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Archiv "Fussballweltmeisterschaft 1954: Die Virushepatitis der „Helden von Bern“" (11.06.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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11. Juni 2010 A 1159

W

as am frühen Abend des 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion geschah, gilt noch heute, mehr als ein halbes Jahrhun- dert später, als eines der größten Sportwunder der Nachkriegsgeschich- te. Die Faszination dieses verregne- ten Sonntags, an dem eine als krasse Außenseiterin gehandelte deutsche Fußballelf die Nationalmannschaft Ungarns in einem dramatischen Weltmeisterschaftsendspiel besiegte, bleibt ungebrochen. Das „Wunder von Bern“ ist führenden Politikern zufolge „gleichsam ein Gründungs- mythos der Bundesrepublik“ (1) und „ein bedeutender Moment na- tionaler Identitätsbildung“ (2).

Weithin in Vergessenheit geriet dagegen der Umstand, dass nach der Weltmeisterschaft (WM) ein

Großteil des deutschen Aufgebots an einer Hepatitis erkrankte. Zumin- dest einem, möglicherweise sogar drei Spielern kostete diese Hepatitis das Leben. Diese medizinische Spurensuche geht der Frage nach, an welcher Art der Hepatitis die

„Helden von Bern“ erkrankten. Es geht nicht darum, die nach Ansicht der Autoren bis heute nicht belegten Dopinggerüchte zu schüren.

Im Oktober 1954 werden die ers- ten Fälle von Gelbsucht bei deut- schen Spielern öffentlich. So be- richtet das „Hamburger Abendblatt“

am 18. Oktober 1954, dass mit Fritz Walter, Helmut Rahn, Max Mor- lock und Ersatztorwart Bernd Kubsch nunmehr vier Nationalspie- ler an Gelbsucht erkrankt seien (3).

Als wenige Tage darauf mit Otmar

Walter ein weiterer Spieler er- krankt, ist das mediale Interesse endgültig geweckt. Am 22. Oktober 1954 werden auch Ärzte öffentlich zurate gezogen, darunter Prof. Dr.

med. Dr. phil. Hans Harmsen, Di- rektor des Hygienischen Instituts der Hansestadt Hamburg.

Harmsen resümiert in seiner Stellungnahme den Wissensstand der 50er Jahre – es werden noch neun Jahre bis zur Entdeckung des Australia-Antigens (4) vergehen, 20 Jahre bis zur elektronenmikro- skopischen Visualisierung des He- patitis-A-Virus (5) und circa 35 Jahre bis zur Identifikation des He- patitis-C-Virus – (6): „Die Gelb- sucht wird durch das Hepatitisvirus übertragen. Es gibt zwei wichtige Arten der Infektion: Das Virus kann

Infektiologisches Centrum Hamburg:

PD Dr. med. Hoffmann Abt. Gastroenterologie, Hepatologie und Endo- krinologie, Medizini- sche Hochschule Hannover: PD Dr. med.

Wedemeyer Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Helios-Klinikum Krefeld: Prof. Dr. med.

Niehues

Die Virushepatitis der „Helden von Bern“

Epidemiologische und klinische Indizien weisen retrospektiv darauf hin, dass mehrere Spieler der deutschen Mannschaft an einer Hepatitis C erkrankt waren. Eine medizinhistorische Spurensuche Christian Hoffmann, Heiner Wedemeyer, Tim Niehues

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entweder mit Nahrungsmitteln auf- genommen oder . . . über das Blut- serum übertragen werden. Im zwei- ten Fall handelt es sich um die Spritzeninfektion . . . das Virus kann sich nämlich an der Injektionskanü- le festsetzen und bleibt auch nach einer gewöhnlichen Sterilisation am Leben. Es wäre also denkbar, dass die Fußballmannschaft Injek- tionen bekommen hat.“ (7)

