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Archiv "Nachgefragt: Harald Mau" (08.09.2006)

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eignisse überschlagen. Qualifiziertes Personal im Ministerium gab es Kle- ditzsch zufolge kaum. „Gesetze wurden am Abend vorbereitet und am nächsten Morgen verabschiedet.“ Gleichwohl habe man bereits damals strukturelle Defizite in der Gesundheitsversorgung für ganz Deutschland vorhersehen kön- nen. Deshalb habe er im Mai 1990 auf dem 93. Deutschen Ärztetag in Würz- burg den Wunsch nach einem verän- derten Gesundheitswesen für ganz Deutschland formuliert. 1990 habe es die historisch einmalige Gelegenheit gegeben, von Anfang an und von Grund auf neue und bessere Wege zu beschrei- ten, „wenn denn Politik, Funktionäre und Lobbyisten nur gewollt hätten“, be- dauert der ehemalige DDR-Gesund- heitsminister.

Kleditzsch betonte, bei aller Rück- ständigkeit im DDR-Gesundheitswesen habe es auch positive Elemente gege- ben: so zum Beispiel die gut funktio-

nierende Verzahnung zwischen statio- närem und ambulantem Sektor, das Betriebsgesundheitssystem, die gute Versorgung von Diabetes- oder Rheu- mapatienten, das Tumorregister oder das Impfsystem. Monatelang habe man bei den Verhandlungen über den Eini- gungsvertrag um den Bestandsschutz für die Polikliniken gerungen. „Der Druck von außen, hier zu einer Eini- gung zu kommen, war enorm – der Eini- gungsprozess sollte nicht durch ,Klein- kram‘ aufgehalten werden.“ In § 311 des Einigungsvertrags wurde schließlich festgeschrieben, dass „die Niederlas- sung in freier Praxis mit dem Ziel zu för- dern ist, dass der freiberuflich tätige Arzt maßgeblicher Träger der ambulan- ten Versorgung wird“. Es gab zwar im Zuge des Einigungsprozesses vielfältige Ideen und Reformvorschläge, erinnert sich Kleditzsch. Die konnten aber nicht berücksichtigt werden. Denn nicht ver- gessen dürfe man die wirtschaftlichen

Interessen der Medizingeräte- und Pharmaindustrie. Deren Vertreter hät- ten vor der Tür gestanden, um einen neuen Markt zu erobern; am Erhalt der Polikliniken, ist sich Kleditzsch sicher,

„waren sie nicht interessiert“.

Übernahme ohne Abstriche

Nach der Wiedervereinigung ging es mit der Zahl der Polikliniken rapide bergab.

Bereits im April 1991 waren im Bei- trittsgebiet mehr Ärzte niedergelassen als in Polikliniken tätig, erläuterte Dr.

Heidi Roth während des Workshops in Dresden. Drei Jahre später seien nur noch zwei Prozent aller ambulanten ärztlichen Leistungen in Polikliniken er- bracht worden. Für die Leipziger Histo- rikerin, die sich mit den Aktenüberliefe- rungen aus dem DDR-Gesundheitsmi- nisterium befasst hat, steht fest, dass die DDR-Führung bereits vor 1989 über den kritischen Zustand des Gesund- heitswesens informiert war. Der Regie- rung unter Erich Honecker lagen im August 1989 Analysen vor, die den Rückstand in vielen Bereichen gegen- über dem Westen aufzeigten. Die Krise verschärfte sich noch, nachdem im Ver- lauf des Jahres 1989 rund 4 000 Ärzte die DDR verlassen hatten. Gesundheitsmi- nister Klaus Thielmann forderte im No- vember 1989 von Hans Modrow mehr Geld für das staatliche Gesundheitswe- sen. Die Gesundheitsversorgung berüh- re einen entscheidenden Nerv der Ge- sellschaft, schrieb Thielmann; ein Schei- tern in diesem Bereich könnte das ganze System zum Einsturz bringen.

Die Modrow-Regierung, schilderte Roth, sei noch vom Fortbestand eines staatlich dominierten Gesundheitswe- sens beim Zusammenwachsen der bei- den deutschen Staaten ausgegangen. In Verkennung der Realitäten habe sich die DDR-Führung einen wechselseiti- gen Gesundheitsreformprozess vorge- stellt, der auf ein höheres Versorgungs- niveau im vereinigten Deutschland führen sollte. Positiv bewertete Be- standteile der Gesundheitsversorgung im Osten sollten erhalten bleiben. Mit dem beschleunigten Einigungsprozess unter de Maizière konnte davon jedoch keine Rede mehr sein. Bundesarbeits- minister Norbert Blüm, lautet das Ur- T H E M E N D E R Z E I T

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A2290 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 36⏐⏐8. September 2006

DÄ:Herr Prof. Mau, Ende 1989 haben Sie maßgeblich zur Gründung des ersten frei- heitlichen Ärzteverbandes in der damaligen DDR beigetra- gen. Verstanden Sie sich als Gegner des sozialistischen Systems?

Prof. Mau:Nein. Wir wa- ren lediglich die Bevormun- dung satt. Mit der Gründung des Rudolf-Virchow-Bundes ging es uns nicht darum, dem bundesdeutschen System nachzueifern, sondern wir wollten den bestehenden Missständen innerhalb des staatlichen Gesundheitswe- sens abhelfen. Eine Kommer- zialisierung des Gesundheits- wesens oder eine Trennung des ambulanten vom statio- nären Sektor lehnten wir ab.

DÄ:Wie kam es zur Fusi- on des Virchow-Bundes mit dem NAV-Verband der nie- dergelassenen Ärzte?

Prof. Mau:Nach der Wie- dervereinigung beider deut-

scher Staaten verloren wir als Ärzteverband der DDR unse- re Existenzberechtigung. Wir brauchten einen Partner, ei- nen, mit dem wir uns zusam- mentun können, ohne uns verbiegen zu müssen. Ein rei- ner Ostverein wollten wir nicht sein.

DÄ:Und da kam der NAV mit seinem damaligen Vorsit- zenden Erwin Hirschmann ins Spiel?

Prof. Mau:Erwin Hirsch- mann und ich verstanden uns persönlich sehr gut, wir ver- folgten gemeinsame Denk- ansätze. Eine unserer größten Gemeinsamkeiten war das Thema Polikliniken. Wir wa-

ren derselben Ansicht, dass Kooperationen zwischen Ärz- ten innerhalb einer Poliklinik sinnvoller und effizienter sind als Einzelpraxen. Außerdem war keine der anderen Ärzte- organisationen im Westen zu einer gleichberechtigten Part- nerschaft bereit.

DÄ:Wie bewerten Sie die Fusion rückblickend?

Prof. Mau: Wir haben das erreicht, was unter den damaligen Bedingungen zu erreichen war. Verbands- rechtlich war unsere Fusion die einzige, die nach der Wen- de erfolgt ist. Und darauf sind wir besonders stolz.

DÄ-Fragen: Martina Merten Prof. Dr. med. Harald Mau ist Mitglied des Bundesvor- standes des NAV-Virchow- Bundes und Direktor der Klinik für Kinderchirurgie an der Charité – Humboldt- Universität zu Berlin.

Foto:Bernhard Eifrig

Nachgefragt

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