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Corinth und das Fleisch der Malerei

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Corinth und das Fleisch der Malerei

MICHAEL F. ZIMMERMANN

Fülleund Tod

Das Werk Corinths entzieht sich der Einordnung in alle ,,-ismen“. Der Künstler hatsich wedereinem impressionistischen noch einem expressionistischen Programm verschrieben. Vielmehrfolgt er einer vorallem malerischenTradition, die sich im 19. Jahrhundert durch­ gesetzt hatte und sich aus dervenezianischen, flämischen und hollän­

dischenMalerei, von Tizian und Veronese, Rubens, Frans Hals und Rembrandt herleitet. Corinthhat sichabseits der Strömungen gehalten, die mit Beginn des Pointillismus versuchten, das Kunstschaffen durch intellektuelle Theorien neu zu begründen.1 Die Pointillisten stützten sich auf die Physiologie des Sehens; sie zerlegten die Farbe und setzten sie wieder zusammen. Die Kubisten montierten von dreidimensionalen Dingen gleich mehrere Ansichten, um sie auf das zweidimensionale objet-tableau buchstäblich herunterzubrechen.

Doch Corinth schrieb noch 1908 ein Lehrbuch überdie Malerei in der Tradition derAkademien.2 Fürihnwardie Malerei eine Praxisund brauchte weder Grammatik nochRegeln.

Er wollte den Menschenzeigen, wie er ihnsah, nicht wie erihn wollte. Mitseinem Lebensweg, auf dem er von Anfang an kämpfen musste, erklärt der Maler sich selbst sein vehementes Temperament in den letzten Monaten vor seinem Tode. In seiner1926 posthum veröffentlichten Autobiographie ruft er Erinnerungen wach aneine verloreneJugendunter fünf Geschwistern,an den frühenTod einer dominanten Mutter, die1873 starb, als derMaler 14 Jahre alt war.

Schonungslos legt ersich überseinen Alkoholmissbrauch und ein Leben voller Exzesse Rechenschaft ab und führt sie auffehlendes Grundvertrauen und ein melancholisches oder gar depressives Temperament zurückß)Am Ende seines Lebens schreibt der Maler ohneVorbehalte von seinemSchlaganfall im Jahre 1911 undakzeptiert ihnals Bestrafung für vergangene Ausschweifungen

Passion und rauschhafter Genuss, Apokalypse und unschuldiges Glück, Martyrium und Bacchanal, dies sind die Extreme, denen Corinth seine Sujets entnimmt. ImWerk dieses Kämpfers vereintsich Phantasiemit Beobachtungund taucht instetsstarke Empfindungen ein. Corinth beziehtden Mythosund die Religion ineine naturalistische Vision ein, die immer konkret, immer präsent ist. Niemals verliert sich seine Malerei in Düsternisoder in Anspielungen auf entfernte Regionen, wirkliche oder eingebildete. Selbstin derHistorienmalerei spürt man die Präsenz des Modellsvor dem Eintritt in die Fiktion.

In Bildern wieSalome (Kat.-Nr.2/7) setzterbekannteAkteurewie Gertrud Eysoldt ein (vgl.Kat.-Nr.4/19). In Das Homerische Gelächter (1909, Kat.-Nr.2/18) lässter dieModelle amüsiert eine historische Szene spielen, wobei einigevon ihnen fast ironischdie Vorhänge zur Bühne desGemäldes aufziehen. AlsFigurenmaler porträtiert Corinth Körper,oftnackt, und verbindetsiemiteinanderineinerKomposition,

die nahe an die Oberfläche des Bildes, des Betrachters rückt. Die Modelleposieren, und Corinth setzt ihre körperliche Präsenzin Szene.

Der Mythos Corinth selbst ist Teil seines Werks. Als begabter Schriftsteller, dessen Sprache direktund von Barbarismen durchsetzt ist, zieht er denLeser in seinen Bann. Als Maler einer langen Serie von Selbstporträts konfrontiert er das Publikumunaufhörlich mitseinem Gesicht. Diese Bildnisse zeugen vonVerausgabung wie von Krankheit, vonvitalerEnergieebenso wie von Todesnähe, vomWachstumwie vom Verfall und versöhnen dieseGegensätze nurselten miteinander.

Oft- nichtnur inden späten Selbstporträts - spielt sichdas Leben soab, als handelees im Namendes Todes. Ebenso richtet sich der Tod im Leben, im Körper ein, wie eine sich ankündigende Zukunft.

Die KomplizenschaftvonLeben und Tod ist ein Mythos,derin der Geschichte seine Fortsetzung findet, insbesondere wenn die Kunst in Deutschlandgegen die etablierte Ordnung aufbegehrenwill. Wenn sichdie Kultur zwischen Rhein und Oder gegen die Obrigkeit auflehnt,

bietet sich Corinth als ebenso sensible wie heftige Charakterfigur an. Vielleicht stärker alsOtto Dixwar er eine SchlüsselfigurderDDR- Malerei. Doch viel wirksamer, wenn auch untergründiger, wirkt der Mythos Corinthim filmischen Schaffen Rainer WernerFassbinders fort.

Trotz einer Reihe von Neubewertungen, zunächst, nach1945, der Aufwertungder Porträts und des Spätwerks, dannder vermeintlichen Wiederentdeckung seiner Geschichtsbilder prägen bis heute zwei Werkgruppen das Bild Corinths: die lange Reihe der Selbstbildnisse - miteinemPanamahut oder im Harnisch,neben einem Skelettoder in Gesellschaftseiner Muse - und dieLandschaftsbilder,die Corinth, der bis dahin vor allemFigurenmalerwar, auf den16 Reisen malte, dieerzwischen 1918und1925 an denetwa 70Kilometersüdlichvon München gelegenen Walchensee (Kat.-Nr. 5/5-5/14; Abb.l) unter­

nahm. In diesen beiden Gruppen kann man die Spuren derTeillähmung nach seinem Schlaganfall erkennen. Im Verlauf dieses Prozesses, während seiner langen Rebellion gegen den Tod, scheint Corinth bereitsAbstand von der Arbeit des Malenszu nehmen. Die Malerei wird einfacher, das Materialreduziert sich immer mehr auf seine leb­

lose Präsenz. Doch bleibteintrotzigerLebenswillen,der sich wie dem Tod zum Trotz ausdrückt, immer gegenwärtig in der starken Farbe und in den wenigenPinselstrichen, deren entschiedenenNachdruck Corinth dem Zitternder schwer gewordenen Hand abgerungenhat.

Der Maler alsKomplize des Todes: ein gefährlicher Mythos - als obdas Leben nur unter dem Schattendes Todes paradieren, nurin seinem Namentriumphierenkann!

Dasspäte Werk warnichtdas einzigeZeugnis dieser Inszenierung.