Insgesamt 13 Spieler lassen sich auf Initiative des Deutschen Fuß - ballbundes (DFB) am 27. Oktober 1954 bei mehreren Spezialisten in Düsseldorf untersuchen. Diese kom- men zu dem Schluss, dass „mehr oder minder die gesamte Nationalelf leichtere Leberschädigungen davon- getragen hat“ (8). In dem vom DFB am 8. November 1954 veröffentlich- ten Gutachten wird eine „Mund - infektion“ vermutet, „was durch das enge Zusammenleben der Mann- schaft, durch die ungewöhnlichen körperlichen Anstrengungen und die fehlende Erholungspause nach der Weltmeisterschaft begünstigt wurde“

(8). Allerdings wird eingeräumt, dass

„ein Teil der Spieler Vitamin-C-In- jektionen erhalten“ habe. Es sei den- noch „unwahrscheinlich, dass es sich . . . um eine ,Spritzen-Gelbsucht‘

handeln könnte“. Aus heutiger Sicht sicher eine Fehldiagnose.

Schon angesichts der langen Zeit bis zu den ersten klinischen Sympto- men kann eine medikamentös-toxi- sche Hepatitis, vor allem aber eine Hepatitis A (Mundinfektion) ausge- schlossen werden. Für Letztere wird

allgemein eine Inkubationszeit von im Mittel 30 (15 bis 50) Tagen ange- nommen (9); zudem erkrankte außer der Mannschaft und dem Bundes- trainer, Sepp Herberger, niemand aus dem Umfeld der Spieler (10).

Vermutlich war auch die Mehrzahl der Spieler immun gegen Hepatitis A – die Prävalenz von Anti-HAV- Antikörpern bei Personen, die vor 1930 geboren sind, liegt bei über 75 Prozent (11).

Als wahrscheinlich muss viel- mehr angenommen werden, dass ein parenteraler, limitierter Übertra- gungsweg vorliegt, über den eine Hepatitis B oder C akquiriert wur- de. Angesichts des drakonischen Regiments von Bundestrainer Her- berger, „der abends durch das Hotel strich, mit dem Ohr an den Schlüs- sellöchern der Zimmer, und um zu schnuppern, wer noch rauchte“

(12), scheint ein sexueller Übertra- gungsmodus, der theoretisch bei beiden Entitäten denkbar wäre, äu- ßerst unwahrscheinlich.

In der Tat gibt es viele Zeugen- aussagen, die eine parenterale Trans- mission nahelegen. So berichtet der Spieler Horst Eckel 2004 in einer Fernsehsendung, die den damals schwelenden Dopingvorwürfen nach- ging (ohne zu einem eindeu tigen Er- gebnis zu kommen): „Wir haben Traubenzuckerspritzen bekommen, und da war für jeden Einzelnen ja keine Spritze da.“

In derselben Sendung wird auch Mannschaftsarzt Prof. Dr. med.

Franz Loogen aus Düsseldorf be-

fragt. Überraschend offen weist der Kollege darauf hin, „dass Rahn von einer Südamerikareise zurück- kam und erzählte, dass die Brasilia- ner alle da Medikamente bekom- men hätten, vor dem Spiel. Und so hieß es dann bei uns: Ja, können wir so was denn nicht auch machen?

. . . und na ja, dann sind wir auf den Dreh gekommen, Vitamin C den Spielern zu geben . . .“

Loogen zufolge kann es „durch- aus sein, dass bei der Injektion ein Krankheitskeim mitinjiziert wurde“

(13). Auskunft über die inadäquate Hygiene bei den Injektionen erteilt Fritz Herkenrath, der Nachfolger des WM-Torwarts Toni Turek. Her- kenrath, der Ende 1954 selbst er- krankte, berichtet, es seien auch bei Spielen nach der WM noch Aufbau- spritzen gegeben worden: „Der Arzt hat die Spritze kurz in heißes Was- ser getaucht – und das war’s.“ (14) Es ist damit aus heutiger medizini- scher Sicht hinreichend plausibel, dass die „Helden von Bern“ im Herbst 1954 entweder an einer aku- ten Hepatitis B oder C erkrankten.

