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Archiv "Wolfgang Petrick: Der Tod ist ein Meister" (03.06.2005)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 22⏐⏐3. Juni 2005 AA1603

E

in Mandala des Narziss, androgyn, ein eigenartig faszinierendes Bildwerk von Wolfgang Petrick, abge- bildet auf dem Faltblatt zu sei- ner Ausstellung im Jahr 2000 in der Berliner Akademie der Künste. Eine Vermännlichung der Mona Lisa, wie sie Marcel Duchamp 1919 mit einem simplen Schnurrbart vorge- nommen hat.

Der rätselhafte Gesichts- ausdruck lässt sich leicht er- klären: Das Modell, 21 Jahre alt, hatte Hautunterblutungen mit kleineren Hautdurch- trennungen im Bereich des Gesichts, flächenhafte und punktförmige

Unterblutungen beider Augenbin- dehäute,fleckför- mige Unterblu- tungen und Ein- risse in der Lip- penschleimhaut, eine leicht gebo- gene und eine et-

wa dreieckige Hautvertrock- nung an der linken Halsseite mit geringgradiger Unterblu- tung der Haut.

Schäden, die der Maler of- fensichtlich kosmetisch geglät- tet hat, malerische Leichentoi- lette, denn das Modell war tot, vor Jahrzehnten Opfer einer Körperverletzung mit tödli- chem Ausgang: Blutalkoholge- halt 1,82 ‰, Urinalkoholgehalt 2,41 ‰. So beschließen Medi- zinaldirektor Dr. med. Walde- mar Weimann (Berlin-West) und Prof. Dr. sc. mult. Otto Prokop,seinerzeit Direktor des Instituts für Gerichtliche Medi- zin der Humboldt-Universität zu Berlin (Ost), ihre Vorstel- lung des leblosen Opfers einer Schlägerei infolge Trunkenheit in ihrem 1963 im VEB Verlag

Volk und Ge- sundheit Berlin erschienenen dokumentari- schen Bildwerk „Atlas der ge- richtlichen Medizin“ – noch vor der Wende,1987,in zweiter, mithilfe von Prof. Dr. sc. med.

Georg Radam, ebenfalls In- stitut für Gerichtliche Medi- zin der Humboldt-Universität, überarbeiteter Auflage von S. Karger Basel/München ver- legt, mit „Alleinauslieferungs- recht für alle Länder des nichtsozialistischen Wirtschafts- gebietes“. Ein international einzigartiges Standardwerk.

In der den 60er-Jahren zu kritischer figuraler Malerei in Westberlin aufbrechenden Maler-Generation der 20-/30- Jährigen hat sich das Gerücht von der Existenz dieses Atlas aus dem Osten schnell verbrei- tet: Der Sowieso malt nach Prokop, die Sowieso zeichnet

nach Prokop. Einzelne Fotoko- pien verschiedener Seiten des Atlas, über die Mauer gelangt, kursierten, wurden wieder und wieder kopiert, bis zur Un- kenntlichkeit.Die Spuren in der Bildenden Kunst sind verein- zelt, verwischt, nur bei wenigen Malern/Malerinnen zu belegen.

So bei Wolfgang Petrick, der schon als Meisterschüler der Berliner Kunsthochschule 1962/1963 mit provokativ-frat- zenhaften Menschenbildern hervorgetreten war, lässt sich der Einfluss des „Weimann/

Prokop“ auf die Physiognomie seiner frühen Bildgestalten eindeutig nachweisen, zumin- dest nach 1965, nachdem er ein komplettes Exemplar des At- las aus einem Kölner Antiqua- riat (!) erhalten hatte.

„Teufelsbälger, Schweine- fratzen, ungeschlachte Unge- heuer . . . blecken die Zähne, Blut tropft“ hatten die West-

berliner Kritiker bis dahin über seine Figuren geschrieben.Jetzt kamen die Wortmetaphern vom „verletzten“,„manipulier- ten“ Menschen auf.

