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Kognitive Verarbeitung von Dreiklängen – ein Reaktionszeit-Experiment zur Unterscheidung von Dur und Moll im Kontext westlich-europäischer Tonalität

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Academic year: 2022

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(1)

Freie Forschungsberichte

Kognitive Verarbeitung von Dreiklängen - ein Reaktionszeit-Experiment

zur Unterscheidung von Dur und Moll

im Kontext westlich-europäischer Tonalität

Herbert Bruhn

Zusammenfassung

Die Experimente aus dem Jahr 2002 schließen an die Arbeiten von Bha­

rucha und Stoeckig (1986, 1987) an. In ihren Experimenten wurden Dur und Moll-Akkorde beurteilt, nachdem ein Ankerreiz (prime) eine Tonalität wachgerufen hatte. Die Ergebnisse von Bharucha und Stoeckig konnten präzisiert werden. (1) Die Zeiten der 10 männlichen und 10 weiblichen Ex­

perten waren deutlich kürzer als in allen anderen Studien, in denen Akkord­

beurteilungen vorgenommen wurden. (2) Ein tonaler Ankerreiz verlängert die Beurteilungszeit geringfügig, aber signifikant. (3) Bei den Verbindun­

gen zwischen einem Dur-Ankerreiz und einem Dur-Zielakkord verlängerte sich die Beurteilungszeit mit jeder zusätzlichen Quinte Abstand um 5 bis 10 ms, aber nur wenn man die Reaktionen betrachtet, die länger als 450 ms dauerten. (4) Sobald Zielakkord und/oder Ankerreiz in Moll gespielt wur­

den, zeigte die Verteilung der Antwortzeiten Besonderheiten, die darauf schließen lassen, dass mit Mollankerreizen eine verwandte Durtonart akti­

viert wird. (5) Die besonders schnellen richtigen Reaktionen (266 bis 440ms) zeigen keine Beziehung zum tonalen Gefüge des Ankerreizes.

Abstract

The experiments from 2002 follow the work of Bharucha and Stoeckig (1986, 1987). They play major and minor chords which had to be distin­

guished as fast as possible. The present experiment was able to report results more precisely. (1) Decisions were much faster than in any other up to now reported harmony experiment. (2) A tonal prime prolonges response times significantly. (3) Response times longer than 450 ms provide evidence for

(2)

the fact that the distance between chords is represented mentally by fifths.

( 4) Minor chords cause particularly differing tonal structures: lt seems as if minor chords activate related major tonalities. (5) Response times less than 440 ms are not aff ected by the tonality of a prime.

1 Forschungslage

Musik wird oft als eine Art von Sprache bezeichnet (Sprache der Welt, vgl.

dazu kritisch Bruhn & Rösing, 1998, S. 15 ff.). Auch wenn kaum definierbar ist, welche Inhalte mit Musik kommuniziert werden könnten (Semantik der Musik), so zeigt sich, dass Musik und Sprache strukturelle Analogien auf­

weisen: Sie lassen sich als auditive Objekte der Wahrnehmung anhand der Parameter Klang, Rhythmus (zeitliche Aufeinanderfolge) und Melodie (Tonhöhe) beschreiben, die zueinander in definierten Beziehungen stehen (Syntax oder Grammatik der Musik: Bruhn, 1988).

Ein Sonderfall der Musiken der Welt ist die westlich-europäisch beeinflusste Kunstmusik, da sie zum einen überwiegend schriftlich fixiert und zum ande­

ren von einem umfassenden Theoriegebäude mit Melodie-, Satz- und Har­

monielehre umrahmt ist.

Bereits vielfach wurde versucht, das musikalische Theoriegebäude mit­

tels psychologischer Paradigmen zu beschreiben. Einen Überblick über die psychologischen Strukturmodelle zur Beschreibung von westlich-europäi­

scher Musik gibt Stoffer (1998). Sehr erfolgreich war die Übertragung von Syntaxmodellen der Linguistik (vgl. insbesondere Chomsky, 1973) auf die Formanalyse und die Generierung von Melodien (vgl. dazu Lerdahl & Ja­

ckendoff, 1983; Stoffer, 1981, 1985). Bekannt wurde diese Forschungsrich­

tung in den 1970er Jahren durch die berühmte Harvard-Vorlesung des Diri­

genten Leonard Bernstein (1976). Inhaltlich setzten sich die Arbeiten bei Krurnhansl und ihren Mitarbeitern fort, die ihre Ergebnisse meist mit nicht­

metrischen mehrdimensionalen Verfahren auswerteten (MDS; Krurnhansl, 1991).

Seltener als Melodien wurden Akkordzusammenhänge thematisiert. Keiler (1978) versuchte, die konstituierende Struktur des harmonischen Ablaufs mit einem an Chomsky angelehnten, hierarchischen Modell zu beschreiben.

Bharucha und Krurnhansl (1983) wiesen mit der MDS von Ähnlichkeitsur­

teilen nach, dass die Stabilität der Beziehung zwischen Akkorden davon beeinflusst ist, in welchem harmonischen Zusammenhang sie gehört wer­

den. Bharucha und Stoeckig (1986, 1987) stellten fest, dass die Identifika­

tion von verstimmten Akkorden für harmonisch entfernte Akkorde länger dauert als für harmonisch nahe Akkorde. Eine Zusammenfassung der vorlie­

genden Studien findet sich bei Bruhn (1988 und 2005). Hier wird außerdem der Begriff der Entfernung bzw. der Verwandtschaft von Akkorden nach der funktionalen Harmonielehre (vgl. dazu Riemann, 1880; Maler, 1931; la Motte, 1985) definiert und ein zweistufiges Verarbeitungsmodell entworfen.

Nach diesem Modell wird zunächst auf einer präattentiven Stufe ein Wahr-

(3)

nehmungsobjekt identifiziert, dann bewusstseinsfähig die Beziehung zwi­

schen den wahrgenommenen Objekten und Gedächtnisinhalten hergestellt.

Bruhn stellt die Hypothese auf, dass die Identifikation von Akkorden als Dur oder Moll vom harmonischen Kontext abhängig ist, der vor Erklingen des Akkords etabliert wird.

2 Forschungsansatz

Zwei Experimente von Bharucha und Stoeckig (1986, 1987) haben bereits Erkenntnisse zu dieser Hypothese beigetragen. Die Autoren gingen von derselben Hypothese aus und beriefen sich auf das von Bharucha entwor­

fene Netzwerkmodell (siehe Abb. 1; Bharucha, 1987).