Die Symptome

Verwirrung kam laut „Spiegel“ auf, als „bekanntwurde, dass Fritz Wal- ter sich in seinem Münchener Hotel krank ins Bett gelegt habe und dass zwei namhafte Professoren attes- tiert hätten, der Fußballkapitän müsse wegen einer Magenschleim- hautentzündung und einer eitrigen Mandelentzündung dem Sport fürs Erste entsagen, er sei überhaupt nicht einmal transportfähig“ (15).

Der Diagnose Gastritis stehen nicht nur die treffliche Beschrei- bung des zweifachen Torschützen Rahn in seinen Memoiren, sondern auch die Blickdiagnose seiner aler- ten Gattin Gerti entgegen: „Ich spürte selbst, dass ich gegen Bel- gien schlecht gewesen war, aber ich fühlte mich gesundheitlich auch gar nicht auf dem Posten. Nach der kleinsten Anstrengung wurde ich müde, das Essen ekelte mich an.

Rechts unterhalb von meinem Ma- gen schien ein Ziegelstein zu lie- gen. ,Helmut, du kriegst die Gelb- sucht‘, sagte meine Frau.“ (16)

Mehrere Spieler aus der Welt- meisterelf sind aufgrund der He - Nach einem verheerenden

3 : 8 in der Vorrunde wenige Tage zuvor gegen die Ungarn ging die deutsche Mannschaft als krasse Außenseiterin in das Endspiel um die Fußball- weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz. Der frühe Rück- stand von 0 : 2 nach nur acht Minuten gegen die als unschlagbar geltenden Ungarn mit den damaligen Weltstars Puskás, Hidegkuti, Czibor und Bozsik schien diese Einschätzung schnell zu bestätigen.

Mit Kampfkraft und Entschlossenheit drehte die junge

deutsche Elf um ihren Kapitän Fritz Walter jedoch das Spiel um und erzielte durch Treffer von Morlock und Rahn noch vor der Pause den Ausgleich zum 2 : 2. In der 84.

Spielminute gelang dem Essener Helmut Rahn schließlich der Siegtreffer zum 3 : 2. Unvergessen bleibt dazu der Kommentar des Radioreporters Herbert Zimmermann, dessen Wortlaut („Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooor! Tooor! Tooor! Tooor! Tor für Deutschland, Linksschuss von Rahn, Schäfer hat die Flanke nach innen geschlagen. 3 : 2 für Deutschland fünf Minuten vor dem Spielende. Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt“…) zu den Stern- stunden der Radioreportage zählt.

TOOOR! TOOOR! TOOOR! TOOOR!

Herbert Zimmermann

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11. Juni 2010 patitis für Wochen nicht in der La-

ge, Fußball zu spielen. Beim Län- derspiel gegen Frankreich am 16.

Oktober 1954 (Woche 15) fehlen wegen der Hepatitis schon drei, ge- gen England (Woche 22) und gegen Portugal (Woche 24) sind es sogar fünf Spieler. Die klinische Sympto- matik variiert dabei stark.

Während sich bei Jupp Posipal le- diglich eine vorübergehende Übel- keit einstellt und der Hamburger Abwehrspieler kein einziges Länder- spiel verpasst, verbringt der Nürnber- ger Max Morlock sechs Wochen im Krankenhaus. Insgesamt acht Spieler aus der Weltmeisterelf brechen Mitte November 1954 zu einer Kur nach Bad Mergentheim auf. Ungeklärt bleibt, wie viele Spieler tatsächlich virusexponiert waren. Lediglich bei Linksaußen Hans Schäfer scheinen sicher keine Injektionen stattgefun- den zu haben – 2004 bekräftigte Schäfer in einem Interview: „Ich kann nur für mich sprechen: keine Spritzen, keine Gelbsucht.“ (17)

Bei einer konservativen Schät- zung von 21 exponierten Spielern findet man, obwohl die Informatio- nen zu den Ersatzspielern teilweise lückenhaft bleiben, bei mindestens sechs von 21 Spielern (29 Prozent) während der akuten Phase klinische Symptome, die in mindestens fünf von 21 Fällen (24 Prozent) ikterisch verlaufen – bei dem Spieler Karl Mai wird lediglich eine Leberschwellung diagnostiziert, ein Ikterus besteht nicht. Sollten mehr Spieler als Schä- fer die Injektionen verweigert haben und Erkrankungen einiger Ersatz- spieler nicht publik geworden sein, erhöht sich der prozentuale Anteil symptomatischer Spieler.