Bereits in seinen Historienbildern erzählt Corinth Episoden einer morbiden Vitalität, indem er den Betrachter ständig zugleich in Originalveröffentlichung in: Lorenz, Ulrike (Hrsg.): Lovis Corinth und die Geburt der Moderne : [der Katalog erscheint anlässlich der Retrospektive zum 150. Geburtstag von Lovis Corinth (1858 - 1925) in Paris, Musée d'Orsay, 1. April 2008 - 22. Juni 2008, Leipzig, Museum der Bildenden Künste ...], Bielefeld 2008, S. 320-328

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die Fiktion und deren Widerruf einführt, schwankend zwischen Geschichte undPose. HinterderbarockenOpulenzdererzählenden Szenen, auch in berauschenden Festen, kommt diedepressive Seite dieser Maskerade zumVorschein. In der Ausstellung kann man diesen Bewegungenfolgen,die aus heutiger Sicht die Karriere desMalers bis an sein Ende gekennzeichnet haben: dasso eloquente Ende der Historienmalerei im Figurenbild. Corinths Weg wird charakterisiert durchdie Ambiguität der Parodie oder - genauer - der Travestie: einer Salome, gespielt von der Eysoldt,die,anstatt die Tochter vonHerodias darzustellen,sich inPosestellt und zuerklären scheint „hierstehe ich inder Rolle von [...]“ (Kat.-Nr. 2/7, vgl. Kat.-Nr.4/19). Die Fiktion der grausamenbiblischenSzene kollabiert im Hier und Jetzt.

Doch nicht nur Corinths Hauptwerke aus seiner Reifezeit, den Berliner Jahren von1900 bis 1912, sindvon Ambiguitäten geprägt, besonders dervonErzählung und Pose. DasFrüh- ebensowie das Spätwerkstehen unter dem Zeichen des Gegensatzes. Nach dem Schlaganfall spielt Corinth die strahlende Natur und den Verfall seinesGesichts gegeneinander aus.DerjungeMaler hatseinen Stil der Darstellungdes Körpers aus dem Kontrastdes lebendigen und toten Fleisches heraus entwickelt. Seit dem Renaissance-Humanismus hatte die Kunsttheorie ein Gemälde meta­

phorisch als Organismus bestimmt, später bezeichnete man die Leinwand gar als Haut.

Der Gegensatz von„Inkarnat“ -etymologisch die „Farbedes Fleisches“- und Blut radikalisiert diese Metaphorik. Denn das Blut istja nicht nur jenes, das im Organismus zirkuliert, sondern auch das vergossene Blut des geschlachteten Tieres. Erst in seinen reifen Jahreninterpretierte Corinth sein Jugendwerk als Fest des Fleisches in allen seinen Schwingungen zwischen der Haut und dem Schlachtvieh. Dieser Mythos geht in dieSubstanzdes MediumsMalereiein.

Er liegt dem Phänomen „Corinth“, der kunst­

voll inszenierten Selbstdarstellung des Malers, zugrunde. Man kann diesen Mythos weiter feiern, sich immer noch an diesem „Karneval“

der Malerei berauschen - ein anderes Wort, dasetymologisch auf das Fleisch Bezug nimmt.

Doch darf man dazu Distanz auch wahren, ohne die Reichtümer dieser so grundlegend malerischen Malerei prüde in Frage zustellen.

posthumenAutobiographieso wichtig werden sollte. Er siedelt seine Kindheit in der Gerberei seinesVaters an einem Fluss an, gegenüber der Ostpreußischen Landes-Besserungsanstalt, einem multifunk­ tionellen Heim, das Altenasyl,Gefängnis undErziehungsanstalt für renitente oder kriminelle Kinder und Jugendliche war. Diese Nähe zu den von der Gesellschaft Ausgeschlossenen interessiert Corinth jedoch nureinführend, en passant. Die Arbeit des Gerbers und seines Freundes, eines Fleischers,der ihm die Felle besorgt,faszinieren ihn viel mehr. Ererinnertsich daran, wieder Fleischerjunge eine noch feuchte Haut im Flur des Gerbersauf den Boden warf, um denPreis auszuhandeln. DerGerberwiederholte diese Geste,so dass sichunter dem noch feuchten Leder Blasen bildeten. Inzwischen schnittHeinrich Umrissevon Pferden aus Papier. In diesem Text von1909 lobt sein Vater das„komplette“ Äußere eines Hengstes alseine etwas frühreife Entdeckung. In seiner 1926 erschienenen Autobiographie führt Corinth seine Erinnerung an die Erregung an, dieihn erfasste, alser ein Pferd sah,das eine Stute deckte.6 BereitsdermitDialogen im Dialekt ver­ sehene Text von1909 liefert starke nahezufilmische Beobachtungen.

Einige Seiten - und einige Jahre -später erzählt Heinrich sein Leben in der Akademiezeit. Doch erwähnt ernicht die Ateliers, in

1 Lovis Corinth,Walchensee,Blick auf Wetterstein.1921, Öl auf Leinwand, 90x 119cm,StiftungSaarländischer Kulturbesitz, Saarlandmuseum Saarbrücken(BC 813c)

Blut...

In der Legende, die Corinth von sich schuf,greifter zuerstFleischereien und Schlachthöfe auf. 1909 lässt er den Leser nicht über den fiktiven Charakter seiner Schriften im Unklaren. In seinem BuchLegenden aus dem Künstlerleben spricht Corinth über den Maler Heinrich Stiemer und nenntden Essay „Aus meinemLeben“. Wie auch die Historienbilderversetztdie Legende diesesHeinrich den Leser gleich­ zeitig in die Gegenwart und in die Fiktion.5 In diesem Text spricht Corinth nicht von seinen Geschwistern oder vonseinem Privileg,als einziger einGymnasiumbesucht zu haben,eine Tatsache, die in seiner

denen Malerei auf traditionelle Weise unterrichtet wurde. Corinth behält diesen Aspekt seinem ein Jahr zuvor veröffentlichten LehrbuchDas Erlernen der MalerePvor. Statt den institutionellen Anfängen einer Künstlerkarriere beizuwohnen, findet sichder Leser in einem Schlachthaus wieder. „Heinrich Stiemer, Akademiker“ - so seine Visitenkarte - wurde mit Spitznamen wie „Quadratmaul“,

„Briefkasten“ oder„großer Gipsknecht“ bedacht. Letzterer war eine iro­ nischeAnspielungauf seine Erfolgebeim Abzeichnen von Abgüssen antiker Skulpturenin der„Gipsklasse“. Doch vor dem Modell machte

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er sich rar.Erhatteunter seinenVerwandteneinen Fleischermeister.

