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Archiv "Kinder- und Jugendhilfegesetz: Bessere Versorgung psychisch kranker und behinderter Kinder" (08.11.1996)

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as neue, familienorientierte Kinder- und Jugendhilfege- setz (KJHG), welches das 1922 erlassene Reichsjugend- wohlfahrtsgesetz ablöst, spiegelt die markanten Entwicklungen der Kin- der- und Jugendpsychiatrie und Psy- chotherapie der achtziger Jahre wider (Grafik 1). Obwohl die Fachverbände eine insgesamt positive Stellung- nahme zu diesem Gesetz abgegeben haben, weisen sie dennoch auf kriti- sche beziehungsweise negative Ent- wicklungen hin. So sollten Streitfälle zwischen einzelnen potentiellen Lei- stungsträgern wie zum Beispiel den gesetzlichen Krankenkassen, den lo- kalen Trägern der Jugendhilfe und den überörtlichen Trägern der Sozial- hilfe nicht zu Lasten der Betroffenen ausgetragen werden dürfen, sondern

es sollte innerbehördlich geklärt wer- den, daß die Betroffenen bei berech- tigten Ansprüchen vom zunächst an- gegangenen Träger vorläufige Lei- stungen erhalten.

Der anspruchsvolle Aufgaben- katalog (Grafik 2) und seine fort- schrittliche großzügige inhaltliche Ausführung im Gesetz zeigen, daß de- ren Urheber von besseren ökonomi- schen Bedingungen ausgegangen sind, als dies nach der Wiedervereinigung tatsächlich der Fall ist. Angesichts der allgemeinen Leere in den öffentlichen Kassen besteht sowohl bei einzelnen Betroffenen als auch bei den sie ver- tretenden Verbänden eine gewisse Sorge bei allen neuen Regelungen. Sie befürchten, daß durch eine restriktive Auslegung des KJHG bisher gesicher- te Versorgungs- und Betreuungsmög-

Kinder- und Jugendhilfegesetz

Bessere Versorgung psychisch kranker und behinderter Kinder

Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ( SGB VIII), das in den neuen Bundesländern seit dem Vereinigungstag (3. Oktober 1990) und seit dem 1. Januar 1995 nun bun- desweit in Kraft ist, haben Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten er- ste Erfahrungen gesammelt. Mit dem folgenden Beitrag soll auf die zentrale Ver- änderung im Jugendhilferecht, vor allem in ihren Auswirkungen auf das Zusam- menwirken zwischen Ärzten und Fachkräften der Jugendhilfe, hingewiesen werden.

Grafik 1

Übersicht zum Aufbau des KJHG und Zellen von Anencephalen, Em-

bryonen und Föten weder entnom- men noch übertragen oder zu expe- rimentellen oder industriellen Zwek- ken, insbesondere der pharmazeuti- schen oder kosmetischen Industrie dienenden Zwecken verwendet wer- den“ dürfen.

Der Entwurf zu einem Trans- plantationsgesetz, den die Regie- rungsparteien und die SPD erarbeitet haben, stellt ausdrücklich fest, daß sich der Geltungsbereich „nicht auf Gene oder andere DNA-Teile, Ei- und Samenzellen, embryonale und fe- tale Organe“ bezieht. Dafür würden das Embryonenschutzgesetz und die entsprechenden Richtlinien der Bun- desärztekammer (BÄK) greifen.

Die Ethikkommission der MHH beruft sich auf die „Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und feta- ler Gewebe“ der BÄK von 1991. Dar- in heißt es, daß „Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch unabhän- gig von dem Vorhaben einer Verwen- dung für Forschungs- oder Therapie- zwecke erfolgen. Das Gespräch über die Verwendung fetaler Zellen oder Gewebe darf erst geführt werden, wenn der Entschluß zum Schwanger- schaftsabbruch endgültig ist. Vergün- stigungen, mit denen die Entschei- dung zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Verwendung des Fetus beeinflußt werden sollen, dürfen we- der angeboten noch gewährt werden.“

Die an der Abtreibung Beteiligten dürften nicht an der Verwendung feta- ler Zellen oder fetaler Gewebe zu Forschungs- oder fremdnützigen The- rapiezwecken mitwirken.