Klinischer Verlauf

Erkrankung und Rekonvaleszenz währen bei allen erkrankten Spie- lern mehrere Wochen bis Monate.

Zunächst ist klinisch bei allen eine vollständige Genesung zu beobach- ten. Lediglich bei Otmar Walter scheint es im März 1955 zu einem Rückfall zu kommen, der Spieler wird vorsichtshalber erneut statio- när aufgenommen.

Auffällig in den Jahren nach 1954 sind dagegen die frühen To- desfälle mehrerer Spieler, darunter

vor allem der des Ersatzmannes Ri- chard Franz Herrmann vom FSV Frankfurt, der trotz strikter Alko- hol karenz im Juli 1962 im Alter von nur 39 Jahren an den Folgen einer (autoptisch gesicherten) Leberzir- rhose stirbt (18). Auch bei den frü- hen Todesfällen der Spieler Karl Mai (1993 mit 64 Jahren) und Wer- ner Liebrich (1995 mit 68 Jahren) ist eine hepatitisbedingte Todesur- sache nicht auszuschließen.

So offenbart sich die Witwe Anne-Marie Liebrich im Gespräch mit Journalisten: „Als ich meinen Mann, kurz bevor er starb, im Kran- kenhaus besuchte, hing über seinem Bett ein Schild mit der Warnung ,Vorsicht, Hepatitis C‘.“ Auch Elsa

Mai berichtet, dass bei ihrem Mann sowohl Probleme mit dem Herzen als auch Hepatitis C festgestellt worden seien (19). Ob tatsächlich eine replikative Hepatitis C vorlag, ist freilich trotz dieser Aussagen nicht zweifelsfrei bewiesen, da die quantitative HCV-Diagnostik in den Jahren 1993 bis 1995 noch nicht überall klinische Routine war.

Sie wurde erst etwa ab 1998 allge- mein empfohlen (20).

Akute Hepatitis B oder C?

Epidemiologie: Beide Infektionen sind, ob aktiv oder ausgeheilt, bei älteren Menschen prävalent. HBV tritt allerdings deutlich häufiger auf.

Epidemiologische Untersuchungen in Deutschland ergaben in der Al- tersgruppe der „Helden von Bern“

eine Prävalenz von 15,8 Prozent für Anti-HBc (21) und lediglich 1,2 Prozent für Anti-HCV (22). Sofern die Vermutung des Mannschaftsarz- tes korrekt ist, dass die Hepatitis aus Südamerika eingeschleppt wor- den sei (13), wird indes eine HCV- Infektion deutlich wahrscheinlicher.

Zwar ist Südamerika Hochpräva- lenzgebiet sowohl für HBV als auch für HCV, doch gibt es mehrere Ar- beiten, die auf eine hohe HCV-Rate unter südamerikanischen Sportlern hinwiesen (23, 24). So lag die Anti- HCV-Prävalenz unter 208 brasiliani- schen Profis, die zwischen 1960 bis 1985 aktiv waren, immerhin bei elf Prozent. Unter jenen Profis, die von leistungssteigernden Injektionen während ihrer beruflichen Laufbahn berichteten, betrug die Rate sogar 22 Prozent (24). Für die Hypothese einer aus Südamerika importierten HCV-Infektion spricht auch, dass Helmut Rahn unmittelbar vor der WM mit seinem Verein Rot-Weiß Essen in Südamerika weilte und als erster Spieler erkrankte (16).

Inkubationszeit: Die Inkubati- onszeit zwischen Exposition und klinischer Manifestation kann so- wohl für die HBV- als auch für die HCV-Infektion interindividuell stark variieren. Dabei scheinen die Infektionsroute, die Menge des in- fektiösen Inokkulats sowie geneti- sche Faktoren eine Rolle zu spielen.