(Linked to lower edge-minor chords) KEYS

MAJOR CHORDS Q) Ol

-0 Q)

E Ol

·;::

TONES -0 .8 Q)

.:,:_

C

MINOR CHORDS

(Linked to upper edge-minor chords)

Abb. 1 :

Netzwerkmodell der Beziehung zwischen Akkorden und Tonarten (Bharucha, 1987)

Q) Ol

-0 Q)

.i=

.8 -0

.:,:_ Q)

C

Im ersten Experiment spielten Bharucha und Stoecking (1986) den Ver­

suchspersonen eine Tonleiter vor (prime, Ankerreiz) und maßen die Zeit, die gebraucht wurde, um zu entscheiden, ob es sich bei einem nach der Tonlei­

ter gespielten Akkord (target, Zielakkord), um einen sauber intonierten oder einen unsauberen Akkord handelte. In der Veröffentlichung wurden die zu beurteilenden Akkorde den Kategorien „related/unrelated" zugewiesen. Die genaue Art der Relation ist der Veröffentlichung nicht zu entnehmen, sie beruhte jedoch anscheinend auf der Entfernung im Quintenzirkel: Entfernte Akkorde wurden später und fehlerhafter zugeordnet.

(4)

1 .050 0 1 .000Q)

950

Q)

:.:; 900 850

Q) 800

750

40 30

w 20

-;!?. 0

1 0 0

Major prime

Major Minor

Target

Major Minor

Target

Abb. 2:

Minor prime

Major Minor

Target

Major Minor

Target Experiment von Bharucha & Stoeckig, 1987

Related

Unrelated

Im zweiten Experiment (vgl. Bharucha & Stoecking, 1 987) wurde nach einer Dur- oder Molltonfolge (prime) ein Akkord gespielt, der so schnell wie möglich als Dur- oder Molldreiklang identifiziert werden sollte (target) . Dur-Zielakkorde wurden schneller erkannt als Moll-Akkorde, egal ob das Priming Dur oder Moll war. Bei Moll-Zielakkorden waren die Ergebnisse nicht so klar: Nach einem Dur-Priming wurden sie insgesamt schneller als nach einem Moll-Priming erkannt. Die Relation zum Priming spielte jedoch entweder keine Rolle (Dur) oder eine Rolle, die dem Dur-Priming entgegen­

gesetzt war (vgl. Abb. 2) .

In beiden Arbeiten wird die wichtige Unterscheidung zwischen „related"

und „unrelated" ungenau beschrieben, obwohl deutlich wird, dass mit harmo­

nischer Beziehung (relatedness) die Quintbeziehung gemeint ist. Auch wird die Versuchspersonengruppe nicht genau beschrieben. Verwunderlich sind

(5)

die relativ langen Beurteilungszeiten und die zum Teil sehr hohen Fehlerquo­

ten, die auf eine nicht professionell ausgebildete Klientel schließen lassen.

Mit der im folgenden beschriebenen Studie sollten die Ergebnisse repli­

ziert und präzisiert werden.

3 Empirische Studie 3. 1 Hypothesen

Die vorliegende Studie wurde 2001/2002 durchgeführt und ging von zwei Hypothesen aus:

A) Entscheidungen über den Unterschied zwischen zwei auditiven Objek­

ten wie musikalischen Akkorden werden schwieriger, wenn vor dem zu beurteilenden Objekt ein tonales Feld aktiviert wird.

B) Der Grad der Schwierigkeit ist von der Entfernung des zu beurteilenden Objektes vom aktivierten tonalen Feld abhängig. Die Entfernung misst sich nach dem Quintenzirkel mitteleuropäischer Harmonielehre.

3.2 Operationalisierung

Als auditive Objekte werden Dur- und Moll-Akkorde bzw. Akkordfolgen verwendet.

Die Aktivierung eines tonalen Feldes erfolgt über eine Tonleiter und eine kurze Kadenz mit den drei Hauptfunktionen westlich-mitteleuropäischer Musik.

Die Entfernung zwischen dem aktivierten tonalen Feld und dem zu beur­

teilenden Akkord wird im Experiment durch die Abstände in Halbtonschrit­

ten kontrolliert. Ausgewertet werden die Entfernungen in Quintabständen, da vermutet wird, dass dies der kognitiven Repräsentation entspricht.

Die Schwierigkeit einer Entscheidung soll aus Reaktionszeiten (response time RT, gemessen in Millisekunden) abgeleitet werden: Die Aufgabe der Versuchspersonen war, so schnell und so korrekt wie möglich den Charakter des Zielakkords (Dur oder Moll) zu bestimmen, der nach einer Tonleiter und einer kurzen Kadenz erklingt. Je schwieriger die Aufgabe ist, desto länger dauert die Bearbeitung der Aufgabe.

3.3 Versuchsaufbau und Apparate

Das Experiment wurde von einem Laptop (Betriebsystem Win 98) mittels eines Pascal-Programms (Delphi 6.0) gesteuert. Das Programm übernahm Abfolge und Auswahl der Versuchsstimuli, Zeitmessung und Speicherung der Daten. Die Tonerzeugung erfolgte über MIDI (musical instruments digi-

(6)

tal interface) mit einem Soundmodul (Roland SV 1010) und zwei Aktivbo­

xen. Die Klänge waren gesampelte Klavierklänge. Drei Experimente wur­

den durchgeführt.

Vor-Experiment: Die Versuchspersonen hörten zunächst eine Folge von sieben Tönen (distractor) im Abstand von je 200ms (IOI inter onset inter­

val). Diese Töne wurden vom Programm per Zufall aus der mittleren Oktave (MIDI 48 bis 59) ausgewählt und sollten den Tonarteindruck der vorigen Auf­

gabe verwischen. Nach einer Pause von 200ms plus/minus 50ms (randomi­

siert) folgte ein Dur- oder ein Moll-Akkord. Die Aufgabe der Versuchsper­

sonen war, so schnell wie möglich eine der beiden Pfeiltasten auf der Laptop-Tastatur zu drücken. Dieser Versuch diente lediglich dazu, die Ver­

suchspersonen an die Versuchsanordnung zu gewöhnen und den Ehrgeiz auf schnelle Reaktionszeiten hervorzurufen. Um dies zu befördern, stand der Versuchsleiter neben der Versuchsperson und ermunterte sie/ihn, schneller auf die Pfeiltasten zu tippen, solange die Reaktionszeiten deutlich über 200 ms lagen. Das Vorexperiment wurde nur in der ersten Sitzung vorge­

schaltet. Die Ergebnisse werden hier nicht berichtet.

Experiment 1: Im nächsten Abschnitt hörten die Versuchspersonen wie­

der die Zufallsfolge (distractor) und darauf den Dur- oder Moll-Akkord als Zielakkord (target). Der Abstand zwischen dem Beginn des letzten Tons der Zufallsfolge und dem Zielakkord betrug diesmal durchgehend 1.000 ms (IOI). Mit Erklingen des Zielakkords mussten die Versuchspersonen so schnell wie möglich entscheiden, ob es sich um einen Dur- oder Moll-Ak­

kord handelte, und mit den Pfeiltasten der Laptoptastatur angeben. Die Tab. 1 :

Versuchsplan und Ablauf der Sitzungen jeder Vpn.

