forschungen 4, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2007, S. 89-91.
sogar alte Karten und Pläne vorhanden, die den ursprünglichen Fluss- oder Bachverlauf aufzei- gen.34 Die meisten Schweizer Fliessgewässer, an denen sich Siedlungen befinden, sind im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte in irgend- einer Form korrigiert worden. Anhand von Kartenmaterial und einer Hochwasserchronik kann somit auch diskutiert werden, weshalb diese Gewässer verbaut wurden und welche Folgen dies für die Siedlungsstruktur hatte. Mit solchen Überlegungen soll bei den Schüler*innen neben der Kompetenz, verschiedenartige Quellen zu lesen und zu interpretieren, auch das Bewusstsein für die Zusammenhänge von Klima, Naturgefahren und Gesellschaft geschärft werden.
34 Alte Fotos, Ortansichten und Darstellungen sind beispielsweise über die ETH Zürich erhältlich https://www.e-pics.ethz.ch/de/
home/. Auch Pläne und Karten sind oft online erhältlich, z. B.
für Bern: https://www.unibe.ch/universitaet/dienstleistungen/
universitaetsbibliothek/recherche/sondersammlungen/kartensam- mlungen/500_jahre_thomas_schoepf/index_ger.html oder für Freiburg: https://www.fr.ch/de/mahf/sickingerplan-und-martini- plan-im-museum-fuer-kunst-und-geschichte-freiburg, konsultiert am 30.08.2020.
Abb. 2. Die Stadt Aarberg mit ihren beiden Brücken, Druckgrafik von Johann Ludwig Nöthinger, 1744, Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung.32
Missernten, Hungersnöte und Epidemien
Eine andere Art von Klimafolgen stellen Subsistenzkrisen oder Hungersnöte dar. Am Anfang dieses vielschichtigen Phänomens ste- hen auf der (bio-)physikalischen Ebene eine Temperatur- oder Niederschlagsanomalie oder ein oder mehrere extreme Witterungsereignisse wie Spätfröste, Dürren, Hagelstürme oder ausgedehnte Regenperioden. Diese Auslöser führen zu einem Rückgang von Erntemenge und -qualität von Kulturpflanzen, beispiels- weise von Brotgetreide. Dadurch steigen in der Folge auf einer sozioökonomischen Ebene die Lebensmittelpreise, wodurch eine Subsistenzkrise mit Mangelernährung und einer erhöhten Sterberate sowie niedrigen Geburtenrate auftre- ten kann. Sie kann dabei auch Auslöser für soziale Spannungen und Migrationsbewegungen sein. Auf der kulturellen Ebene kann eine Subsistenzkrise kirchliche Bittprozessionen oder die Ausgrenzung und Bestrafung von zu Sündenböcken erklärten Minderheiten und anderen Personengruppen zur Folge haben. Mangelernährung und krisen- bedingte schlechte hygienische Zustände begüns- tigen zudem die Verbreitung von Epidemien.35 Abhängig von der Art der Krankheit können das Klima und der Witterungsverlauf die Vermehrung und das Verhalten von Zwischen- sowie Endwirten oder Überträgern und somit die Epidemie an sich beeinflussen.36 Auf allen diesen Ebenen spielen weitere Faktoren eine wichtige Rolle und der Prozess verläuft nicht deterministisch, sondern kann unter entsprechenden Umständen auf jeder Ebene unterbrochen werden.
Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ereigneten sich zwischen 1300 und 1700 in unregelmässigen Abständen zahlreiche Subsistenzkrisen, die mit extremer Witterung zusammenhingen. So war die Schweiz auch von der «Grossen Hungersnot» zwi- schen 1315 und 1322 betroffen, welche als schwere Mortalitätskrise in die europäische Geschichte