Welche Irritation geht indes von einem vergleichsweise har- monischen Gemälde aus, das den harmlosen Titel trägt „Ein neues Spiel“ (1970). Heimkeh- rende Touristen, die vielleicht zu lange unter Wasser waren?

Allzu lange! Die Gesichter, die Köpfe sind tot. Anders noch:

sie sind zur Identifizierung „re- konstruiert“, „Leichentoilette bei erheblicher Fäulnis“.

Die Modell-Köpfe (bei Wei- mann/Prokop Abb. 8 a und b beziehungsweise in der zwei- ten Auflage, die leichter zu- gänglich ist, Abb. 790 a und b), malerisch und zeichnerisch vielfältig variiert, geistern durch Teile des Frühwerks, nicht nur in einer Serie von Touristen. Als ein extremes Exempel hier nur noch eine Zeichnung von 1970 „Mann und Frau“, eine radikale, um

Wolfgang Petrick

Der Tod ist ein Meister

Forensische Medizin im Frühwerk des Berliner Künstlers

Abbild (oben) und Modell (links): „Glückskopf“, 1999, Collage/Computer-Simulation, als Vorlage diente das Opfer einer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang

„Mann und Frau“, 1970, Zeichnung: Absage an den Traum vom schönen Menschen Feuilleton

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nicht zu sagen: eine brutale Absage an Albrecht Dürers Pro- portionen-Traum vom „schönen Men- schen“.

Dieser Bildzu- sammenhang er- hellt, dass Wolf- gang Petrick die to- ten Köpfe wie auch andere hier nicht gezeigte Details aus dem Totentanz der forensischen Medizin nicht etwa nur einsetzt, um metaphorisch klar-

zumachen, was er vom Men- schen hält; vielmehr attackiert er mit der auf Weimann/

Prokop gestützten ästheti- schen Grenzüberschreitung die tradierte Kunst insgesamt, die sich auf den Begriffbrei des „Schönen, Wahren, Gu- ten“ beruft.

Petrick ist dabei den anti- ken Begriffen von Wahrheit und Schönheit nahe, die Auf- gabe des Malers nicht anders als die des Dichters begrei-

fend, nämlich die Wahrheit zu verkünden, aus der erst die Schönheit erwächst, wie die alten Musen schon dem Hesi- od erklärten (was Platon al- lerdings anders sah). Oder wie Friedrich von Schiller in einem Brief an Goethe (1797) klagte: „Möchte es doch ein-

mal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit . . . aus dem Umlauf zu brin- gen, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinne an seine Stelle zu setzen“.

Petrick hat es gewagt, allein mit malerischen Mit- teln seine Wahrheit unbeirrt zu verkün- den, nach dem Mot- to des Lucas Moser aus der Frührenais- sance: schri, kunst, schri!

Die 60er-Jahre in Westberlin – das waren be- sonders „laute“ Zeiten mit den grellsten Ereignissen nach dem letzten Weltkrieg:

Die Selbst-Einmauerung der DDR, die Todesschüsse im Osten, die Isolation der bela- gerten Frontstadt Westberlin im Kalten Krieg, die Proteste und Krawalle der jüngeren Generation, Todesschüsse auch in Westberlin. Selbstver- ständlich drangen Eindrücke solcher Ereignisse in das Be- wusstsein und Unterbewusst- sein des malenden Petrick,

der sich im Gegensatz zu vielen jungen Kollegen aber nie zu einseitiger „Gesell- schafts“-Kritik hergab, son- dern stets den Menschen kri- tisch darstellte.

Mit seinem Lebenswerk ist es ihm gelungen, seine Anti- Ästhetik, seine Schönheit durchzusetzen, nachdem die Bildende Kunst in den zwei Jahrhunderten nach Schillers Brief das „heile Schöne“ als Maßstab des ästhetischen Auftrags Schritt für Schritt aufgegeben hat.