Prof. Dr. med. Rudolf Pichlmay- er, der Vorsitzende der Ethikkommis- sion der MHH, betont, „daß entschei- dende Grundvoraussetzung für die Akzeptanz dieses auf die Behand- lungsmöglichkeit einer schweren und häufigen Erkrankung gerichteten Forschungsvorhabens ist, daß eine strikte und gesicherte Trennung des Bereichs Schwangerschaftsunterbre- chung einerseits und einer erst nach der Entscheidung zu der Schwanger- schaftsunterbrechung möglichen Dis- kussion über eine Verwendung des Gewebes – einschließlich einer ent- sprechenden Entscheidung der Schwangeren – andererseits gewähr- leistet wird.“ Gisela Klinkhammer

Jörg M. Fegert

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lichkeiten für psychisch kranke, geistig und körperlich behinderte Kinder ein- geschränkt werden könnten.

Diese Befürchtungen sind unbe- gründet angesichts der im Gesetz klar formulierten Rechtsansprüche, ob- wohl die derzeitige Praxis vor allem in der ehemaligen DDR sowie das Kom- petenzgerangel zwischen den einzel- nen Behörden solchen Befürchtungen neue Nahrung gibt. Rechtsansprüche auf Leistungen bestehen überall da, wo durch erzieherische Defizite das Kin- deswohl gefährdet ist, oder dort, wo aufgrund einer drohenden Behinde- rung oder bestehenden seelischen Be- hinderung Maßnahmen der Eingliede- rungshilfe erforderlich sind. Die übri- gen Regelungen zu Leistungen sind durch Landesrechtsvorbehalte einge- schränkt und meist Kann- beziehungs- weise Sollte-For-

mulierungen, die re- gionale Ermessens- entscheidungen zu- lassen und somit wenig verbindlich sind.

Eine Untersu- chung an unserer Klinik (Fegert, 1995) zeigte, daß bei zirka einem Drittel der von uns behandelten Pati- enten eine Kombi- nation von thera- peutischen und so- zialpädagogischen

Maßnahmen erforderlich ist. Insofern ist es wichtig, daß Kinder- und Ju- gendpsychiater die Gesamtpalette der möglichen Hilfs- und Behandlungsan- gebote für Kinder und Jugendliche kennen und sie in einer verständli- chen subsidiären Rangfolge den ein- zelnen Kostenträgern zuordnen kön- nen. Nur so ist zu gewährleisten, daß die Patienten und ihre Familien Rechtsansprüche auch tatsächlich verwirklichen können. Dem Arzt sind die Anspruchsgrundlagen der Kran- kenkassenleistungen, aber auch die Formulierung im Bundessozialhilfe- gesetz aufgrund der dort vorherr- schenden medizinischen Terminolo- gie sicher vertrauter als die eher einer sozialpädagogischen Tradition ver- pflichteten Definitionen im Kinder- und Jugendhilfegesetz. (Eine Info-

Broschüre mit dem Gesetzestext ist beim Jugendministerium unentgelt- lich zu erhalten.)

Hilfe zur Erziehung

Ein gemeinsames Positionspa- pier der Jugend- und Gesundheitsmi- nisterkonferenz zum Verhältnis Ju- gendhilfe und Kinder- und Jugend- psychiatrie (1991) unterstreicht die Bedeutung der interdisziplinären Zu- sammenarbeit bei der Einschätzung des Bedarfs an psychosozialen Hilfen (Grafik 3) und bei ihrer Realisierung.

Die Inanspruchnahme der fachlichen Kompetenz der Jugendpsychiatrie kann für die Jugendhilfe eine entla- stende Funktion haben. Wie jugend- psychiatrisches Handeln nicht ohne

Einbeziehung psychosozialer Be- handlungskonzepte denkbar ist, so ist die Jugendhilfe bei der Abklärung seelischer Krankheiten auf die fachli- che Zusammenarbeit mit der Jugend- psychiatrie angewiesen.