Dieser „machte ihnmit den Mysteriender Stadt bekannt undwirkte ihm auch den BesuchdesSchlachthausesaus". Wirlesendort, dass sichdas Wasserdes Pregels, der durchKönigsberg fließt, während der Schlachtzeit rot färbte.Stiemer„versuchte[...],allesmöglichezu kon­ terfeien", wobei er von den Arbeitern verspottet wurde. „Weißer Dampf rauchteausden aufgebrochenen Leibern der Tiere. Eingeweide,rote, violette undperlmutterfarbige,hingen anden eisernen Pfeilern. Das wollteHeinrich alles malen.“8.

Sein Verwandter verstand es besser als jeder andere, dieTiere zuschlachten. Corinth erzählt in allen Einzelheiten, wie dieser einen Ochsen schlachtet und beschreibt den leeren Blick desTieres und das wie verächtliche Lächeln des Kopfesdes Tieres, der, auf einen Pfeiler gespießt, mit den ausdrucklosenAugäpfeln ineinen blauen Sonnenstreifen hineinstiert. Ein Fleischer verspottete den Maler, dessen Beruf erfür unnützhielt.Aufdie Frage, ob erauchein der­

artigesGesichtabmalenkönne, antwortete ihm der Künstler: „Wenn Sie noch ne Zitrone ins Maul nehmen, will ich Sie so treffen, daß jeder Sie meilenweit kennt!“9 Dem Fleisch galt also, nach Corinths

Bekenntnis aus dem Jahre 1909, sein Hauptinteresse, mehr als demAkt im traditionellen Sinne, dener amModell hätte studieren müssen. Im Werk des jungen Malers findet manin derTat eine Reihe vonSzenen aus der Schlachterei (Abb.2). Auf einem Gemälde aus demJahr 1893 (Kat.-Nr. 3/1) sieht man das Fleisch eines gerade geschlachteten Rindes glänzen, das an seinen Hinterbeinen auf­ gehängt ist. Drei Fleischer enthäuten es, während sich ein vierter die Ärmel aufkrempelt.Aufdiesem rasch gemalten Bildsieht man jedoch,wiesich das Rot und das Weiß unterschiedslos auf dem Tier

und den Fleischern, auf dem Fleisch undder Haut,auf den Wänden und letztendlich auf der gesamten Leinwand verteilen,außer auf den wenigen Sonnenstrahlen,die durchdas grüne Blätterwerk fallen, das man oben hinterdem Gitter eines kleinen Fensters sieht. Vier Jahre später stellt Corinth das rot eingefärbte Lächeln eines Jungen dar, derein Tablett mit Fleisch vorKadavern an der Wand präsentiert (Abb. 3). Amopulentesten jedochist das Bildeines ausgeschlachteten und aufgehängten Ochsen, dessen Haut halb abgezogen ist, so dass sie, wie eine Leinwand, als Hintergrund für den strotzenden Kadaver dient (Kat.-Nr. 3/2). Der Fleischer im Schatten wirdin den Hintergrund gedrängt, in dem er noch mehrverschwindet als ein weiterer Kadavervor der Wand. Die perlmutterartigschimmernden Farben desFleisches und das weiße Fett bilden mit den Rottönenein wunderbares Ensemble des Niedergangs - eine erhabene Karkasse, schön und schrecklichzugleich. Es gibt dafür natürlichein berühmtes Vorbild.Beiseinem Aufenthalt in Paris(1884bis 1887) hat Corinthim

Louvre sicher Rembrandts Bild gesehen (Abb. 4). Da er aberseiner Signatur den Namen desDorfes- Blankenburg -beifügt, an dem er den Kadavermalte, gibt Corinth zu verstehen, dass er, auch wenner der Tradition folgt, das Tier so aufgehängt gesehen, Rembrandt also vor der Naturerneuert hat.

...und

Inkarnat

Der Verarbeitung des toten Fleisches entsprichtdie Darstellung des lebendigen Inkarnats,inder Corinth brilliert. Die Reihe von Gemälden weiblicher Akte mit einem oder mehreren Modellen, bei denen eins bisweilen keusch seine Brüste hält, wodurch man aberdoch auch die Geschmeidigkeit der Haut spürt, beginnt mit einem Gemälde, das reichlich rätselhaft Innocentia (Kat.-Nr. 2/2, Abb. 6) betitelt ist. Der Symbolismus hat dieJugend in der Malerei, diesen Zustand an der Schwellezwischen Kindheit und Erwachsenendasein, oft ins Bild gebannt,wenn nicht sogar entdeckt. Corinth stellteine sehr junge Frau dar, die mit ihren dunklenAugen denBetrach­

ter melancholisch und zugleich sinnlich anschaut.

Ein wenig ängstlich hat sie ihren Körper ent­

blößt,als hätte sie der Maler zum ersten Mal gebe­ ten, für ihn zu posieren. Aufdem leicht geneigten

Kopf mit den dunklen Haaren hat sie einen rosa­ violetten Schleier ausgebreitet,ein in einem solchen

Kontext ungewöhnliches Accessoire, das ihr ein madonnenhaftes Aussehen verleiht. Der Maler hat sorgfältig Augen, Mund, Nase und ein sinnlich aufgeworfenes Kinn fein ziseliert. Er widmet dieselbeAufmerksamkeit den kleinen Händen, an denen Grübchen zwischen den Fingern den Druck sichtbar machen, den sie auf den Körper ausüben. ImInkarnat sinddie Pinselstriche breiter und werden bei Schleier und Hintergrund gestisch ausgeführt. Die Palette der Hauttöne entfaltetsichzwischen dem Rosa-Violett des Schleiers unddem Olivgründes heruntergezogenen Kleides.Weißtöne überfluten lieblich dasgesamte Gemälde, so dass es vollkommen in der Weichheit des Inkarnats zu leben scheint.

2 Lovis Corinth, Schlachterei, 1892, Öl auf Leinwand auf Pappe, 34 x 41cm, Kunsthalle Bremen - Der Kunstvereinin Bremen (BC 87)

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Corinth hat dasModellsonahewiemöglichandie Bildflächegerückt undihm nurwenig Raumgelassen.ImÜbrigen entwickeltsich das Modellweder ineinemperspektivischen Raumkasten noch in einem Rembrandt'schenLichtraum, sondern ist ehervon einigenPinselzügen oder breitenKurvenumgeben,beinahe gestreichelt. DerMalerhat den Titel sorgfältig in Großbuchstaben und in Anführungszeichen auf die Leinwand geschrieben und aufder gegenüberliegenden Seite - eine Symmetrie umdas Gesicht herumbildend -seinen Namen in kleineren Schriftzügen angebracht. Durch diese Signatur tritt Corinth fastschüchtern hinter dieDirektheit seinesmalerischen Tuns zurück.

Beide Inschriftenzusammen erinnern an religiöseThemenwie eine Mater Dolorosa von Guido Reni10 oder eine Büßende Magdalena Tizians"- Motivtraditionen, andieder Malervielleichtmit ironischer Distanz anknüpft. Durch die diskrete, aber unübersehbare Anbrin­

gung der Texte rückter auch vonder Nähe des Modells etwas ab.

