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Archiv "Expertensysteme – Überlegungen zur Differentialdiagnostik" (21.09.1989)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DAS EDITORIA

Expertensysteme

Überlegungen zur Differentialdiagnostik

Rudolf Gross

n Editorials (1, 2) hatten wir den zum Beispiel in den USA häufig. gebrauchten Ausdruck „Künstliche Intelligenz" kriti- siert und klar von fortgeschrittenen Ex- pertensystemen getrennt. Künstliche In- telligenz im engeren Sinn (das heißt der Ersatz des menschlichen Gehirns durch fortgeschritte- ne Computerprogramme) kann jetzt und in ab- sehbarer Zeit manche Erwartungen nicht erfül- len, weil:

(i)

auch in den modernsten, mit parallel ge- schalteten Zentraleinheiten ausgestatteten Com- putern der 4. oder 5. Generation die Zahl der Synapsen des menschlichen Zentralnervensy- stems mit seinen bis zu 10 12 Neuronen und bis zu über 10 000 jeweiligen Verbindungen noch nicht annähernd erreicht wird;

(i)

in Computern durch die Gleichberechti- gung aller Möglichkeiten ein außerordentlicher Rechenaufwand auch über im Einzelfall bedeu- tungslose differentialdiagnostische Arme (Mög- lichkeiten) entsteht, während das menschliche Gehirn die einzigartige, bisher nicht erreichte Möglichkeit besitzt, sich beweglich und be- schränkt den jeweils aktuellen Problemen zuzu- wenden;

(9

Computer sich nur mit Problemen be- schäftigen, die ihnen irgendwann irgendwie ein- programmiert wurden. Während allenfalls noch die selbständige Korrektur von Fehlern (in be- grenztem Umfang) möglich ist, ist die reflektie- rende Neuschöpfung von Symptom-Syndrom- Kombinationen einem Rechner, dem eine solche Verbindung niemals vorgegeben wurde, zur Zeit nicht möglich;

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alle psychosozialen Kontexte, alle Reak- tionen der Kranken und ihre Rückwirkung auf den Krankheitsverlauf, das heißt die wichtige anthropologische Seite, keine oder keine ausrei- chende Berücksichtigung finden.

Aus allen diesen Gründen sollte man vorerst meines Erachtens auf die anspruchsvollen, prin- zipielle Gleichwertigkeit unterstellenden Be- zeichnungen wie „Künstliche Intelligenz" (Arti- ficial intelligence = AI) oder „Künstliche Intelli- genz in der Medizin" (Artificial intelligence in Medicine = AIM) verzichten und von Experten-

Systemen sprechen. Die letzteren sind allerdings experimentell und zum Teil auch schon in der klinischen Anwendung weit fortgeschritten. Sie haben mit ihren Spitzenprogrammen die Ansät- ze der Pioniere der 60er Jahre (Literatur unter anderem bei 1) weit hinter sich gelassen. Von ih- nen ist — bei Anschluß an größere Zentralabtei- lungen (aus Kapazitäts- und Kostengründen!) — langfristig nicht nur ein wesentlicher Fortschritt in der Diagnostik zu erwarten.

Die Erstellung der Programme hat zu neuem Nachdenken über die Elemente unserer Diffe- rentialdiagnosen geführt, in der Erstellung der Software auch zu Begriffen und Modellen, die eben diese Differentialdiagnostik (auch ohne Großrechenanlagen) in den nächsten Jahren grundlegend beeinflussen dürften. Ein Muster- beispiel liefert das von Szolovits (6) herausgege- bene Buch. Es führt zwar den aus den genannten Gründen abzulehnenden Titel „Artificial intelli- gence in Medicine" (AIM), zeigt aber schon im Vorwort und gerade in den Schlüsselbeiträgen von Szolovits (6) sowie von Pople (5) die enge und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Program- mierern (menschlichen Gehirnen!) und Compu- tern. Gut programmierte Computer können einen Teil der analytischen Seite abnehmen, aber „nicht die Kunst des erfahrenen Klinikers" (5).

Beispiele in die Klinik eingeführter Programme

Unter den zahlreichen, zur Zeit in den USA eingeführten oder erprobten Programmen seien beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständig- keit genannt (Literatur unter anderem bei 6):

1. Internist I und II, jetzt aus urheberrecht- lichen Gründen umbenannt in „Caduceus", sind die zur Zeit wohl am breitesten angelegten und er- probten Programme, dabei vorwiegend diagno- stisch ausgerichtet, zunächst mit 570 Krankheiten (8).

2. Das Glaukoma-Programm „Casnet" be- schäftigt sich mit Augenkrankheiten.

3. Die ähnlich angelegten Programme „Ex- pert" und „XP" wurden —

auf pathophysiologischer

Grundlage — meines Wissens, außer in der Oph- thalmologie, bei rheumatischen Erkrankungen und bei Störungen der Schilddrüse eingesetzt.

Dt. Ärztebl. 86, Heft 38, 21. September 1989 (55) A-2643

(2)

4. „Mycin" ist ein Programm für die Differen- tialdiagnose und Therapie von Infektionskrank- heiten.

5. Das „Acid-Base and Electrolyte-Pro- amm" ist ein diagnostisch-therapeutisches Pro- gramm - r die Wiederherstellung der Homoiostase in diesen Bereichen.