DEEP ACTION ist eine Ausstellung betitelt, in der Werke Prof. Wolfgang Pe- tricks mit Bildwerken von 25 seiner Meisterschüler von 1975 – seit er an der Berliner Kunsthochschule, der heuti- gen Universität der Künste, lehrt – bis 2005 zusammenge- fasst sind. Sie war kürzlich in Berlin zu sehen und geht dann weiter nach Korea und China – Ausdruck der internationa- len Wertschätzung des Werkes wie des Künstlers und anre- genden Lehrers. Ernst Roemer V A R I A

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A1604 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 22⏐⏐3. Juni 2005

Leichentoilette bei erheblicher Fäulnis, oben das Gemälde

„Ein neues Spiel“, rechts der Modell-Kopf

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nttabuisieren möchte die Bundesregierung. Dazu stellt sie die Borderline-Per- sönlichkeitsstörung in den Mittelpunkt einer Ausstellung und einer Filmreihe. „Mit ,ta- gebuch borderline-border- land‘ werden Arbeiten von Martina Schwarz aus Aachen gezeigt, in denen die Künstle- rin ihre eigenen Erfahrungen mit der Krankheit verarbeitet hat“, erklärte der Behinder- tenbeauftragte der Bundesre- gierung, Karl Hermann Haack, zur Eröffnung Mitte April in Berlin. Kunstwerke von Borderline-Betroffenen aus ganz Deutschland und der Schweiz sowie Schautafeln zum Krankheitsbild sollen

Menschen informieren, Vorur- teile abbauen, Mut machen so- wie für Verständnis werben.

Der Dokumentarfilm „Ja- nine F.“, der im Rahmen der Ausstellung gezeigt wurde, schildert das Leben und indi- rekt die Krankheitssymptome der 24-jährigen Janine F., die im November 2002 durch ihren Todessprung vom fünf- ten Stockwerk des berühmten Berliner Kunsthauses Tacheles für Schlagzeilen sorgte.

Unentdeckt und unbehan- delt – so wie in Janines tatsächlichem Leben – blei- ben zunächst die Symptome.

Berichte von den Freunden, Liebhabern und Kollegen der im Tacheles tätigen Künstle-

rin setzen sich nach und nach wie ein Puzzle zusammen. Be- schrieben wird in dem posthu- men Porträt eine exzentri- sche, lebenslustige und ar- beitsbesessene junge Frau, die sich selbst „Grenzgängerin“

nannte. Nach und nach ver- strickt sie sich in Beziehun- gen, hat wechselnde Gefühls- ausbrüche und verfällt immer stärker der Drogensucht.

Wie ein roter Faden ziehen sich Ansichten ihrer fertigen und halbfertigen Werke durch den Film: Bilder und Plastiken. Erst ganz am Ende ist Janine selbst zu sehen.

„Wieviele Opfer hat dieses Haus schon gefordert?“, fragt die zierliche und nervös wir-

kende Frau immer und immer wieder andere Tacheles- Künstler. Dies ist der letzte Hilferuf, der zwar aufgezeich- net, aber von ihrer Umge- bung nicht als solcher regi- striert wurde. Aufgenommen hatten die Videosequenz Kol- legen am Tag vor ihrem Tod.

Der Film von Renn be- drückt – ebenso wie das reale Leben von Janine. Selbst ihren leblosen Körper foto- grafierten Touristen im Hof des Tacheles, weil sie an eine Performance glaubten.

„Keiner von uns kann sich in die Gefühls- und Lebens- welt von Menschen mit einer Borderline-Störung hin- einversetzen“, sagte Bundes- gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Durch die Ausstel- lungen ließen sich jedoch die Ängste und die Verzweiflung der Betroffenen ein Stück weit nachvollziehen.

Zu sehen ist die Ausstellung bis 15. Juli im Kleisthaus, Mau- erstraße 53 in Berlin. Der Ein- tritt ist frei.Eva Richter-Kuhlmann

Borderline-Störung

Allein und unerkannt

Filmreihe und Ausstellung werben um Verständnis für

Borderline-Patienten.

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