Großer Ermessensspielraum

Anspruch auf alle Hilfen zur Er- ziehung haben die Sorgeberechtigten.

Hier entsteht in der Praxis ein Dilem- ma zwischen der wünschenswerten Familienorientierung des Gesetzes und der sozialen Realität (Fegert, 1992). Viele Regelungen im Gesetz setzen einen „mündigen Bürger“ vor- aus, der kompetent bei Amt und Ärz- ten Beratung sucht, sich sachkundig macht und mit den Beratern die für

sein Kind geeignete Form der Hilfe aussucht. Nicht selten aber können die Sorgeberechtigten das Wohl ihrer Kinder nicht adäquat wahrnehmen.

Unklar ist, wer dann feststellt, wann und inwieweit das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist.

Das Ausmaß einer solchen Ge- fährdung kann jedoch klar unterhalb der Schwelle auch des nichtverschul- deten Versagens liegen, wie es im

§ 1666 BGB formuliert ist. In diesem Fall müßte eine vormundschaftsge- richtliche Entscheidung über die Wahrnehmung von Teilen oder der gesamten Personensorge herbeige- führt werden. Ein Problem ist auch, wer die Kompetenz zur adäquaten In- dikationsstellung besitzt. Gewährt werden muß eine Hilfe, die für die Entwicklung des Kindes „geeignet und notwendig“ ist.

Da diese Formulierung einen großen fachlichen Ermessensspiel- raum offenläßt, verursachte sie bei vielen betroffenen Eltern die Sorge, daß bei leeren Kassen aufwendigere Verfahren als nicht notwendig einge- schätzt werden könnten. Im Bereich der Indikationsstellung ist kinder- psychiatrische Beratung und Supervi- sion in der Jugendhilfe dringend er- forderlich.

Nicht zuletzt auf Druck der Be- hindertenverbände war in der ur- sprünglichen Fassung des KJHG noch kurz vor Toresschluß die Garantie ver- ankert worden, daß die bisher gültigen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz auch im Rahmen des nun vorrangigen KJHG gültig sein müssen. Über diese Bestimmung hat sich in der Zwi- schenzeit eine heftige Debatte zwi- schen der Kinder- und Jugendpsychia- trie und Jugendhilfe ergeben. Diese ist trotz einiger, vielleicht unangemesse- ner und scharfer Töne schon allein deshalb zu begrüßen, weil es dem Ge- setzgeber durch Einführung dieses Pa- ragraphen gelungen ist, die Jugendhil- fe darauf hinzuweisen, daß mit der Übernahme der Zuständigkeit für so- genannte „seelisch behinderte“ Kin- der und Jugendliche auch eine Erwei- terung des Kooperations- und Kom- petenzspektrums im Jugendamt ver- bunden sein muß (vgl. Wiesner, 1995).

Während von seiten der Jugend- hilfe die aus dem BSHG übernomme- Grafik 2

Ermittlung des individuellen Hilfsbedarfs bei Kindern und Jugendlichen, die von einer seelischen Behinderung bedroht sind.

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ne Formulierung „seelische Behinde- rung“ wegen ihres angeblich stigmati- sierenden Charakters heftig kritisiert wird (Fegert, 1993), betonen andere Autoren, daß die betroffenen Kinder einen direkten Rechtsanspruch besit- zen (Salgo, 1995; Fegert, 1995). Im Ge- gensatz zu den Hilfen

zur Erziehung, wo erst das elterliche Einge- ständnis eines Erzie- hungsdefizites (dies be- deutet für viele Eltern ein persönliches Versa- gen) den Rechtsan- spruch auf Hilfen öff- net, steht bei der For- mulierung des § 35a die ärztlich diagnostizier- bare Problematik oder Störung, welche den Betroffenen an seiner Eingliederung in die Gesellschaft behindert, im Vordergrund.