1. Sitzung 2. bis 8./11. Sitzung

Experiment Experiment Experiment Experiment Experiment

0 1 2 1 2

Ablauf distractor distractor distractor distractor distractor + Zielakkord + Zielakkord + Tonleiter Zielakkord + Tonleiter

und vier und vier

Akkorde Akkorde

+ Zielakkord + Zielakkord

24 Dur+24 24 Dur+24

Moll Moll

Aufgabe möglichst möglichst möglichst möglichst möglichst schnelle schnelle und schnelle und schnelle und schnelle und Reaktion richtige richtige richtige richtige

Dur-Moll- Dur-Moll- Dur-Moll- Dur-Moll- Beurteilung Beurteilung Beurteilung Beurteilung

(7)

Pfeiltasten rechts und links wurde Dur und Moll beim Programmstart per Zufall zugeordnet, so dass sich die Versuchspersonen über die zehn Sitzun­

gen mehrfach umstellen mussten.

Experiment 2: Nach der bereits beschriebenen Zufallsfolge (distractor) wurde eine Tonleiter gespielt, der eine kadenzierende Reihe von vier Akkor­

den in derselben Tonart (Ausgangstonart) folgte. Danach erklang der Ziel­

akkord, der von den Versuchspersonen so schnell wie möglich auf Dur oder Moll untersucht werden musste. Die Entscheidung wurde mit den Pfeiltas­

ten registriert (Anordnung wie in Experiment 1).

3.4 Versuchspersonen

An den Experimenten nahmen 20 Versuchspersonen teil (10 weiblich, 10 männlich). Das Alter lag zwischen 17 bis 36 Jahre (M =24,1). Die Versuchs­

personen waren alle Studierende der Hochschule für Musik und Theater und hatten in der Aufnahmeprüfung für Gehörbildung und in den folgenden Ge­

hörbildungskursen überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Sie haben zwi­

schen dem vierten und zehnten Lebensjahr mit formellem Instrumentalunter­

richt begonnen und diesen zwischen 14 und 28 Jahre lang kontinuierlich erhalten (M= 18,3 Jahre der instrumentalen Unterweisung).

3.5 Versuchsablauf

Nach 48 Messungen der Reaktionszeit im Vorexperiment erschien der An­

weisungsbildschirm mit der Erklärung des Experiments 1. Es folgten die Beurteilungen mit Zeitmessung, die so lange fortgesetzt werden mussten, bis 24 Dur- und 24 Moll-Akkorde richtig beurteilt waren. Wurde ein Akkord nicht richtig identifiziert, so wurde die Versuchsbedingung als nicht erledigt gekennzeichnet und später wiederholt. Unterlief der Versuchsperson viermal nacheinander ein Fehler, so wurde eine Meldung eingeblendet, die zu einer Pause riet. Dies geschah im Verlauf des 1. Experiments nie - im Verlauf des 2. Experiments dreimal (bei insgesamt 52.697 Akkordbeurteilungen).

Nach den 48 richtigen Beurteilungen in Experiment 1 erschien der Anwei­

sungsbildschirm mit der Erklärung von Experiment 2. Jetzt wurden jeweils nacheinander alle 48 möglichen Verbindungen zwischen einer Dur- oder Moll-Kadenz (Ankerreiz) mit einem Dur- oder Moll-Zielakkord (=Versuchs­

bedingungen) in randomisierter Reihenfolge präsentiert (Tabelle 2).

Waren alle 48 Akkordverbindungen richtig beurteilt, wurde das nächste Set von 48 randomisierten Versuchsbedingungen begonnen. Falsche Beur­

teilungen führten dazu, dass die jeweilige Versuchsbedingung im Rahmen des 48er-Sets erneut angeboten wurde, so lange bis alle 48 Versuchbedin­

gungen richtig beurteilt worden waren.

(8)

Tab. 2:

Versuchsbedingungen (mode) in Experiment 2

Dur-Ankerreiz Moll-Ankerreiz N

Dur -Zielakkord jeweils jeweils 24

für O bis 11 Halbtöne für O bis 11 Halbtöne

Abstand Abstand

Moll-Zielakkord jeweils jeweils 24

für O bis 11 Halbtöne für O bis 11 Halbtöne

Abstand Abstand

24 24 48

Das Experiment 2 wurde in jeder der acht bis elf Sitzungen so lange fortge­

setzt, bis entweder die Versuchsperson den Versuch beendete oder das Pro­

gramm den Versuch abbrach. Der Versuch wurde vom Programm nach einer Gesamtarbeitszeit von ungefähr 45 bis 50 Minuten abgebrochen, da davon ausgegangen werden musste, dass spätestens nach dieser Zeit die Konzentra­

tion nachlassen würde. Während der Sitzung wurden weitere Pausen einge­

legt, sobald die Versuchsperson dies wünschte.

Es wurde mit den Versuchspersonen vereinbart, dass so viele Sitzungen stattfinden, wie für 2.000 richtige Beurteilungen notwendig sind. Dadurch war gewährleistet, dass jede Versuchbedingung mindestens zwanzig Mal bearbeitet wurde. Als Entschädigung für die Zeit der Teilnahme erhielten die Versuchspersonen den damaligen Stundensatz einer studentischen Lehr­

kraft für Instrumentalunterricht von 15€.

4 Auswertung (1)

4. 1 Unterschiede zwischen den Versuchspersonen

Die Genauigkeit der Dur-Moll-Unterscheidung war unterschiedlich hoch und lag im Hauptexperiment 2 im Mittel bei 93,1 Prozent richtigen Ent­

scheidungen (Tabelle 3).

Einige der Versuchspersonen konnten die Entscheidung über Dur und Moll so schnell treffen, dass befürchtet wurde, sie hätten lediglich so schnell wie möglich eine Taste gedrückt (vgl. Tabelle 4). Es wurde deshalb berech­

net, ab welcher Reaktionszeit richtige Antworten nach dem Binomialtest überzufällig auftraten. Die untere Grenze signifikant richtiger Entscheidun­

gen ist für jede Versuchsperson in Tabelle 5 (vorletzte und letzte Spalte) enthalten. Gender-Effekte wurden nicht gefunden.