Für beide Viren werden Inkubati- onszeiten zwischen zwei und 24 Wochen angegeben (25, 26). Sehr gute Daten aus Posttransfusionsstu- dien liegen insbesondere für HCV- Infektionen vor. Die Mehrzahl der Studien beschreibt eine klinische Manifestation der akuten Hepati- tis C zwischen Tag 60 und 90, was in etwa in das Zeitfenster der

„Helden von Bern“ fällt (27–29).

Die Inkubationszeit erlaubt somit einen Ausschluss einer akuten Virus- hepatitis A, jedoch nicht die Diffe- renzialdiagnose B oder C.

Klinik der akuten Hepatitis:

Obgleich in der akuten Phase beide Virushepatitiden inapparent oder auch symptomatisch verlaufen kön- nen, gibt es Unterschiede. Bei der akuten Hepatitis B sind symptomati- sche Verläufe häufiger als asympto- matische (30). Die Symptome sind Ottmar Walter

(rechts) musste wegen Gelbsucht im März 1955 er- neut stationär be- handelt werden.

Hier besucht ihn gerade sein Mann- schaftskamerad Horst Eckel.

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zudem häufiger und schwerer als bei der akuten Hepatitis C (31). Da jedoch offenbleibt, wie viele Spieler tatsächlich exponiert waren, spricht die Ikterusrate von mindestens 24 Prozent nicht unbedingt gegen eine Hepatitis B, zumal vorherige HBV-Immunisierungen denkbar wä- ren. Andererseits wäre die beobach- tete Ikterusrate für eine akute He- patitis C durchaus typisch, die für Männer mit zehn bis 30 Prozent an- gegeben wird (28, 32).

Chronischer Verlauf: Bei min- destens einem, möglicherweise so- gar drei Spielern (fünf bis 14 Pro- zent) gibt es Hinweise auf einen chronischen Verlauf der Hepatitis, die eventuell zum Tod beigetragen hat. Im Falle einer HCV-Infektion wäre es zudem wahrscheinlich, dass die Mehrzahl der Exponierten eine klinisch zunächst nicht mani- feste, persistierende Infektion ent- wickelt hat.

Parenterale Übertragung Insgesamt ist die geschätzte Lebens- erwartung der „Helden von Bern“

signifikant schlechter als zum Bei- spiel die des WM-Aufgebots von 1966. Dieser Unterschied dürfte durch eine bessere medizinische Versorgung allein kaum erklärbar sein – zwischen beiden Weltmeister- schaften liegen lediglich zwölf Jah- re. Ein chronischer Verlauf bei drei Spielern wäre eher ungewöhnlich für eine HBV-Infektion, die in mehr als 95 Prozent der Fälle bei jungen Erwachsenen ausheilt. Etwa 20 Pro- zent der Patienten mit chronischer Hepatitis B und somit weniger als ein Prozent aller akut erkrankten Personen entwickeln eine Zirrhose (30). Begünstigend sind männliches Geschlecht, höheres Lebensalter, virale Koinfektionen und Alkohol- konsum (33). Insbesondere bei dem Frankfurter Herrmann, der sicher an einer Leberzirrhose starb, aber auch bei Liebrich und Mai gibt es – im Gegensatz zu anderen Spielern wie Werner Kohlmeyer und Helmut Rahn – keine Hinweise auf einen vermehrten Alkoholkonsum.

Zum Verlauf der chronischen Hepatitis C gibt es sehr unterschiedli- che Angaben. Die Zirrhoseraten wer- den vor allem bei retrospektiven Stu-

dien durch den Selektionsbias wahr- scheinlich überschätzt. In einer Ana- lyse von 2 867 ansonsten gesunden Frauen, die 1978 bis 1979 in der da- maligen DDR ein HCV-kontaminier- tes Immunglobulin zur Rhesus-Iso - immunisierung erhalten hatten, hat- ten 25 Jahre später nur zwei Prozent eine Zirrhose oder präzirrhotische Stadien entwickelt. Bei mindestens 45 Prozent war die Infektion selbst- limitierend beziehungsweise es war ohne Therapie keine HCV-RNA nachweisbar (34).