35 Krämer Daniel, «Menschen grasten nun mit dem Vieh»…, S. 133-138.
36 Hoffmann Richard C., An environmental History of medieval Europe, Cambridge: University Press, 2014, S. 279-303.
einging. Auslöser waren mehrere Jahre mit kalten und nassen Frühlings- und Sommerjahreszeiten, wobei die Ursachen insgesamt aber vielschichtig sind.37 Die nächste grössere Krise, welche auch das Gebiet der heutigen Schweiz betraf, erfolgte in den 1430er-Jahren. Im Zusammenhang mit mehreren langen und kalten Winterjahreszeiten kam es europaweit zu einer Serie von Missernten, die eine Hungersnot zur Folge hatte. Weitere Subsistenzkrisen ereigneten sich zwischen 1477 und 1483 sowie kurz darauf zwischen 1487 und 1493. Auch diese Krisen stehen mit wit- terungsbedingten Missernten, aber ebenso mit kriegerischen Auseinandersetzungen in verschie- denen Teilen Europas im Zusammenhang. Im zeitlichen Umfeld aller drei Subsistenzkrisen des 15. Jh. berichten die Chronisten von Epidemien.38 Im Verlauf des 16. Jh. nahm die Zahl der Subsistenzkrisen im Raum der heutigen Schweiz sogar noch zu. Berner Getreidepreisreihen zeigen mehrere starke Preissteigerungen, die sich auch durch beschreibende Quellen bestätigen lassen, wodurch sich Subsistenzkrisen oder zumindest eine sehr angespannte Versorgungslage für ins- gesamt sechs mehrjährige Phasen feststellen las- sen. Betroffen waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Jahre von 1500 bis 1504, 1515 bis 1518, 1528 bis 1533 und 1543 bis 1546.39 Die beiden späteren Krisen in den Jahren 1571 bis 1575 und 1586 bis 1593 hatten schwer- wiegende Folgen für die Bevölkerung, die sich nicht zuletzt in mehreren Teilen Europas, aber besonders in der Schweiz, in grausamen Hexenverfolgungen niederschlugen.40 Zeitliche Überschneidungen mit Pestwellen gab es vor allem in den 1570er- bis 1590er-Jahren.
37 Camenisch Chantal, «The Potential of Late Medieval…», S. 52-54.
38 Camenisch Chantal, «Two Decades of Crisis: Famines and Dearth During the 1480s and 1490s in Western and Central Europe», in Collet Domini, Schuh Maximilian (Hrsg.), Famines During the « Little Ice Age » (1300-1800). Socionatural Entaglements in Premodern Societies, Cham: Springer, 2018, S. 69-90.
39 Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or three months.” Subsistence Crises in the City and Republic of Bern, 1315-1715», Food & History, Nr. 17/1, 2019, S. 37-64, hier S. 51-55.
40 Siehe zu den Zusammenhängen von extremer Witterung und Hexenverfolgungen Behringer Wolfgang, Witches and Witch- Hunts. A Global History, Cambridge: Polity Press, 2004, S. 90-101.
Zahlreiche Jahre mit hohen Getreidepreisen und Beschreibungen von Lebensmittelknappheit wur- den auch im 17. Jh. vermeldet. Vor der Mitte des Jahrhunderts ereigneten sich bereits sechs solcher Krisen in den Jahren 1609 bis 1615, 1622 bis 1624, 1628 bis 1631, 1635 bis 1639, 1642 bis 1645 und 1650 bis 1652. In der zwei- ten Hälfte des Jahrhunderts lösten ungünstige Witterungsverläufe drei weitere Krisen in den Jahren 1661 bis 1666, 1675 bis 1677 und 1690 bis 1695 aus. In mindestens vier Fällen ereigneten sich Pestepidemien während oder auch unmit- telbar nach den Hungersnöten. Neben extre- men Witterungsereignissen und den folgenden Missernten sind auch politische Geschehnisse wie Kriege Ursache für die Krisen.41 Die hohe Zahl der Krisenjahre zeigt, dass es sich nicht um Ausnahmefälle gehandelt hat, sondern um in unregelmässigen Abständen wiederkeh- rende Ereignisse, die ein Mensch, wenn er das Erwachsenenalter erreichte, mehrmals im Leben bewältigen musste. Es sind somit Ereignisse, die auch zur Alltagsgeschichte der Schweiz gehören. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Subsistenzkrisen nicht alle Bevölkerungsgruppen im gleichen Masse betrafen. Arme und auf Lohn angewiesene Menschen, die wenig Vorräte hal- ten konnten, litten schneller an Hunger und Mangelernährung und selbst innerhalb einer Familie wurde das Essen nicht gleichmässig ver- teilt. Bei längerem Andauern einer Krise und steigenden Lebensmittelpreisen verzichteten zudem viele auf nicht unmittelbar notwendige Anschaffungen, um sich Essen kaufen zu können.
Dadurch verloren aber Handwerker und Händler von nicht lebensnotwendigen Produkten ihren Absatzmarkt und letztlich selbst an Kaufkraft.