6. Mehr therapeutisch orientiert ist der „Digi- talis Therapy Advisor".

7. „PIP" = Mass. Inst. Techn./Tuft's „Present Illness Program" ist eine dem Internist I bezie- hungsweise „Caduceus" ähnliche Entwicklung.

Differentialdiagnostische Fortschritte

Wie schon im ersten Abschnitt angedeutet, ha- ben die Programmierer und Anwender der genann- ten und anderer Programme über die statistischen und logistischen Grundlagen hinaus, wie etwa Lu- sted (siehe bei 1) bei seinem mittels Boolescher Al- gebra erstellten Exldusionsverfahren, sich intensiv mit den pathophysiologischen und nosologischen Zusammenhängen beschäftigt und dabei Erkennt- nisse gewonnen, die der allgemeinen Diagnostik (auch ohne Computer) wertvolle Impulse geben dürften und von denen wiederum nur einige bei- spielhaft genannt werden sollen:

O Binäre Alternativen (wie sie auf Compu- tern benutzt werden) sind allein keine ausreichen- de Hilfe in komplexen Fällen. Sie erfordern über den Computer hinaus die intelligente Mitwirkung des Untersuchers.

• Die Prävalenz oder Häufigkeit einer Er- krankung in einer Population (Ort, Klientel einer Praxis usw.) kann sehr verschieden sein, sollte aber in erster Annäherung nach der simplen Regel be- handelt werden: Häufige Dinge sind häufig, seltene Dinge selten. Dabei muß man im Auge behalten, daß die Häufigkeitsangaben in der Literatur, vor allem aus spezialisierten Krankenhäusern und Pra- xen, stark schwanken.

O Die Hypothesen (anhand der Symptome, Befunde, Daten) sollten hierarchisch in einem Sy- stem von oben (komplexe Syndrome) nach unten (eingeengte Diagnosen) behandelt und gewichtet werden (5) — ein grundlegender Unterschied zu so- genannten Flußdiagrammen Übergeordnete Kom- plexe sind zum Beispiel die Konzentration auf ein Organ.

Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß nach eigenen Erfahrungen (4) an 1000 unaus- gewählten Kranken einer Medizinischen Universi- tätsklinik 41 Prozent Erkrankungen mit Beschrän- kung auf ein Organ, 32 Prozent mit Folgen (Er- scheinungen) an durchschnittlich drei Organen oder Organsystemen verliefen, 11 Prozent bei der Aufnahme primäre Systemerkrankungen zeigten (Rest nicht sicher einzuordnen). Auch die S ntro ie, Dystropie und Interferenz von mehreren Kran -

heiten (bei uns in 40 Prozent mindestens 2, in rund 20 Prozent mehr als 2) können den logischen Fluß der Differentialdiagnose beeinflussen. Bei uns bestand trotz der hohen Zahl multimorbider Patienten aller- dings keine wesentliche Interferenz.

O Das Vorgehen kann kausalen (pathophy- siologischen) oder nosologischen (hierarchischen, auch: taxonomischen) Grundsätzen folgen oder ei- ne Mischung aus beiden darstellen, die jeweils Vor- oder Nachteile haben.

• Taxonomisch können so verschiedene „ro- he" Differentialdiagnosen auf wenige „verfeinerte"

eingeengt werden.

O Pople (5) empfiehlt bei seiner Internist-I- Caduceus-Strategie bei fünf oder mehr möglichen Differentialdiagnosen erst ein „Ausschlußverfah- ren" („rule out"), bei weniger eine Art von „Diskri- nrierun " und beim Verbleib einer Alternative

N = en Versuch, dem Beweis einer Hypothe- se zuzustreben („pursuing"). Zu frühzeitiger Ein- satz von Beweisverfahren kann zu Fehldiagnosen und Mißerfolgen führen und den Rückgang auf die breitere Datenbasis veranlassen („deferal").

Der gleiche Autor (5) sieht die neue Art der Differentialdiagnostik im verbesserten Programm Caduceus in einer Mischung aus (meist besser ver- standenen) analytischen und (meist schlechter ver- standenen) synthetischen Ansätzen. Strukturierte Fragen sind einfacher zu beantworten als unstruk- turierte. Die Schritte entsprechen (vereinfacht):

—Descriptoren, die aus den vorliegenden Da- ten abgeleitet werden;

—Transformatoren, die reduktiv zu Folgepro- blemen zusammengefaßt werden;

—Operatoren mit der Frage, ob das differen- tialdiagnostische Ziel erreicht wurde oder nicht.

(;)

Trotz der Interferenz von Krankheiten und Syndromen, trotz der Möglichkeit nicht weiterfüh- render Symptome, Befunde, Daten usw. gilt das an- geblich auf von W. von Ockham (1300-1350) zu- rückgehende „Rasiermesser-Prinzip": „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem" — in unse- rem Zusammenhang: „Man sollte das Einfache nicht ohne Notwendigkeit erweitern."

(7)

Dieser Abschnitt ist nicht besser zu schlie- ßen als mit Poples Konsequenz (bei 5, S. 183): „Die Aufgabenstellung (in der Differentialdiagnostik, Verf.) ist kein Algorithmus, bei dem die Hypothe- sen am Schluß so zweifelsfrei zusammenfallen wie die Bestandteile eines Kartenhauses".

Die Zahlen in HIammern beziehen sich auf das Lite- raturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5 5000 Köln 41 A-2644 (56) Dt. Ärztebl. 86, Heft 38, 21. September 1989

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