Doch gerade dieseDistanzierung kannman als eine zweiteInbesitz­

nahme lesen: der Maler schlägt seine eigene Interpretation des Gemäldes vor und verwandelt dasModellin eine Allegorie.

Die Geschichte des Gemäldes ist nicht wenigerverwirrend als die Vermischung des sinnlichen Interesses

des Malers für die junge Frau mit jener Naivität, die erihr durch denTitel unterstellt.

Wilhelm Wellner, ein Akademiekollege in Königsberg,der Corinthzwischen 1889 und 1891 nahe stand, zu derZeit, da dieser seine Erbschaftsangelegenheiten nach dem Tode seines Vaters inKönigsberg regelte, hat eine bestürzende Episode überliefert. Um 1894 überwarf sichWellner,damals Karikaturist, mit Corinth -einZerwürfnis,dasnichtohne Bezugzu diesem Gemälde steht. Im Nachlass von Wellner hat WalterStephan Laux ein Manuskript gefunden, das wahrscheinlich aus dem Jahre 1926 stammt, sicher aber nicht vor 1913 geschrieben wurde, in dem der Karikaturist darüber schreibt, wie seine Freundschaft mit dem berühmt gewordenen Maler beendet wurde. Corinths Vater soll eine Beziehung zum Dienstmädchen des Hauses gehabt haben, einer jungen jüdischen Frau aus Litauen, von der man nur den Vornamenkenne:Johannche.Nach dem Tod des Vaters soll sich der Sohnindie Magd ver­ liebt haben. Als Corinth 1891 Königsberg ver­

ließ, hätte er ihr eine kleinePension gezahlt. Wellner schreibt ebenfalls, Corinth habe sie gemalt. DerKarikaturist schreibt weiter, Mitte der neunzigerJahre hätte sich bei ihm ein jungerMann als Verlobter des Mädchensvorgestellt. Erhätte ihm erzählt, dassJohannche die uneheliche Tochter vonCorinthsVater sei, und weitere Einzelheiten erfragt. Wellner berichtet, er hätteüber dieseneigenartigen Besuch anseinenFreund, denMaler, geschrieben,derihmin derAntwort vor­ geworfen habe, sich ineineErbschleichergeschichte einzumischen.Ein Foto erhellt dieFakten nicht:Wellner, von Corinthbeauftragt, seine

Werke im Atelier in Königsberg zu fotografieren, hatte eine Aufnahme von Johannche verdorben, indem er zwei Fotosauf einundderselben Platte belichtet hatte.Das aufbewahrteFoto scheint jedochnicht das junge Mädchen aus dem Gemälde Innocentiadarzustellen, sondern eine recht stämmige Frau mittlerenAlters.12 Es wäremüßig,über diese Inzestgeschichte zuspekulieren. Sie zeugt jedochvon einem eigen­ artigenVerhältniszwischendemMaler und seinem Modell, dassich durchausspäter ausgenutzt gefühlt haben kann.

Innocentia ist dasersteAktbild, das Corinth so eng in den Bild­

ausschnitteinpasste, dass die körperliche Sinnlichkeitdes Modells - oderder Figuren - die gesamte Komposition einnimmt. Man könnte eine lange Reihe vonWerkenanführen, für die hiernureinige Beispiele stehen sollen: in den Hexen (Abb. 7) schmückenFrauen ein junges Modell für einen Maskenball. Im Mittelpunkt des Bildes entsteigt die junge Frau ihremBade und wendet sichin der Blüteihres Fleisches dem Betrachter zu. 1904, im Harem (Kat.-Nr. 2/12), fasstCorinthdas Motiv desTürkischen Bades vonIngres(1862)’3 und Manets Olympia (1863)14in seiner eigenenSprache zusammen: hinter einer Katze und vor einem schwarzen Eunuchenpräsentieren sich vier Frauen unter

allenBlickwinkeln, von hinten, von vorn undvonderSeite,wobei sich eine ihreBrüste hält. 1910 in Die Waffen des Mars haltendrei Puttidie Rüstung des Kriegsgottesund werden voneiner Venusbefehligt, die sich gerade ihr rotes Kleid über denKopf auszieht(Kat.-Nr. 2/20).

Corinth zeigt sich in den weniger anspruchsvollen Aktenebenso sinnlich wie in seinen Historienbildern. Nur selten findensich, wie in dem BildLiegenderAkt vonl899 (Kat.-Nr.3/3), erotischeAnspielungen, wie derStrumpf,dendie Frau im zerschlafenen Bett noch aneinem ihrer Füßeträgt. Obwohl sie den Kopf nach hinten dreht, wie um 3 Lovis Corinth, Schlachterladen in Schäftlarn an der Isar. 1897, Öl auf Leinwand, 69 x 87 cm, Kunsthalle Bremen - DerKunstverein in Bremen (BC147)

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ihren Schlaf in der Dunkelheit des Hintergrundes wiederzufinden, hat Corinth ihren Körper vor dem Blick des Betrachters ausgebreitet.

Nacktheit (Kat.-Nr. 3/9), ein Bild mit programmatischem Titel, 1908 gemalt,istvielsagender. Begleitet von zwei Putti-Porträts von Thomas Corinth, der damals vierJahre alt war -posierteinüppiges Modell nackt für den Maler- und den Betrachter- aufeinemBett.

DasLachsrot des Bettes bleckt unterderSchulterunter demLaken durch;es scheint sichaufalleÖffnungen undin dieTiefender Falten des Körpers auszubreiten. Die Farben ähneln so durchaus denen des Ochsen (Abb. 5) und seiner „rot und bläulich schimmernden Eingeweide", die Corinth „malen wollte". In diesem Fall hat die GegenüberstellungdesMalersmit dem Modell nichts Pikantes:die Frau schautden Betrachter,demsie ihren Körper darbietet, unver­

mittelt an, miteinem Blick, dersich seiner erotischenAnziehungskraft bewusst ist und nicht ohne Ironie verdoppelt wird von dem - unschuldigen - Ausdruck des Putto, der dem Maler, der zugleich

4 Rembrandt, Der geschlachtete Ochse,1655, Öl aufHolz, 94 x 67 cm, Museedu Louvre, Paris

Betrachter ist, zuwinkt. Um 1905 bis 1909 reimt Corinth in seinem Werkwie inseinen Schriften Blut und Inkarnat, das lebendeund das tote Fleisch, sanguis und cruor.

Der Mythos der Malereials OrteinerzweitenInkarnation unddes Malers alseinem zweitenSchöpfer geht auf die Renaissance zurück.15 In seiner Abhandlung von1435 preistAlbertidie Malerei,die fähig sei,

den dargestellten Menschen durch die Wiedergabe derMimikund der Physiognomie, der Gesten und Handlungen Leben zu verleihen, aber er rühmt auch die Fähigkeit des Künstlers, den Tod zu zeigen.