Genau diese Be- deutung der ärztli- chen Diagnostik führt aber zu Verständi- gungsschwierigkeiten.

Der Paragraph 36 KJHG, der den Pro- zeß der Hilfeplanung beschreibt, sieht zwar ausdrücklich vor, daß in solchen Fällen kompetente Ärzte mit einbezo- gen werden sollen; wie diese Mitarbeit der Ärzte aber finanziell honoriert werden soll, wird nicht ausgeführt. Je- der, der aus persönlichem Engage- ment für die Kinder, die er behandelt, an Helferkonferenzen teilgenommen hat, weiß, wie zeitaufwendig solche Hilfeplanungsprozesse sind. Ange- sichts der allgemeinen Trends zur Budgetierung und Wirtschaftlichkeit wird es in Zukunft deshalb eminent wichtig sein, daß multiprofessionelle Zusammenarbeit, die an den Schnitt- stellen der Betreuung zu Recht gefor- dert wird, auch auf eine solide finanzi- elle Basis gestellt wird.

Was sind „seelisch behinderte Kinder“?

Vor allem die Juristen bezeich- nen die Definition des Personenkrei- ses der „seelisch behinderten jungen Menschen“ im Vergleich zu den kör- perlich und geistig Behinderten als

problematisch. Lempp hat in seinem Buch zum § 35a (1994) betont, daß er die Unterscheidung zwischen Erzie- hungsdefiziten mit dem latenten Vor- wurf an die Eltern und die Zuordnung zur seelischen Behinderung artifiziell findet. Er kritisiert, daß die Formulie-

rungen im Bundessozialhilfegesetz, die die seelische Behinderung betref- fen, auf Erwachsene zugeschnitten sind. Er schlägt vor, seelische Behin- derung bei Kindern in drei Störungs- gruppen einzuteilen: Neurosen, Psy- chosen (denen er auch den frühkindli- chen Autismus zuordnet) und schwe- re frühkindliche psychische Fehlent- wicklungen.

Nach meiner Auffassung (Fegert, 1994) sind solche relativ artifiziellen Versuche der Beibehaltung der Glie- derung entsprechend den BSHG-For- mulierungen insgesamt wenig hilf- reich. Die Tatsache, daß bestimmte Gesetzesformulierungen antiquiert sind, kann weder dazu führen, daß man die ganze Bestimmung in ihrem Inhalt für antiquiert hält, noch sollte sie dazu führen, daß man wider besse- res Wissen modernere Konzepte des Krankheitsverständnisses nicht nutzt.

Schon allein aus Gründen der Über- einstimmung mit den ansonsten im Sozialgesetzbuch üblichen diagnosti- schen Vorstellungen ist deshalb eine multiaxiale Diagnostik nach ICD-10- Kriterien (Remschmidt und Schmidt, 1995) sinnvoll.

Die Betrachtungsweise psychi- scher Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter auf mehreren Ebenen, unter Einbeziehung des Entwick- lungsaspektes, der Intelligenz der Kinder, körperlicher Grund- oder Begleiterkrankungen, psychosozialer Belastungsfaktoren und unter Be- rücksichtigung der realen sozialen Be- einträchtigung, ermöglicht eine fach- lich fundierte und dem Einzelfall an- gemessene Stellungnahme zur Frage, ob das jeweilige Kind mit den betref- fenden, nach international vereinbar- ten Kriterien diagnostizierten Störun- gen oder Erkrankungen von einer Be- hinderung bedroht ist.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Die Integration des Personen- kreises der „seelisch behinderten“

Kinder und Jugendlichen in die Zu- ständigkeit der Jugendhilfe ist ein Schritt in die richtige Richtung. Auch ärztlicherseits ist wiederholt bedauert worden, daß diese „kleine“ Lösung dem Integrationsgedanken nicht hin- reichend Rechnung trägt. Der Aus- schluß von Kindern mit Körperbehin- derungen und geistiger Behinderung aus dem primären Zuständigkeitsbe- reich der Jugendhilfe führt erneut ei- ne artifizielle Trennlinie ein.