In einer Untersuchung von Blut- proben von insgesamt 8 568 ameri- kanischen Rekruten aus den Jahren 1948 bis 1954 fand man 45 Jahre später lediglich bei zwei der 17 (zwölf Prozent) retrospektiv als HCV-infiziert identifizierten Perso- nen eine Zirrhose (35). Der klini- sche Verlauf bei den „Helden von Bern“ passt somit insgesamt gut zu dem in der Literatur beschriebenen natürlichen Verlauf der Hepatitis C.

Dies gilt auch für die Beobachtung,

dass es bei jenen drei Spielern, bei denen am wahrscheinlichsten eine chronische HCV-Infektion vorlag – Herrmann, Mai, Liebrich – keine Hinweise auf einen Ikterus gibt.

Seit langem ist gut bekannt, dass asymptomatische Patienten wäh- rend der akuten Phase eine deutlich niedrigere Rate an spontaner Virus- clearance aufweisen (36).

Zusammenfassend ist nach Ana- lyse der vorliegenden Quellen die Gelbsucht der „Helden von Bern“

nur durch eine akute, parenteral übertragene Virushepatitis zu erklä- ren. Obgleich eine exakte Differen- zialdiagnose zwischen akuter He- patitis B und C retrospektiv nicht möglich ist, lassen epidemiologi- sche und klinische Indizien, aber auch die Aussagen der Spieler- frauen eine Hepatitis C als wahr- scheinlich erscheinen.

Allerdings sind auch Koinfektio- nen denkbar, da es vermutlich auch nach der WM zu weiteren Exposi- tionen gekommen ist. Diagnostisch hilfreich wären diesbezüglich zu- nächst Serologien der letzten fünf noch lebenden Spieler, die an der WM 1954 teilnahmen. Angesichts der hohen Prävalenz von Anti-HBc in der betroffenen Altersgruppe wäre vor allem eine HCV-Serologie wün- schenswert, um die Ätiopathogenese zu klären. In Anbetracht der neuen Erkenntnisse und Erfolge in der Be- handlung von HBV und HCV wären solche Untersuchungen nicht nur von medizinhistorischem Interesse.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2010; 107(23): A 1159–63

Anschrift für die Verfasser PD Dr. med. Christian Hoffmann

Infektiologisches Centrum Hamburg, ICH Mitte, Dammtorstraße 27, 20354 Hamburg E-Mail: hoffmann@ich-hamburg.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit2310

Großer Empfang hinter der Grenze:

Etwa 30 000 Men- schen begrüßten die deutsche Fußballelf am 5. Juli 1954 am Bahnhof in Singen am Hohentwiel. Hier im Zugabteil zu sehen (v.l.): Max Morlock, Hans Schäfer, Jupp Posipal, Hans Bauer.

Die medizinische Fachliteratur wur- de in Pubmed unter „hepatitis“ and

„natural course“ or „clinical course“

hinsichtlich Reviews gescreent. Mit den Mitteln der Internetrecherche wurde mit den Schlüsselwörtern

„Helden von Bern“, „Wunder von Bern“, „Spritzen“ und „Gelbsucht“

nach Quellen gesucht. Die Tages- zeitungen Hamburger Abendblatt, Hamburger Morgenpost, Süddeut- sche Zeitung und Bild-Zeitung wur- den von August 1954 bis März 1955 auf Artikel zur Gelbsucht der Spieler evaluiert, dazu die Jahrgän- ge 1954 bis 2010 vom Spiegel und der Zeit. Des Weiteren wurden ins- gesamt elf Werke der Sekundärlite- ratur gesichtet, darunter die Me- moiren beziehungsweise Biografien von Helmut Rahn, Fritz Walter und

METHODE

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11. Juni 2010 LITERATUR

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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 23/2010, ZU:

FUSSBALLWELTMEISTERSCHAFT 1954

Die Virushepatitis der „Helden von Bern“

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Christian Hoffmann, Heiner Wedemeyer, Tim Niehues

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