Paradoxerweise sieht er dies als den höchsten Beweis desGegenteils, der Fähigkeitdes Malers, seine Figuren beinahe lebendigzumachen.

„In Rom lobpreist man eine Geschichte, in der man Meleager tot hinwegträgt, weil diejenigen,dieihn tragen, gequältaussehen und alle ihre Glieder nur mühsamfortzubewegen scheinen. In einem toten Körper darf es kein Glied geben, das nicht tot scheint; alle hängen herunter,dieHände,die Finger, der Kopf, alle fallen matt, alle drücken den Tod des Körpers aus.Unddas ist das Schwierigste, denn es ist das Werk einesgroßen Künstlers, die Glieder in allen Teilen des Körpers in Ruhe zuzeigen,ebenso wiesie lebendigzu machen und sie dar­

zustellen,wiesie eine Handlungausführen.“16

Die Metapher, nach der eine gemalteKompositiondie „historia“, die sie erzählt, nur wirklich zum Leben erwecken könne, wenn sie selbstein gleichsam lebendiger Organismus sei, wird bei Alberti in ihrem Ursprungfassbar. Ihrwar eine lange Geschichte beschieden, die eine kritische Metaphorologie in den letzten Jahren aufgear­

beitet hat.17 Sujets,diedasLeben mit demTod konfrontieren, wie die „Grablegung Christi“, die „Pieta“, die „Kreuzabnahme", die

„Totenklage“oder auch der „Tod vonKleopatra“sollten bald Raffael, Rosso Fiorentino, Pontormo oder Bronzino die Gelegenheit geben, lebhafte Menschen mit leblosen Körpernzu konfrontieren. Vor dem Hintergrund des Petrarkismuskann sich einGemäldevonGiorgione oder Tizian mitder Substanzdes idealen weiblichenKörpers, dem es schmeichelt,selbst erfüllen. Daniela Bohde undMechthild Fend haben die Metapher des Kunstwerkes alslebender Organismus in der Kunsttheorie und der Praxis desMalensdurchleuchtet.18 Bohde zeigt, dass in derKunsttheorie des 15. und16.Jahrhunderts selten vonderHaut gesprochen wird,sonderneher von carnagione, denn sie schließtsich dem topos des Bildesan,das als lebendigerOrganismus betrachtet wird. Die Haut war seit dem Mittelalter das schlecht­

hin Vergängliche, vom Altern und vom Tod bedroht.19 Erst in der französischen Kunstliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts wird die Haut als Hülledesmenschlichen Körpers betrachtet,die den Vorteil bietet,dass dessenidealeFormnicht, wie bei den Tieren, verborgen wird.Im Artikel „Sensibilite“dervon D’AlembertundDiderot heraus­

gegebenen Encyclopedie (1751-1772) wird die Haut gar als „ner­ vöse Leinwand“beschrieben20. Bereits in der antikenCharakterologie wurde dasInkarnat wegen seiner Fähigkeitgerühmt, alle Farbtöne zu vereinigen. Es stellt damit diequinta essentia im Farbenreich dar. Nach dem umstrittenenKunsthistoriker Hans SedlmayrverleihenBlau-und Grüntöne den Inkarnatstönen bei Rubenseine Vollkommenheit, diein sich, wie Perlmutter,die gesamte Farbpalette vereine.21Dadurch ent­

sprechedas Inkarnat jener Ganzheit,der Sedlmayr nach dem Kriege den„Verlustder Mitte“ in der Moderne entgegenstellt hatte. Durch dasRaster rassistischerVorurteile betrachtet, wurde die Oberfläche weißer Haut seit dem 18. Jahrhundert auch als Verkörperung der

Reinheit angesehen.22

Im Unterschiedzu einem schwarzen Menschen habe dasweiße Gesicht die Fähigkeit zum Erröten - wofürJohannche jaden Beweis erbringen könnte. Auch das verborgene Rot, das Blut, das unter

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der transparenten Haut fließt, qualifiziert sie in einer spezifisch malerischen Phantasie alseine Innocentia. Mehr als jeder andere Künstler verbindet Corinth seine Sensibilität für die Inkarnate, für das nackte lebende FleischohneHülle, mitderFaszination für das tote Fleisch. Inseiner Malereibegegnet er dem Modell mit einer Erotik,in diesich Gewalt mischt. Malen erscheintals ein stets auch gewalt­

samer Akt, als immer auch unstatthaftes EindringenindieIntimität desAnderen.

GewaltsameMalereiundmalerische

Gewalt

Der Philosoph Jean-Luc Nancy hat kürzlich den gewaltsamen Aspekt der Bilder und ihrer stets „distinkten“ Welt hervorgehoben.

In seinemBuch Am Grund der Bilder behandelt er vor allem dieses paradoxe Trennungsverhältnis,das den Betrachter dem, was er im Bild sieht, annähert undihn zugleich davon trennt. „Er durchdringt es, er wird von ihm durchdrungen, vom Bild, vonder Distanz wie von der Unterscheidung zugleich“.23 Nancy hat dasBild als „Distinktes“

vielleicht zu universell, zu losgelöst von seinerhistorischen Entwicklung im Auge: „DieVerführungderBilder, ihre Erotik, liegt allein darin,dass siegenommen werdenkönnen,mit denAugen, Händen, Magen oder Vernunftberührt und durchdrungenwerden können. Wenndas Fleisch eine herausragende Rolle in der Malerei spielte,dann nur, dass es ihr Geist ist,jenseits allerDarstellungvonNacktheit. Nun bedeutet ein Bild zu durchdringen-ganzwie ein Fleisch inLiebe - auchimmer, von ihm durchdrungen zuwerden.“24

Bilder halten sichaufDistanz, indem siesich aufzwingen.Diese Philosophie des Bildes ist unterschwelligvor allem eine der Malerei, und darüber hinaus der Malerei einerbestimmtenEpoche.Sie defi­ niertdasBild als von einem Maler gegeben, der in dasSujet einge­ drungenist, bevor derBetrachterdasGleichetut. Die Malerei musste strikt malerisch werden, bevorsie ihre Sicht buchstäblichauf-deckte.

Nancy interessiert sichmöglicherweisenichtgenugfür die historische Stellung des Bildes, deren Bedeutunger uns im Allgemeinen ent­

hüllen möchte. Oft sucht erden Sinn derneuenBilder inden alten, gleich ob sakralen odererotischen,gewaltsamenodermaskierten. Er beschwört deren Bedeutungdurchneue aufschlussreiche Metaphern herauf, deren begrenzteTragweite, so wie die der Gewaltdes Bildes, er zum Gegenstand seiner Analyse macht.Seine Methode, in die Bilder einzudringen, entsprichtdem,was er erklärt. In seiner Annäherung an die Gewalt, die„alssolche“ im Bild sei, ist dieses Philosophieren ebenso sensibel wie gewalttätig. Indem wir ihm seine historische Stellung zurückgeben und dabei bedenken, was Nancy, ohne es zu erwähnen, zumBeispielFrancis Bacon verdankt, kann uns diese Art der Phänomenologie des Bildes durchaus helfen, Corinth zu lesen.