(9)

Vpn 10

1 1 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Gesamt

Tab. 3:

Anzahl der richtigen und falschen Beurteilungen (Nr. 10-19 männlich, 20-29 weiblich) in Experiment 2

Beurteilung

Gesamt

falsch richtig

N % N % N %

212 9,6 % 2000 90,4 % 2212 100,0 % 251 11,5 % 1924 88,5 % 2175 100,0 % 213 9,6 % 2002 90,4 % 2215 100,0 % 69 3,3 % 2000 96,7 % 2069 100,0 % 43 2,2 % 1920 97,8 % 1 963 100,0 % 119 5,6 % 2016 94,4 % 2135 100,0 % 181 8,1 % 2050 91,9 % 2231 100,0 % 147 6,8 % 2016 93,2 % 2163 100,0 % 51 2,5 % 2016 97,5 % 2067 100,0 % 77 3,7 % 2000 96,3 % 2077 100,0 % 466 18,7 % 2030 81,3 % 2 496 100,0 % 44 2,1 % 2016 97,9 % 2060 100,0 % 199 9,0 % 2016 91,0 % 2215 100,0 % 158 7,3 % 2000 92,7 % 2158 100,0 % 90 4,3 % 2016 95,7 % 2106 100,0 % 46 2,2 % 2000 97,8 % 2046 100,0 % 39 2,1 % 1 824 97,9 % 1863 100,0 % 37 1,8 % 2000 98,2 % 2037 100,0 % 171 7,8 % 2016 92,2 % 2187 100,0 % 349 15,7 % 1 880 84,3 % 2229 100,0 % 2 962 6,9 % 39742 93,1 % 42704 100,0 %

(10)

Tab. 4:

Anteil schneller Reaktionszeiten bei den Dur- und Moll-Beurteilungen in Experiment 2 Reaktionszeit

Gesamt unter 400ms 401--450ms über 450ms

N % N % N % N %

Vpn 10 531 26,6 % 539 27,0 % 930 46,5 % 2000 100,0 % 11 222 11,5 % 460 23,9 % 1242 64,6 % 1924 100,0 % 12 13 0,6 % 46 2,3 % 1943 97,1 % 2002 100,0 % 13 35 1,8 % 254 12,7 % 1711 85,6 % 2000 100,0 %

14 1920 100,0 % 1920 100,0 %

15 225 11,2 % 467 23,2 % 1 324 65,7 % 2016 100,0 % 16 170 8,3 % 464 22,6 % 1416 69,1 % 2050 100,0 % 17 351 17,4 % 581 28,8 % 1084 53,8 % 2016 100,0 % 18 98 4,9 % 282 14,0 % 1 636 81,2 % 2016 100,0 % 19 260 13,0 % 569 28,5 % 1171 58,6 % 2000 100,0 % 20 775 38,2 % 568 28,0 % 687 33,8 % 2030 100,0 % 21 167 8,3 % 568 28,2 % 1281 63,5 % 2016 100,0 % 22 439 21,8 % 435 21,6 % 1142 56,6 % 2016 100,0 % 23 147 7,4 % 409 20,5 % 1 444 72,2 % 2000 100,0 % 24 1 0,0 % 44 2,2 % 1971 97,8 % 2016 100,0 % 25 421 21,1 % 543 27,2 % 1036 51,8 % 2000 100,0 % 26 216 11,8 % 402 22,0 % 1206 66,1 % 1824 100,0 % 27 27 1,4 % 156 7,8 % 1817 90,9 % 2000 100,0 % 28 371 18,4 % 485 24,1 % 1160 57,5 % 2016 100,0 % 29 23 1,2 % 113 6,0 % 1744 92,8 % 1 880 100,0 % Gesamt 4 492 11,3 % 7385 18,6 % 27865 70,1 % 39742 100,0 %

(11)

Tab. S:

Prozentualer Anteil der richtigen Antworten in Experiment 2, M = 92,69 %, Spann­

weite von 80,09 bis 98,18 % und Signifikanz der unteren Grenze der Reaktionen (der kürzeste Wert für ein richtiges Urteil war 266 ms)

Prozent richtige untere Grenze RT signifikant:

Experiment 2 Antworten 5 % Niveau 1 % Niveau

Vpn 10 90,4 % 320 330

Vpn 11 80,5 % 360 370

Vpn 12 90,4 % 410 440

Vpn 13 96,7 % 375 380

Vpn 14 97,8 % 515 520

Vpn 15 94,4 % 335 360

Vpn 16 91,9 % 370 380

Vpn 17 93,2 % 350 360

Vpn 18 97,5 % 360 370

Vpn 19 96,3 % 345 360

Vpn 20 81,3 % 325 330

Vpn 21 97,9 % 330 340

Vpn 22 91,0 % 335 340

Vpn 23 92,7 % 360 370

Vpn 24 95,7 % 430 450

Vpn 25 97,8 % 340 350

Vpn 26 97,9 % 340 360

Vpn 27 98,2 % 385 395

Vpn 28 92,2 % 340 345

Vpn 29 84,3 % 400 410

(12)

Tab. 6:

Unterscheidung von „schnellen" und „langsamen" Versuchspersonen nach den Daten aus Experiment 2, wie sie in Tabelle 4 aufbereitet wurden

„schnelle" V pn mehr als 10 % der RT < 400 ms Vpn m: 10, 11, 15, 17, 19

w: 20, 21, 22, 25, 26, 28

„langsame" Vpn weniger als 10 % oder keine RT < 400 ms m: 12, 13, 14, 16, 18

w: 23, 24, 27, 29

Anmerkung: Vpn = Versuchspersonen; RT = Reaktionszeit; m = männlich; w = weiblich

4.2 Zusammenhang zwischen Fehlerzahl und Beurteilungszeit In Tabelle 6 findet sich eine Einteilung in schnelle und langsame Versuchs­

personen. Aus Tabelle 7 ist erkennbar, dass die schnellen Versuchspersonen ein größeres Fehlerrisiko eingehen: Je mehr schnelle Beurteilungen unter 400 ms liegen, desto mehr Fehler werden auch registriert (Variable FALSCH):

Die Korrelation zwischen der Anzahl der extrem kurzen Reaktionszeiten und der Fehlerzahl liegt bei r = .67 und ist signifikant. Die Anzahl der Fehler (FALSCH) korreliert aber gerade bei den schnellen Versuchspersonen nicht mit dem schnellsten überzufälligen Wert. Das heißt, eine sehr schnelle Ver­

suchsperson macht nicht generell mehr Fehler als eine etwas weniger schnelle Tab. 7:

Verschiedene Maße wurden berechnet, um die Zuverlässigkeit der Daten zu überprüfen Leistungs- FALSCH unter 400 bis unteres

level 400 ms 450 ms Sig.-Level

FALSCH schnell 1 ,670* -,048 -,145

normal 1 ,236 ,193 -,361

unter 400ms schnell ,670* 1 ,242 -,535

normal ,236 1 ,956** -,651

400 bis 450 ms schnell -,048 ,242 1 -,142

normal ,193 ,956** 1 -,767*

unteres Sig. -Level schnell -,145 -,535 -,142 1

normal -,361 -,651 -,767* 1

Anmerkung: Sig.-Level der Korrelationen: * p = .05; ** p = .0 1 ; Variable FALSCH = Prozentanteil der Fehler jeder Vpn in Experiment 2; Variable „unter 400 ms/400 bis 450 ms" = absolute Zahl dieser Reaktionszeiten je Vpn; unteres Sig.-Level = überzufällig richtige Entscheidungen mit p = .05.