Aus medizinischer Sicht ist daran besonders zu bemängeln, daß gerade Familien von mehrfach behinderten Kindern nun besonderen Schwierig- keiten bei der Erlangung von Hilfen ausgesetzt werden, da die Behörden Zuständigkeitsstreitigkeiten über die Vorrangigkeit der jeweiligen Behinde- rungsform führen können. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer und psycho- therapeutischer Sicht ist eine sinnvolle Zuordnung zu einem Formenkreis der Behinderung in der Regel bei autisti- schen Kindern nicht möglich. Sehr vie- le Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung leiden auch an psychi- schen Auffälligkeiten.

Chronische körperliche Erkran- kungen können mit Anpassungs- störungen einhergehen etc. Hier ist derzeit trotz aller fachlichen Proteste regionaler Entscheidungsvielfalt be- ziehungsweise -willkür Tür und Tor geöffnet. Das Problem der Zuordnung Grafik 3

Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

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von Kindern, die einer Frühförderung bedürfen, hat der Gesetzgeber schon erkannt, indem er es den einzelnen Ländern vorbehielt, globale Regelun- gen für die Frühförderung zu erlassen.

Gerade unser fachliches entwicklungs- psychopathologisches und entwick- lungsneurologisches Wissen sollte uns hier dazu veranlassen, überall, wo dies noch nicht geschehen ist, landesein- heitliche Regelungen für die Frühför- derung anzumahnen, da aus fachlicher Sicht eine Zuordnung zu bestimmten Behindertenpersonenkreisen bei klei- nen Kindern nicht sinnvoll erscheint.

Solche globalen Regelungen für die frühe Förderung müssen alters- mäßig nach oben begrenzt werden.

Hierbei bieten sich biographische Einschnitte wie die Einschulung als Grenzziehung an. In der Praxis hat sich zum Beispiel die nordrhein-west- fälische Festlegung auf den 6. Ge- burtstag als unzureichend erwiesen, da dann Kinder nach dem Erreichen des 6. Geburtstages und vor ihrer Ein- schulung zum Beispiel für ein halbes Jahr in eine Versorgungs- beziehungs- weise Finanzierungslücke fallen und dann gerade in dieser wesentlichen Vorschulzeit eventuell essentielle Fördermaßnahmen nicht mehr umge- setzt werden können.

Sieht man von solchen Umset- zungsschwierigkeiten ab, so bedeutet das neue Kinder- und Jugendhilfe- recht gerade für Kinder mit psychi- schen Störungen einen Fortschritt.

Für Ärzte und Ärztinnen bedeutet diese teilweise als epochal bezeichne- te Veränderung im Jugendhilfebe- reich auch die Pflicht, sich zu infor- mieren und eventuell traditionelle Vorurteile vor dem Jugendamt kri- tisch zu überprüfen und gegebenen- falls zu revidieren.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1996; 93: A-2926–2929 [Heft 45]

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. med. Jörg Michael Fegert Virchow-Klinikum

Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Platanenallee 23

14050 Berlin

D

er sogenannte Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß vor dem Internationalen Mi- litärgerichtshof richtete sich gegen die politische, militärische und wirtschaftliche Führung des „Dritten Reiches“. Dazu gehörte die Reichs- regierung, bestehend aus a) den Mit- gliedern im „gewöhnlichen Kabinett“

nach dem 30. Januar 1933, namentlich den Reichsministern, b) den Mit- gliedern des Ministerrats für die Reichsverteidigung und c) den Mit- gliedern des Geheimen Kabinettsrats.

Es kann angenommen werden, daß, wenn es einen nominellen Gesund- heitsminister im Dritten Reich ge- geben hätte, auch dieser zur angeklag- ten Ministerriege gehört hätte. So aber blieb der medizinische Bereich im ersten Nürnberger Prozeß zumin- dest formal ausgespart.