Denn die Malerei selbst hat der Philosophiein einerSpiralbewegung die Mittel zum Verständnis ihrer selbst gegeben, einer Bewegung der Malereiin ihrer Geschichtlichkeit, diewie Hegels Eule derUrania in der Spätzeit auf sich selbst zurückkommt und ihren erkennenden Flug der Wahrheit amAbendtut. Sowie dieGewaltvermittels keines Arguments, keiner Verbindung von Ursache und Wirkung, handelt undsichgeradeals Gewalt äußert,ohneRückgriffauf irgendetwas, das sierechtfertigen könnte, so tritt uns nach Nancy auch das Bild grundlos entgegen, indem es sich unserer Phantasie bemächtigt.

Nietzsche hatte das Verhältnis von Gewalt und Wahrheit durch­ leuchtet.Keine Wahrheit drängtsich ohne eine gewisse Gewaltauf.

Wenn die Wahrheit nicht als neuartig odergar als Enthüllungerscheint, wenn sienicht den Lauf der Dinge ändert, ist sieeine Banalität. Nancy knüpft daran an und grenzt dieGewaltder Wahrheit vonder rohen, dummen Gewalt ab, „sie ist eine Gewalt, die sich im Eindringen selbstzurückzieht, und sie eröffnet- weil dieses Eindringen selbst ein Rückzug ist -einen Raum undräumt diesen für die manifeste Darstellung des Wahren frei.“25 Georges Bataille hat gezeigt, dass dasKind in seinen Zeichnungen nicht nur, ja vielleicht überhaupt nicht, die Dinge nach einer Darstellungsart erfassen möchte, die visuelle Schemataund Begriffe in Übereinstimmungbringt,sondern

dass es auch zerstören will. Wenn die beiden Triebe aufeinander­ treffen, wird das Bild, geradeindem es Gestalt annimmt,auch schon formlos.Die Deformation, die formlose Ähnlichkeit kennzeichnen also bereits die Logik von Kinderzeichnungen.26 Bei Nancy kreuzen sich

5 Lovis Corinth, Geschlachteter Ochse, 1905, Öl aufLeinwand,160,5 x 110,5cm, Kunstforum Ostdeutsche GalerieRegensburg (BC318)

Gedankengänge Bataillesund Martin Heideggers, wenn er die Gewalt der Bilder zelebriert.27

Indem er auf derTatsachebesteht,dass das Bild dieDinge nicht begrenzt, sich nicht mit einem Schattenstatusbegnügt, berührt er den Konflikt zwischen dem Bild und dem, was esdarstellt. „DasBild machtdem Ding dessen Präsenz streitig. Statteines Dinges,das bloss

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ist,zeigt das Bild, dassundwie das Bild ist. DasBildzieht dasDing aus dessenblossem Anwesendsein in die Präsenz, praes-entia, ein nach außen gekehrtes Vor-sich-selbst-Sein... [...]Dementsprechend ist das BildvomWesen her zeigend oder ,monstrativ‘ [...] Was monstriert wird,istnichteinAspekt des Dings, sondern dessen Einheitund Kraft durchden Aspektoder außerhalbdavon (oder indem es vom Grund heraufgezogen und geöffnet,nach vorne geworfenwird).“28

Eswäre schwer zu behaupten, dass diese Kraftin allen Bildern ruht, zum Beispielauch in dem Schema einer Gebrauchsanleitung.

Nancy sprichtvon „Malerei“, wenn erfortführt:„Ein Maler malt keine Formen,wenner nicht zuallerersteine Kraft malt, die sich der Formen bemächtigt undsie in eine Präs-enz stellt. In dieser Kraft können die Formen ebenso gut verformt wie verwandelt werden. Stets istdas Bild eine dynamischeundenergetische Metamorphose. Sie beginntdiesseitsder Formen und geht darüber hinaus: jede noch sonaturalistische Malerei ist einesolche metamorphischeKraft.Die

Kraft (und damit selbstverständlich die Leidenschaft) verformt:sie reißtdie Formen ineinem Elan,in einem Wurf mit, derdazuneigt, sie entweder aufzulösen oderzuübersteigen.Die Monstrationschießt als Monstruation ab."29

Hätte Nancy das Monströse amVorzeigenohne Bacon,vielleicht auch ohne Corinth, als Grundmerkmal des Bildes herausstellen

können? Ohne Zweifel istesdie Malerei - und insbesondere eine Malerei, die im höchsten Maße „naturalistisch“ sein will -,die diesen Überlegungen ihre ganze Evidenz gibt und die sie letztendlich ermöglicht hat. Wennsich Nancy auf den Unterschied zwischen dem Blut, dasunter der Haut fließt und die Wangen erröten lässt unddem vergossenen Blut bezieht, dann reflektiert er wiederradikal mit der Malerei und nichtüber sie. „DieGrausamkeiterhält ihren Namen vom vergossenen Blut(cruor im Unterschied zu sanguis, dem Blut, das im Körper zirkuliert). Der gewalttätige Grausame will sehen, wie Blut ver­ gossen wird: er will außen und in der Intensität des Spritzens und der Farbedas innere Lebensprinzip sehen."30

Im Kreuzestod Christi, aber auch im Opferoder im Martyrium, Sujets vor allem der nachtridentinischen christlichenMalerei, gibtes vergossenes Blutim Überfluss.Jenseits der Nimbenund Mandorlen

kennzeichnet besonders cruor den Kontakt mit dem Heiligen. Das Martyrium in derKunst geht einher mit dem Martyrium des Künstlers:

Der Kopf des enthauptetenJohannes kann nichterst beidem Symbolisten Lucien Levy-Durmer dieZüge des Malers tragen, als Martyrium seiner Kunst. Aber die Grausamkeit ist nicht auf die Martyrien, die Passionen begrenzt. In der religiösen Malereienthüllen Szenen extremer Grausamkeit zugleich die entschiedene Handlung- und die Tugend! - einer Judith,die den Holophemesenthauptetoder einerDelila,dieSimson die Haare abschneidet, und die Kraft des Mediums, den Tod zu