Es gab aber auch Personengruppen, beispiels- weise Getreidehändler und Grossgrundbesitzer, die sogar an einer Krise verdienen konnten. Die Obrigkeiten versuchten diese Bereicherung in der Regel zu unterbinden oder zumindest einzu- dämmen, wobei es aber zu bedenken gilt, dass
41 Camenisch Chantal, «“We did not eat bread for two or three months.” …», S. 51-57; Eckert Edward A., «Spatial and temporal distribution of plague in a region of Switzerland in the years 1628 and 1629», Bulletin of the History of Medicine, Nr. 56/2, 1982, S. 175-194, hier S. 175.
die Krisengewinner derselben Gesellschaftsschicht angehörten wie die Ratsherren selbst.42 Krisen, die ihren Ursprung in einem Ernteausfall hatten, betrafen somit mit unterschiedlicher Intensität auch Gewerbe fernab der Agrarwirtschaft.
Da Subsistenzkrisen oft vorkamen, sind viele Zeugnisse überliefert worden. Erneut bietet Euro- Climhist einen guten Einstieg in die entsprechen- den Quellen, während die vollständigen – oft älteren – Texteditionen nicht selten online auf- findbar sind. Anhand des Themenkomplexes der Subsistenzkrisen können sich die Schüler*innen ein Bild von den Lebensumständen der Menschen in der Schweiz und der wirtschaftlichen Abläufe in der vorindustriellen Epoche machen. Es gibt dabei viele Aspekte, die zusammen oder auch als einzelne Schwerpunkte untersucht werden können. Es kann beispielsweise diskutiert wer- den, womit die Menschen ihren Lebensunterhalt verdient haben und durch welche Umstände dieser Unterhalt gefährdet sein konnte. Gab es Möglichkeiten, sich gegen diese Gefahren abzusichern? In diesem Zusammenhang sind Strategien der Bauern zu nennen, die Ernteausfälle abfedern sollten, aber auch die Vorratshaltung von Individuen und Institutionen. Welche Massnahmen ergriffen die Obrigkeiten zur Bekämpfung von Subsistenzkrisen und welche Verantwortung übernahmen sie dabei für ihre Untertanen? Wen machten die Menschen für ihr Leid verantwortlich? In welchem Zusammenhang stehen Subsistenzkrisen und ihre Ursachen mit der Verfolgung von Sündenböcken wie etwa Minderheiten oder am Rande der Gesellschaft stehenden Personengruppen?43 Die Antworten auf solche Fragen fallen wiederum in den Bereich von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Welt, wie sie etwa im Lehrplan des Kantons Bern und darüber hinaus als Grobziel für die Gymnasialstufe formuliert sind.
42 Camenisch Chantal, «Wider den verderblichen Fürkauf.
Spekulation auf Getreidepreise und obrigkeitliche Massnahmen gegen diese Praxis in der Stadt und Republik Bern, 1480-1750», traverse n° 24/3, 2017, S. 35-50.
43 Antworten dazu beispielsweise in Pfister Christian, Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, Bd. 2: Bevölkerung, Klima und Agrarmodernisierung 1525-1860, Bern: Haupt Verlag, 1984.
Die Beschäftigung mit Klima und klimain- duzierten Krisen in der Vergangenheit kann Schüler*innen vor Augen führen, wie fundamen- tal menschliche Gesellschaften von den «natürli- chen» Gegebenheiten und von Umweltereignissen abhängig sind. Dies ermöglicht eine vertiefte,
historische Reflexion über den gegenwärtigen Umgang mit Klimaerwärmung, Umweltkrisen und der COVID-19-Pandemie und kann dabei unter- stützen, diesbezügliches menschliches Handeln zu hinterfragen und Verhaltensänderungen sowie Handlungen folgen zu lassen.
Die Verfasserin
Chantal Camenisch ist promovierte Historikerin.
Sie forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Bern und am Oeschger Centre for Climate Change Research zum Klima und den gesellschaftlichen Klimafolgen in der Vergangenheit.
chantal.camenisch@hist.unibe.ch
https://www.hist.unibe.ch/ueber_uns/personen/
camenisch_chantal/index_ger.html
Zusammenfassung
Gesellschaftliche Klimafolgen sind komplexe soziale und wirtschaftliche Phänomene sowie Prozesse, die durch extreme Witterung und
Klimavariabilität angestossen oder beeinflusst, aber nicht nur durch diese verursacht werden, wie Subsistenzkrisen, Epidemien oder Schäden an Infrastruktur. In diesem Artikel werden theo- retische Ansätze zu gesellschaftlichen Klimafolgen kurz vorgestellt und Beispiele aus der Schweiz in der Zeitspanne von 1300 bis 1700 im Hinblick auf eine Anwendung im Schulunterricht besprochen.
Keywords
Klima, gesellschaftliche Klimafolgen, Wirtschaftsge- schichte der Schweiz, Subsistenzkrisen, Epidemien, vorindustrielle Zeit