Zustandekommen des Ärzteprozesses

Warum wurde nun der Ärzte- prozeß als erster von zwölf Nachfolge- prozessen angestrengt? Laut Haupt- ankläger Taylor waren dabei einige Zufälle am Werk.

1 Den ersten Anstoß gab nach Taylor die Verhandlung gegen Reichsmarschall Hermann Göring im Hauptkriegsverbrecherprozeß. Dabei ergaben sich Hinweise auf die Ver- wicklung deutscher Luftwaffenärzte

in verbrecherische Menschenversu- che in Konzentrationslagern.

1Ein zweiter Anstoß war laut Taylor die Zeugenaussage von SS- Standartenführer Wolfgang Sievers, ehemaliger Generalsekretär der „Ge- sellschaft Ahnenerbe“ und Direktor des Institutes für wehrwissenschaftli- che Zweckforschung dieser Gesell- schaft, im ersten Nürnberger Prozeß.

Bei seiner Vernehmung wurde man auf die Anlage einer „jüdischen Ske- lettsammlung“ an der Reichsuniver- sität Straßburg (dazu wurden jüdische KZ-Insassen ermordet) aufmerksam, in die Sievers verwickelt war. Laut Taylor habe man daraufhin eruiert (die alliierten Ermittler hatten zur Vorbereitung des ersten Nürnberger Prozesses umfangreiches Material ge- sammelt), welches Anklagematerial im medizinischen Bereich generell

„verfügbar“ sei. Da zu dieser Zeit in britischer und amerikanischer Haft zahlreiche Ärzte einsaßen, wurde ein Gefangenenaustausch organisiert und Anklage erhoben.

Der Prozeß

Der sogenannte Ärzteprozeß vor dem Ersten Amerikanischen Militär- gerichtshof fand vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 in Nürnberg statt. Angeklagt wurden 20 Ärzte sowie drei Nicht-Ärzte. Die lei- tenden Prinzipien für die Auswahl

Nürnberger Ärzteprozeß

Die Auswahl

der Angeklagten

Einen Vortrag zum Thema „Zustandekommen und Zielsetzung des Nürn- berger Ärzteprozesses“ hielt auf dem diesjährigen 99. Deutschen Ärztetag in Köln der Stuttgarter Historiker Prof. Dr. Eberhard Jäckel (dazu Deutsches Ärzteblatt, Heft 25/1996). Jäckel wies darauf hin, daß unter anderem noch folgende Fragen zu klären seien: „Warum war der Ärzteprozeß der erste (Nachfolgeprozeß des sogenannten Hauptkriegsverbrecherprozesses)? Wie kam es zur Auswahl der Angeklagten?“ Ohne einer detaillierten Untersuchung vorzugreifen, versucht der folgende Beitrag eine Beantwortung dieser Fragen.

Udo Benzenhöfer

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der Angeklagten sind nicht auf den ersten Blick erkennbar, sie lassen sich jedoch er- schließen. Berücksich- tigt werden muß, daß potentielle Angeklag- te verstorben waren oder sich der Strafver- folgung durch Selbst- mord entzogen hatten.

Andere saßen einfach deshalb nicht auf der Anklagebank, weil zu Prozeßbeginn ihr Auf- enthaltsort nicht be- kannt war (dies gilt zum Beispiel für Prof.

E. Hippke, bis Ende 1943 Chef des Sa- nitätswesens der Luft- waffe). Außerdem lag noch nicht alles bela- stende Material vor.

Laut „opening statement“ des Haupt- anklägers Taylor lassen sich die Angeklagten in drei größere Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe umfaßt acht

„Luftwaffenärzte“, die zweite sieben „SS-Ärz-

te“, die dritte, sehr uneinheitliche Gruppe, enthält neben Karl Brandt, Siegfried Handloser, Paul Rostock und Kurt Blome den niedergelassenen Dermatologen Adolf Pokorny sowie die drei Nicht-Ärzte Wolfram Sievers, Viktor Brack und Rudolf Brandt.