„geben". Deshalbscheint dasBlut sehr oftnicht gemalt, nicht inPerspektivegerückt, sondern esscheint sich wierichtiges Blut denKompositionen von Orazio oderArtemisia Gentileschiauf­ gespritzt. SolcheSpritzer sind eine Nulllinie derMalerei. Indem dasPigmentnichtBlut darstellt, sondern zu Blutzu werden scheint, zieht sich die Malerei zurück und „gibt“nur noch die Spur desunerhörten Aktes.Nach Nancy stellt dasvergossene Blut extremeGewalt jedoch nicht in der religiösen Malerei dar, sondernnur in einer säkularisiertenWelt, denn nur dorthat es die Legitimitätdes christlichenOpfergangs verloren.Wenn nicht das Martyriumoder der Tugendmord die Gewalt in den Blick bringt,sondernder Künstler selbst erst präsent, sichtbar und offenkundig macht,was man nicht ansehen kann,dann dringt die blindmachendeGrausamkeit ins Bild ein.Natürlich bezieht sich Nancy bei solchen Analysenauch auf die blind machenden Kriegsfotografien unserer Zeit.Doch den double-bind zwischen der Leinwand, die sich mit der Haut identifiziert, unter der dasBlut fließt, und dem vergossenen Blut -metaphorische Steigerung desEindringens des Blickes in die Leinwand-und in denKörper -, hätteder Philosoph derJahrtausendwende gewiss nichtohne das Werk von Francis Bacon31 aufden Plan bringenkönnen. Darf man diesen Gedanken nicht an seinen Platzzurückrücken, ihn demhistorischen Moment zurückgeben, derihn hervorgebrachthat, ihn möglich, ja sogar nötig undfür den heutigen Leser so überzeugend gemachthat?

Und: hatnichtschon Corinth das Opfer in der Malerei aktualisiert, diese Bewegung, durchdiederMaler immerwieder neu entrücktund nahebringt, und dabei die doppelteBedeutung von cruor und sanguis in der Malerei entfaltet, gemäßder zweifachenMetapherdes Werkes 6 Lovis Corinth, Innocentia, um 1890, Öl auf Leinwand, 66,5 x 54,5cm, StädtischeGalerie

im Lenbachhaus, München (BC 988)

(8)

alsOrganismus und als Epidermis? 1907 malt er eine Kreuzigung, die keine ist (Kat.-Nr. 2/14). VierSchergen befestigen den Fuß eines Mannes mit einemNagel an einemKreuz, nachdem sie seine Arme mit Seilen gefesselt haben. Ist dies Christus oder irgendeinOpfer? Auf jeden Fall ein Modell imAtelier. DerHintergrund beschränkt sich auf eine weißeWand,an derman einigeKritzeleien erkennt, dazwischen die Signatur des Malers,dersich sozum Komplizen derVerbrecher macht, die mit ihren Inschriften die Hinrichtungen verspotten. Ein säkularisiertes Martyrium, gemalt im Namen derMalerei.

Somit stellt nicht der Philosoph die Nähe oder die Distanzzwischen Bild und Heiligem,zwischen Eros oder Gewalt her, sondern jedes Bild erneuertdieses Verhältnis,indem esdieästhetischeSchwellekenn­

zeichnet, diese Grenze, die von dem Rahmen hergestelltwird, der unüberwindbar und zugleich dazu bestimmt ist, überschritten zu werden. Nancy philosophiert nichtüber dieMalerei,sondern mitihr.

Er analysiertdas Bild, auch das Foto,imNamen einer Traditionder Malerei,die selbst die Grundprobleme der Darstellung des Lebens schrittweiseaufgedeckthat.

Alsletzter „naivischer“ Maler desNaturalismus hat Corinthnoch vor Francis Bacon die Spannungvon Blut und Inkarnat in seinen

mit den drastischen Episoden. Die Tradition, die er fortzusetzen behauptet, bringterzum Scheitern: wenn die traditionellen Themen der Kunstgeschichte inden Göttern Homers ihre Fortsetzung finden, in Salome (Kat.-Nr.2/7) oder gar im Heiligen Antonius,32dieerdar­

stellt, sogeschiehtdiesnicht ohne jeneIronie, die von dem unver­

meidlichen Bruchmit genaudieser Tradition zeugt, in deren Namen Corinth noch arbeitet.

Dieser Maler, derso brutal- abermit welcherSensibilität seines Verfahrens!-das Blut und die Inkarnatevereinthat, dokumentiert beim Herannahen des Todesdie Auflösungseines Gesichts in den Selbstporträts, in denen erdoch versucht, sich an dasLeben zubinden (z.B. Kat.-Nr. 1/17). Dieser Kampf treibt den Maleran, die Impulse darzustellen, ausdenen er malt, noch den KampfzumBeherrschen des Zitterns, an dem er seit seinem Schlaganfall leidet, um die Pigmente mit ungelenken und zugleichgeschickten Pinselstrichen auf derLeinwand zu fixieren. In den Landschaften des Walchensees, einer offenenund doch unabgeschlossen geschlossenen Serie, zeugen die Pinselstriche von der Virtuosität des Malers, seiner Gabe, sich sparsam auszudrücken, seiner Fähigkeit, die richtigen Farben zur Wiedergabe der Tages- und Jahreszeitzu wählen. Und dochführen Bildern - wie in seinem Künstlermythos - präsent

gehalten. Er stellt nicht die Schönheit des geschlach­

teten Tieres, diesen Perlmuttglanz, umgeben von dem noch warmen und dampfenden Fleisch, der Erotik der Körper gegenüber, die er auf der Leinwand dar­ stellt und demBetrachter immer so nahe bringt. Im Gegenteil, er vereintsiein einem zugleich grausamen und sanften Karneval - ein Fest, zugleich kultiviert, weil genährt von den Traditionen einer malerischen Malerei,dievon Rembrandt bis Manet reicht, und bar­

barisch. Er vereint sie in der Einheitvon carnagione, der Metapher für denOrganismus,der das Kunstwerk bildet, und der Haut, der Epidermis, diedieLeinwand ist. Im Verein mitdem Tode wird dasLeben gefeiert.

Im vollen Bewusstsein seiner Verletzlichkeit trium­

phiert es.FürdieBetrachtungderHistorienbilder von Corinth darf man die ausschlaggebende Szene des Schlachthauses als Ausgangspunkt nehmen. Von dort stammen, laut seiner Autobiographie,die ersten Skizzen, dort hatderMalerdie Widersprüche dermale­

rischenMalerei erlebt. 7 Lovis Corinth, Die Hexen, 1897, Öl aufLeinwand, 94 x 120 cm,London, Privatsammlung (BC145) In einer Zeit,dievonRegeln und Grammatiken für

dieKunstgeprägt war, wie sie die Avantgarde-Bewe­

gungen des Pointillismus und des Kubismus entwickelthaben, aber auch Kandinsky in Das Geistigeinder Kunst, versucht Corinth, mit einem Temperament im Sinne von Zola zu malen, einem Tempe­

rament,das auf derInszenierung seines Exzesses beruht. Sein Verzug gegenüber der Geschichte der Avantgarde zwingt ihn beinahe zu einer Radikalisierung seinesTuns. So schreibternichtnur durch die Schlachthausszenen dem Inkarnat die Fragilität ein, nicht nur am Walchensee bezeugt seine an Erfüllungsstundenso reiche Malerei den nahenden Tod. Schon in seiner Historienmalerei inszeniert er das Ende einer „naivischen“ Geschichtsmalerei stets zugleich

sie die Pigmente aufihre tote Materialität zurück. Die Farben trium­

phieren! Und sie nähern sichdoch demChaos an, in demsichdie Malerei verliert.Immereine Malereigegenden - und mit dem - Tod.