(13)

Versuchsperson. Aber eine schwach negative Korrelation zeigt an, dass bei den langsamer reagierenden, normalen Versuchspersonen die Entscheidung zwischen Dur und Moll sicherer wird, je mehr Zeit sich die Versuchsperso­

nen nehmen.

4.3 Vergleich der Reaktionszeiten mit und ohne Priming (Hypothese A)

Tabelle 8 zeigt, dass die Entscheidung über Dur und Moll länger dauert, wenn der Zielakkord im tonalen Zusammenhang eines Ankerreizes beurteilt werden soll. Die Unterschiede liegen bei 4 bis 6 ms und sind für die gesamte Stichprobe auf 0, 1-Prozent-Niveau signifikant.

Tab. 8:

Vergleich der Reaktionszeiten von Experiment 1 und 2, nur für die richtigen Beurteilungen (T-Test für Mittelwertsunterschiede)

Experi- N Mittel- Standard- Unterschied

ment wert abweichung signifikant:

alle 1 8946 510,57 124,571

Versuche p < .001

2 42444 515,55 122,145

Zielakkord 1 4 499 517,03 127,808

Dur n. s.

2 21257 520,94 124,586

Zielakkord 1 4 447 504,04 120,871

Moll p < .05

2 21 187 510,14 119,404

4.4 Abhängigkeit der Reaktionszeiten vom tonalen Umfeld (Hypothese B)

Abbildung 3 und Abbildung 4 zeigen die Mittelwerte der Reaktionszeiten für alle Versuchsbedingungen in Experiment 2. Die X-Achse ordnet die Werte zwischen Ankerreiz und Zielakkord in Quintabständen an. Zu erwar­

ten gewesen wäre, dass die Tonika der am leichtesten zu beurteilende Ak­

kord ist, da die Ankerreiz-Kadenzen mit einem Akkord des selben Grund­

tons beendet werden - in der Hälfte der Fälle (Mode 1: Dur-Dur und Mode 4: Moll-Moll) sogar mit dem identischen Akkord. Genau dies ist für keine Versuchsbedingung der Fall. Die Tonika als Null-Entfernung führt sogar zu einer längeren Reaktionszeit.

Genau die Situation, dass die Tonika als Zielakkord auf die Tonika des Ankerreizes folgt, thematisierten mehrere Versuchspersonen während der

(14)

f-a:

t:::

(l) :s:

Q) .E

Dur Dur alle Beurteilungen

560

550 ..,.,,.

-

540

- -

530

520 ,..,.,...�

-

5 1 0 500 490

480 __,__, ... ,..,_,,....h....,_.....,_...,_...,_...,...,...,_

� � � � S T D 2 3 4 5 6

QUINT

f-a:

t:::

(l) :s:

Q)

Abb. 3:

560 550 540 530 520 5 1 0 500 490 480

Dur Moll alle Beurteilungen

� � � � S T D 2 3 4 5 6

QUINT

Versuchbedingungen 1 und 2, links die Mittelwerte der RT für die Folge Dur-Kadenz und Dur-Zielakkord, rechts für die Folge Dur-Kadenz und Moll-Zielakkord. Die X-Achse

zeigt die Entferung zwischen Ankerreiz und Zielakkord in Quinten an.

Experimente, ohne darauf angesprochen zu sein: Sie sagten, sie seien be­

stimmt schlecht bei der Reaktion auf die Tonika, da sie immer wieder über­

rascht waren, denselben Akkord wie zuvor beim Kadenzabschluss zu hören.

Da diese Bedingung bei jeder Versuchsperson mindestens achtzigmal vor­

kam, scheint hier keine Fehlervarianz vorzuliegen, sondern ein systemati­

scher Einfluss wirksam zu werden, der eine Gewöhnung verhindert.

Eine regelhafte hypothesenkonforme Veränderung der Reaktionszeit auf Grund der Entfernung vom Ursprung einer Tonalität ist jedoch nicht zu er­

kennen. Wegen dieses Auswertungsstands müsste Hypothese B zurückge­

wiesen werden.

Moll Dur alle Beurteilungen Moll Moll alle Beurteilungen

560 560

550 550

-

540 540

f- f- -

a: 530 - a: 530 -

t::: (l) - t::: - -

520 - (l) 520

:s: :s:

--

Q) ::::, 5 1 0

- - - -

Q) .E 5 1 0

500

-

500

490 ,_ 490

480 480

-5 � -3 -2 s T D 2 3 4 5 6 -5 � -3 -2 s T D 2 3 4 5 6

QUINT QUINT

Abb. 4:

Versuchsbedingungen 3 und 4, links die Mittelwerte der RT für die Folge Moll-Kadenz und Dur-Zielakkord, rechts für die Folge Moll-Kadenz und Moll-Zielakkord (ebenfalls

nach Quintabständen).

(15)

5 Auswertung (II)

5. 1 Unterscheidung zwischen schnellen und langsamen Reaktionen

Eine weitere Auswertung wurde durchgeführt, die nicht von einer Hypo­

these gedeckt war. Die Unterscheidung zwischen schnellen und normalen Versuchspersonen entsprang der Betroffenheit des Versuchsleiters, der sich als Experte in Gehörbildung sieht und selbst keine sicheren Entscheidungen über Dur und Moll treffen konnte, die unter 430 ms lagen. In einer Probe­

rechnung zeigte sich, dass die Werte der langsameren Versuchspersonen (siehe Tabelle 6) der in der Hypothese B verlangten Struktur der Reaktions-

580 570 1-a:

t::'. 560

Ql 3:

550

540

530

590 580 1-a:

t::'. 570

Ql 3:

560

550

Dur Dur RT > 400 ms

-

- -

,.,....

-

-

- -

n1 -

� � -3 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT Dur Dur RT > 420 ms

� � -3 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT

1-a:

Ql 3:

1-a:

t::'.

Ql 3:

Abb. Sa:

590

580 570 560 550 540 530

600 590 580

570 560 550

Dur Dur RT> 41 0 ms

-5 � -3 -2 s T D 2 3 4 5 6 QUINT

Dur Dur RT > 430 ms

� � -3 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT

Schrittweise wurden die Daten um schnelle Beurteilungszeitenreduziert. Ab der unteren Grenze von 450ms veränderte sich das Mittelwertsprofil der zwölf Beurteilung nicht

mehr.

(16)

Dur Dur RT> 440 ms Dur Dur RT > 450 ms

600 6 1 0

-

590 600

f- f- 590

a: a:

t::: Cl) 580 t:::

;,: Cl) ;,: 580

ai :::0 570 ai r-

.E

570

560 560

550 550

-5 --4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6 -5 --4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6

QUINT QUINT

Dur Dur RT > 460 ms Dur Dur RT> 470 ms

620 630

6 1 0

-

620

f- 600 f- 6 1 0

a: t:::

-

a: t:::

Cl) 590 Cl) 600

;,: r- ;,:

ai ai:::0

580

-

- 590

570 580

560 570

-5 --4 -3 -2 S T D 2 3 4 5 6 -5 --4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6

QUINT QUINT

Abb. Sb:

Schrittweise wurden die Daten um schnelle Beurteilungszeitenreduziert. Ab der unteren Grenze von 450 ms veränderte sich das Mittelwertsprofil der zwölf Beurteilung nicht

mehr.

zeiten näher kamen als alle Werte aus Experiment 2 zusammen. Eine Re­

duktion des gesamten Datenmaterials von Experiment 2 wurde vorgenom­

men: Schrittweise wurden die Daten um die richtigen Reaktionen unter 400 ms, unter 410 ms usw. bis 450 ms herausgenommen. Die Veränderung der Verteilung soll aus Platzgründen exemplarisch am Mode 1 (Dur-Anker­

reiz und Dur-Zielakkord) in Abbildung 5a und 5b dargestellt werden (die Verteilungen der anderen Modi verändern sich analog).

Erstaunlicherweise nähert sich die Verteilung der Reaktionszeiten dem Profil an, das in der Hypothese B postuliert wurde. Wenn man von der ver­

längerten Reaktionszeit für die Tonika absieht, dann wird die Entscheidung über Dur und Moll mit wachsendem Abstand zwischen Prime und Zielak­

kord stetig länger.

(17)

5.2 Exkurs

Die Dichotomisierung der Daten beim Reaktionszeitwert 449/450 ms er­

folgte „empirisch" (im negativen Sinn) durch Ausprobieren und Erfahren.

Ex post lässt sich eine Begründung für dieses Vorgehen finden: Aus der Neurowissenschaft ist bekannt (im Uberblick Koelsch & Schroeger, 2008), dass ein auditiver Reiz zwei wichtige Hirnpotenziale hervorruft: Nach 100 bis 150 ms zeigt das Nl an, dass ein Signal eingegangen ist. Nach 250 bis 400ms zeigt das N400 an, dass das Signal bewusst geworden ist. Ein be­

wusster Entscheidungprozess würde also nach 250 bis 400 ms eine Reaktion einleiten, für die wiederum bis zur Ausführung im Schnitt 150 ms benötigt werden (dazu Slater-Hamel, 1960). Die schnellsten Reaktionen auf be­

wusste Entscheidungen liegen also bei 400 ms, im Mittelwert um die 4 7 5 ms.

Es liegt somit nahe, den Bereich der Reaktionszeiten nach unten hin abzu­

grenzen, da der Entscheidungsvorgang nicht bewusst sein kann.

5.3 Auswertung der langsamen Entscheidungen (RT> 450ms) Für alle Versuchsmodi bleibt die Verzögerung bei der Erkennung der Tonika erhalten. Bei der Folge Ankerreiz= Dur und Zielakkord= moll fällt der Ak­

kord auf der 6. Stufe (3 Quinten vom tonalen Zentrum entfernt) zusätzlich auf: Es handelt sich funktional gesehen um die Tonikaparallele, dem häu­

figsten Vertreter der Tonika insbesondere bei Trugschlüssen (zu Vertreterak­

korden siehe Bruhn, 1988, S. 82 f.).

Der Bezug zur Tonalität der Ankerreiz-Kadenz kristallisiert sich jetzt sehr deutlich heraus. Für die Verbindung Dur-Kadenz und Dur-Zielakkord ist die Abhängigkeit zwischen der aktivierten Tonalität und der Reaktionszeit bis auf die verzögerte Beurteilung der Tonika nahezu perfekt: Die Reaktions­

zeiten werden mit zunehmender Entfernung in Quintschritten stetig und nahezu linear länger (Abbildung 6, oben links).

Für die Folge Moll-Kadenz/Dur-Zielakkord gilt ähnliches: Absehen von der Tonikaverzögerung gibt es eine lineare Abhängigkeit von der Quintent­

fernung -allerdings überraschenderweise mit dem Minimum der RT zwei Quinten unter dem tonalen Zentrum der Ankerreiz-Kadenz. Es handelt sich nach traditioneller Harmonielehre um die Dominante der Dur-Parallele (beispielsweise bei einer Tonika c-Moll: B-Dur als Dominante für Es-Dur;

Abbildung 6, unten links). Die lineare Abhängigkeit bleibt von diesem Ort der Aktivierung über vier Quinten nach oben und unten erhalten.

Die Verbindung von Dur-Kadenz als auch Moll-Kadenz mit einem Moll­

Zielakkord verschiebt ebenfalls das Zentrum der Aktivierung -hier nun um drei Quinten nach unten. Vom tonalen Zentrum C beispielsweise wäre das es­

Moll, eine Tonart ohne funktional erklärbaren Bezug zur Ankerreiz-Tonart.

Sieht man von der verzögerten Erkennung der Tonika ab, ist die Beziehung zwischen Distanz und Beurteilungszeit von diesem Aktivierungszentrum wie­

der stetig und linear -für die Dur-Kadenz bis zur 6. Quinte, für die Moll­

Kadenz aufwärts bis zur 4. und abwärts bis zur 3. Quinte.

(18)

In der Grafik Dur-Kadenz/Moll-Zielakkord (oben rechts) sind die Unter­

schiede zwischen den RT bemerkenswert gering -bis auf die bereits er­

wähnte, mit einem Stern bezeichnete Tonika-Parallele der Ankerreiz-Tonart.

600 Dur Dur RT > 450 ms 600 Dur Moll RT > 450 ms

*

aI

590

590

1- 1- 580

a: a:

t::: Ql 580 t::: Ql 570

:;: :;:

ai 570 ai 560

.=E 550

560 540

550 530

-5 -4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6 -5 -4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6

QUINT QUINT

590 Moll Dur RT> 450 ms 6 1 0 Moll Moll RT> 450 ms

580 600

1- 1- 590

a: a:

t::: Ql t:::

Ql 580

:;: :;:

ai 560 ai

570

550 560

540 550

-5 -4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6 -5 -4 -3 -2 s T D 2 3 4 5 6

QUINT QUINT

Abb. 6:

Die vier Versuchsbedingungen aus Experiment 2, mit den Mittelwerten der Reaktions­

zeiten ab 450ms

5.4 Auswertung der schnellen Entscheidungen (RT <450)

Im Gegensatz zu den Daten über 450 ms erkennt man in den Daten unter 450 ms keine Beziehung zum Ankerreiz. Die Mittelwerte der vier Versuchsbe­

dingungen liegen nahe beieinander (wenige Millisekunden, Abbildung 7).