Übersetzung:C.J.

(9)

1 Lovis Corinth, „Gedanken überden Ausdruck ,dasModerne in der bildenden Kunst' und was sichdaran knüpft“, in: Corinth 1920,S. 44-48, voraltemS. 45. Sieheauch Lovis Corinth,

„Die neueste Malerei,in:Corinth1920,S. 59-62, vor allem S. 60/61.

2 Corinth 1908.

3 Corinth 1926, S.166-172 (überseine Depressionskrisen), S.187-193 (letzte Bekenntnisse über seineJugend).

4 Ebd.,S. 123.

5 Lovis Corinth. „Aus meinemLeben, in: Corinth1918, S.1-68, hierS.10-12.

6Corinth1993, S. 14-16.

7 Corinth1908.

8 Lovis Corinth, „Aus meinemLeben, in:Corinth1909, S. 26-31,hierS. 26/27.

ZubiographischenEinzelheiten über die Ausbildung in Königsberg,siehe Laux 1998, S. 27-30.

9 Lovis Corinth, „Aus meinemLeben, in:Corinth1909,S. 26-31,hierS. 30.

10 Materdolorosa, Öl aufLeinwand, 49 x 38 cm, Staatliche Museen zuBerlin, Gemäldegalerie.Das Gemälde ist eine Teilkopiedes 17. Jhs. nachder Kreuzigung der Kapuziner, 1619, Öl aufLeinwand,397 x 266 cm,Bologna,Pinacoteca Nazionale. Einweiteres Exemplar befindet sichinRom, Galleria Nazionale d'Arte Antica di Palazzo Corsini.

11Erwähnt seien zwei Fassungen:um 1531, Öl aufHolz,84 x69cm, Florenz, Palazzo Pitti;

um1560/70, öl aufLeinwand, 118x 97 cm, St. Petersburg, Eremitage.

12 Laux 1998, S. 46-55, FotovonJohanncheS. 55.

13 Öl aufLeinwandaufHolz, Durchm.108cm, Paris, Musee du Louvre.

14 Öl auf Leinwand, 130x 190cm, Paris, Musee d'Orsay.

15 Christiane Kruse, „Fleischwerden - Fleisch malen: Malereials incarnazione. Mediale Verfahrendes BildwerdensimLibrod'Arte von Cennino Cennini",in: Zeitschrift für Kunstgeschichte. 63,2000, S. 305-325.

16 Leone Battista Alberti, De la peinture. De Pictura (1435), Einführung vonSylvie Deswarte-Rosa, Vorwort,französische Übersetzung und Anmerkungen von JeanLouis Schefer,Paris, Macula-Dedale, 1992, BuchII, Absatz 37, S.165. Siehe auchLeoneBattista Alberti, Das Standbild. Die Malkunst.Grundlagen der Malerei, hrsg. von OskarBätschmann, Darmstadt. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000,S. 260-263.

17 Frank Fehrenbach,„Calornativus - color vitale: Prolegomena zu einer Ästhetikdes .LebendigenBildes' in der frühen Neuzeit“, in:UlrichPfisterer (Hrsg.), Visuelle Topoi:

Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischenRenaissance,Berlin und München, Deutscher Kunstverlag, 2003, S.151-170; „Kohäsion und Transgression: zur Dialektiklebendiger Bilder“, in: UlrichPfisterer (Hrsg.). Animationen, Transgressionen: das

Kunstwerk ais Lebewesen, Berlin,Akademie-Verlag, 2005, S. 1-40; Ulrich Pfisterer, „Zeugung der Idee- Schwangerschaft des Geistes: sexualisierte Metaphern und Theorien zur Werkgenese in derRenaissance“, ebd., S. 41-72.

18 Daniela Bohde und Mechthild Fend, „Inkarnat - Eine Einführung“,in: Bohde/Fend 2007, S.9-21.

19 Daniela Bohde, ,„Le tinte delle carni' Zur Begrifflichkeit für Haut und Fleisch in italienischen Kunsttraktaten des 15. bis 17. Jahrhunderts“,in: Bohde/Fend 2007, S.41-63;

Daniela Bohde,Haut,Fleisch und Farbe-Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdettenund Berlin, Edition Imorde,2002.

20 Mechthild Fend,„Die SubstanzderOberfläche.Haut und Fleisch in der französischen Kunsttheorie des 17.bis 19. Jahrhunderts“, in:Bohde/Fend 2007, S. 87-104.

21 Hans Sedlmayr, „Bemerkungen zur Inkarnatsfarbe bei Rubens[1964],in: Epochen und Werke.GesammelteSchriftenzur Kunstgeschichte, Bd. 3. Mittenwald,Mäander Kunstverlag, 1982, S.165-178.

22 Angela Rosenthal,„DieKunst des Errötens. Zur Kosmetik rassischer Differenz",in:

Herbert Uerlings, KarlHölz und ViktoriaSchmidt-Linsenhoff, Das Subjektund die Anderen - Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom18. Jh.bis zur Gegenwart. Berlin, Schmidt, 2001,S. 95-110.

23 Nancy 2006,hierS. 22. Siehe auch Georges Bataille, „Lesacre, in: Cahiers d'art, 14,1939, S.47-50.

24Nancy 2006,S. 23.

25Ebd., S. 36.

26 G. Henri Luquet,L'Art primitif, Paris,G. Doin,1930; kritischer Bericht vonGeorges Bataille,

„L'Artprimitif, in:Documents, 7.1930, S. 389-397;siehe GeorgesDidi-Huberman, La Ressemblance informe, ou legaisavoirvisuelselon Georges Bataille (Vues), Paris, Macula.

1995, und vom selben Autor LaPeinture incamee. Suivie de Le Chef-d'oeuvre inconnu par Honord de Balzac,Paris, Editions de Minuit, 1985.

27 Nancy 2006,S. 35-56.

28 Ebd., S. 41-42.

29 Ebd.,S. 42.

30 Ebd.,S. 46.

31 Vgl. Marie-Amelie zuSalm-Salm, „Lovis Corinth: ein Maler für Maler“, S. 352-359, hier S. 356, Abb. 4 S. 354.

32 Versuchung des hl. Antonius, 1897, Öl auf Leinwand,88 x 107 cm, München,Bayerische Staatsgemäldesammlungen,Neue Pinakothek(BC149); Die Versuchungdes hl. Antonius, 1908, Öl aufLeinwand,135 x 200 cm, London, TheTäte Gallery (BC351).

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