Auch eine weitere Reduzierung der Daten verändert das Bild nicht (Abbil­

dung 8) -der Ankerreiz durch unterschiedlich weit entfernte Kadenzen hat keinen Einfluss mehr auf die Beurteilungszeiten. Diese Aussagen erweisen sich in der einfaktoriellen Varianzanalyse als überzufällig (Tabelle 9).

Auch eine schrittweise weitere Reduktion der ausgewerteten Reaktions­

zeiten ergibt kein anderes Bild. Die Mittelwerte werden kürzer, die Varianz bleibt klein: Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Ankerreizes unterhalb von 450 ms verschwunden ist.

(19)

440 430

a: 420 41 0 t Q)

3: 400

ai .E 390

380 370 360

440 430 1- 420

a: 41 0

Q) 400

ai 3:

390

380 370 360

ur ur <

D D RT 440 ms

-- --

-

- --

-

� � � 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT M II D RT 440 0 ur < ms

- - -

� � � 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT

1-a:

t

a: t Q) ai 3:

Abb. 7:

440 430 420 4 1 0 400 390 380 370 360

440 430 420 41 0 400 390 380 370 360

ur 0 <

D M II RT 440 ms

--

- --

---

� � � 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT M II M II RT 440 0 0 < ms

-- --

--

�-

-�

� � � 4 S T D 2 3 4 5 6

QUINT

Die Mittelwerte der vier Versuchsbedingungen sind erkennbar nicht abhängig vom Ankerreiz

Tab. 9:

Die Varianzen (erste Tabellenhälfte) sind bei den kürzeren Reaktionszeiten nicht unter­

schiedlich, ab 450 ms sind die Reaktionszeiten jedoch signifikant von den Versuchbedin­

gungen abhängig

Einfluss der Versuchsbedingungen auf die Reaktionszeitwerte

(Varianzhomogenität) alle Daten Dur Dur Dur Moll Moll Dur Moll Moll Werte unter 450 ms p = 0,443 0,901 0,606 0,457 0,043 Werte ab 450 ms p = 0,001 0,001 0,001 0,001 0,001 Anmerkung: sig. =Homogenität signifikant durchbrochen

Einfluss der Quintabstände auf die Reaktionszeitwerte

(Mittelwerte) alle Daten Dur Dur Dur Moll Moll Dur Moll Moll Werte unter 450 ms p = 0,309 0,806 0,429 0,417 0,288 Werte ab 450 ms p = 0,001 0,001 0,001 0,001 0,001 Anmerkung: sig. =die Mittelwerte der jeweiligen Versuchsbedingungen haben einen signifikanten Ein­

fluss auf die RT

(20)

400 395 390 f- 385

a: t 380

� 375

� 370

� 365 360 355

Dur Dur RT < 440 ms

- -- --

350 ...,,...,._.,._.._.,..._--,---ü�'-.-"-,--"--.-JL..,.-'L..,,-U-,-L....--'-

f-a:

t

Ql :'!

400 395 390 385 380 375 370 365 360 355 350

400 395

b: 390 385 t 380

� 375

� 370

� 365 360 355

C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände ur ur <

D D RT 4 20 ms

-

--- --

--

-

C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände Dur Dur RT < 400 ms

350 '---'-,-"--.,....U...,....U.--,---ü�'-.-._,_-"--.-JL..,.-"--,,-U-.,....U...--'- C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände

400 395 390 f- 385

a: t 380

� 375

� 370

� 365 360 355 350

f- t Ql

:'!

400 395 390 385 380 375 370 365 360 355 350

400 395

b: 390 385 t 380

� 375

]i 370

� 365 360 355

Dur Dur RT < 430 ms

- - - *

-

-

--

C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände Dur Dur RT < 41 0 ms

--

--

-

-

--

-

C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände Dur Dur RT < 390 ms

350 '---'-,-"--...U-...U.--"---'"'--"---.--'L-.-JL--.----"--.--"--'---'- C C# D Eb E F F# G Ab A Bb H

Tonleiterabstände

Abb. 8:

Reaktionszeiten für die schnellen Entscheidungen unter 450ms - die schrittweise Reduktion der Daten um langsame Entscheidungen verändert das Profil überhaupt nicht

6 Diskussion

Hypothese A kann nach Auswertung der Gesamtdaten als teilweise bestä­

tigt angesehen werden. Insgesamt ist eine Verlängerung der Reaktionszei­

ten zu erkennen, wenn der Zielakkord nicht isoliert (Experiment 1 ) , son-

(21)

dem nach Aktivierung eines tonalen Felds Ankerreiz) beurteilt werden soll. Dieser Effekt ist für Moll-Akkorde signifikant, für Dur-Akkorde nicht.

Hypothese B kann aus den Gesamtdaten heraus nicht bestätigt werden.

Erst wenn aus dem Datenpool alle Reaktionszeiten unter 450ms herausge­

filtert werden, zeigen sich deutliche entfernungsabhängige Unterschiede zwischen den Modi des Experiments 2.

Dagegen scheinen sich die Reaktionen unter 450 ms mit geringer Vari­

anz um einen Mittelwert von 400 ms zu gruppieren. Man könnte argumen­

tieren, dass sich hier die Daten von zwei Prozessen, von zwei Verarbei­

tungsformen überlappen. Sieht man die Daten unterhalb des Mittelwerts der schnellen Entscheidungen als die eine Hälfte einer Verteilung an, so kann man unter Annahme einer Normalverteilung der zufälligen Abwei­

chungen den oberen Teil der Verteilung ergänzen. Zieht man den so errech­

neten Anteil präattentiver Prozesse von der Gesamtverteilung der Daten aus Experiment 2 ab, so nähert sich die Restkurve der asymptotischen Ver­

teilung an, die aus der Theorie heraus eigentlich auch eher zu erwarten gewesen wäre als die nach unten hin weitgehend flach auslaufende Vertei­

lung (Abbildung 9): Bewusst gesteuerte Prozesse benötigen offensichtlich mindestens 440 ms an Verarbeitungszeit bis zu einer offenen Antworthand­

lung.

Nicht geklärt ist die Frage der Verlängerung der Reaktionszeiten bei der Tonika/dem tonalen Zentrum der Ankerreizkadenz. Auch hierzu wäre neu­

ropsychologische Messungen nützliche Grundlage für weitere theoretische Überlegungen.

7 Ausblick

Die Auswertung der Daten von Experiment 2 gibt Hinweise darauf, dass die Unterscheidung von Dur und Moll auf zwei unterschiedliche kognitive Pro­

zesse zurückzuführen sein könnte:

1. Eine bewusst durchgeführte Unterscheidung der Zielakkorde, die von der aktivierten Tonalität beeinflusst ist, und

2. eine automatisierte Reaktion, die erst im Nachhinein bewusst wird und nicht von der aktivierten Tonalität beeinflusst wird.

3. Zwischen beiden Prozessen besteht kein fließender Übergang - zwischen 440 und 450 ms �ach dem Onset des zu beurteilenden Akkords gibt es einen schroffen Ubergang, eine schlichte Ablösung des eine Prozesses durch den anderen.

Die Untersuchungen sollten in zwei Richtungen fortgesetzt werden:

Aus kognitionspsychologischer Sicht sollte der Unterscheidung zwi­

schen bewusster und vorbewusster Informationsverarbeitung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dies könnte durch eine Kombination

(22)

1---�---,--2000 l::;---+----+ 1 800

>---i---+1 600 L---,---+1 400

L---1--7

1 200

560

Abb. 9:

61 0 660

81 0 860 71 0 760

9 1 0960 1 000 800 600 400 200 0

Verteilung der Gesamtmenge aller Reaktionszeiten für richtige Beurteilungen aus Expe­

riment 2 dunkelgrau im Hintergrund. Hellgrau im Vordergrund hypothetisch angenom­

mener präattentiver Prozess - in der Mitte (weiß) die dadurch übrigbleibende Vertei­

lung von bewusst gesteuerten Entscheidungen (hypothetische, rechnerische Aufteilung der Originaldaten).

des bisherigen Versuchsplans mit der Messung evozierter Potenziale mög­

lich werden.

Aus musikpsychologischer Sicht müssen die Fragen der Tonika-Verzöge­

rung und der Verschiebung des Zentrums der Aktivierung durch Moll-Ak­

korde vertieft untersucht werden. Die Tonika-Verzögerung kann auf eine Erwartungshaltung der Vpn zurückführbar sein: Es wird ein „anderer" Ak­

kord erwartet, so dass die Tonika als „gleich" überraschend ist.

Die Verschiebung des Zentrums der Aktivierung durch Moll-Akkorde lässt sich nur im Zusammenhang mit Konsonanztheorien und deren mögli­

cher Neubewertung untersuchen. Die Verschiebung des Aktivierungszent­

rums durch eine Moll-Kadenz um zwei Quinten nach unten deutet darauf hin, dass die Moll-Kadenz nicht die eigene Tonart, sondern die parallele Dur-Tonart (kleine Terz nach oben) aktiviert. Das könnte darauf hinweisen, dass Moll keine eigenständige Modalität bildet. Moll wäre dann nicht als dialektischer Gegenpol zu Dur anzusehen, sondern von Dur abhängig und eher komplementär ergänzend. Voraussetzung für Folgeuntersuchungen ist die Entwicklung einer Theorie, die die Ableitung von operationalisierbaren Hypothesen ermöglicht.

(23)

8 Postskriptum

Durch die relativ späte Veröffentlichung der hier beschriebenen Arbeit ergibt sich die Gelegenheit, die Diskussion über Arbeiten von Stefan Koelsch mit zusätzlichen Uberlegungen zu bereichern. Fast gleichzeitig zum hier berich­

teten Experiment (2001) wurden seine Arbeiten über die aufsehenerregenden Potenziale des neapolitanischen Sextakkords in BEG-Messungen durchge­

führt (vgl. zusammenfassend Koelsch & Schröger, 2008). Koelsch fand eine besonders hohe negative Aktivierung des vorderen rechten Kortexbereichs (ERAN: early right-anterior negativity) und argumentierte, dass der neapo­

litanische Sextakkord die musikalische Syntax verletzen würde. Dies be­

gründete er unter anderem mit Ergebnissen aus der Sprachforschung. Hier fanden andere Forschergruppen der Neuropsychologie eine ähnlich hohe Aktivierung des linken vorderen Kortexbereichs (ELAN: early left-anterior negativity), die man eindeutig Inkongruenzen im logischen Bau eines ge­

sprochenen Satzes zuordnen konnte. Zum Beispiel entsteht ein ERAN in folgendem Satz beim kursiv gedruckten Wort nach ungefähr 150-200 ms:

,,Das Hemd wurde am gebügelt."

Die Sprachforscher interpretierten dieses als eine Verletzung der Syntax:

Es folgt statt eines Substantivs (Sonntag, Kragen) ein Partizip des Perfekts von bügeln. Eine Verletzung der inhaltlichen Logik des Satzes konnte es nicht sein, da diese durch eine negative Depolarisation bei ungefähr 400 ms gekennzeichnet ist (,,Das Kaninchen wurde gebügelt"). Stefan Koelsch be­

zeichnet deshalb auch den neapolitanischen Sextakkord als „Verletzung"

der musikalischen Syntax.

Als Musiktheoretiker muss ich dem widersprechen: Der neapolitanische Sextakkord ist funktional gesehen ein legitimer Vertreter der Subdominante - so wird er seit dem 16. Jahrhundert eingesetzt (Moll-Subdominante mit einem meist unaufgelösten Vorhalt vor der Quinte). Auch in den Daten des hier be­

richteten Reaktionszeitexperiments nimmt der neapolitanische Sextakkord eine besondere Rolle ein - die Verarbeitungszeiten sind sehr lang, der Akkord ist also „schwierig" zu identifizieren. In Abbildung 6 ist es der mit-5 gekenn­

zeichnete Akkord in den linken beiden Grafiken Dur-Dur sowie Moll-Dur.

Der Neapolitaner ist jedoch nicht als Ausreißer zu erkennen, sondern ist eingebettet in eine kontinuierliche Verlängerung der Reaktionszeiten von der ersten bis zur siebten Quinte nach unten. Es wäre nun interessant zu untersu­

chen, ob und ab welcher Entfernung ein ERAN zu erkennen ist. Sollte das ERAN ebenfalls kontinuierlich größer werden, so ist der Neapolitaner ledig­

lich ein besonders spannender Akkord, der die Aufmerksamkeit stärker be­

ansprucht als andere subdominantische Beziehungen. Wenn es aber in den evozierten Potenzialen an irgendeiner Stelle einen qualitativen/quantitativen Sprung gibt, dann hätte man einen Anhaltspunkt dafür, dass bestimmte Ent­

fernungen (in Quinten gemesse�) nicht mehr als logisch angesehen werden.

In beiden Fällen müssen die Uberlegungen der Sprachforscher neu inter­

pretiert werden. Es erscheint richtiger, ERAN und ELAN als Ergebnisse einer Aufmerksamkeitslenkung zu sehen - als eine spezialisierte Form der

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