Diese grobe Einteilung war für die Zwecke des Gerichts sicher ange- messen, sie verschleiert aber die Prinzipien der Auswahl der Ange- klagten zumindest teilweise. Meine These ist, daß man bei der Auswahl der Angeklagten nicht nur primär deliktbezogen vorging und dann, nach Feststellung der direkt Beteilig- ten, durch Nachvollzug der Verant- wortungskette zu den ranghöheren und ranghöchsten Angeklagten vor- stieß. Es wurde auch ein systema- tischer Ansatz verfolgt, den man primär hierarchiebezogen nennen könnte. Denn zweifellos, dies wird im „opening statement“ des Haupt- anklägers Taylor explizit, wollte man die ranghöchsten Verantwortlichen der „staatlichen medizinischen Dien-

ste“ („state medical services“) des Dritten Reiches anklagen, um so das Wirken des verbrecherischen Sy- stems (nicht nur verbrecherischer Einzelpersonen) zu demonstrieren.

Von daher läßt sich die von Taylor vorgenommene Gruppeneinteilung – dies tat er im übrigen auch selbst in seinen weiteren Ausführungen im

„opening statement“ – etwas modifi- zieren, um den hierarchiebezogenen Ansatz zu verdeutlichen.

Die ranghöchsten Ärzte

Auf der militärischen Seite wur- de zuvörderst der höchste Militärarzt des Dritten Reiches, Generalober- stabsarzt Prof. Siegfried Handloser, angeklagt. Handloser war seit Juli 1942 Chef des Wehrmachtssanitäts- wesens gewesen (bis Ende August 1944 war er in Personalunion auch Heeres-Sanitätsinspekteur). Auch der zweithöchste Militärarzt, Gene- raloberstabsarzt Prof. Oskar Schrö-

der, der nach 1943 als Nachfolger von Prof. E. Hippke für das Sanitätswesen der Luftwaffe verantwortlich gezeich- net hatte, wurde angeklagt.

In Nürnberg saß ferner der rang- höchste verfügbare SS-Arzt, der Chef des Sanitätswesens der Waffen-SS, Dr. med. Karl Genzken, auf der An- klagebank. Es fehlte der oberste SS- Arzt, Reichsarzt SS und Polizei Dr.

med. Ernst Robert Grawitz, der im April 1945 Suizid begangen hatte.

Bis zum Jahr 1942 war Reichsge- sundheitsführer Dr. med. Leonardo Conti, zugleich Staatssekretär im In- nenministerium, höchster „Zivilarzt“

gewesen. Er konnte in Nürnberg nicht angeklagt werden, da er nach Kriegsende Selbstmord begangen hatte. Deshalb ist Prof. Karl Brandt, der unter anderem auch eine wichtige Rolle bei der Planung der „Euthana- sie“-Aktion spielte, auf jeden Fall als der ranghöchste angeklagte Zivilarzt anzusehen. Brandt, der Begleitarzt Hitlers, wurde als Hitler direkt unter- stellter Bevollmächtigter (seit dem Chart Showing German State Medical Service (in Nürnberg verwandtes Schema zur Position der Angeklagten im deutschen

Gesundheitswesen) Quelle: Trials of War Criminals, Vol. I, 1949, S. 30

HITLER

*ROSE

*ROSTOCK FIKENTSCHER

*DEFENDANTS GERMAN MEDICAL SERVICES AS

SUBORDINATED WITHIN THE GENERAL FRAMEWORK OF THE GERMAN STATE AS REICH CHANCELLOR, FUEHRER OF THE NSDAP, AND C in C WEHRMACHT

*WELTZ

*RUFF

*ROMBERG

*SCHAEFER

*BEIGLBOECK *POKORNY

*FISCHER

*OBERHEUSER

*HOVEN

*BECKER- FREYSENG

REICH PHYSICIAN SS GRAWITZ

CHIEF HYGIENIST

*MRUGOWSKY

ADJUTANT

*R. BRANDT MANAGER AHNENERBE SOCIETY

*SIEVERS

CHIEF SURGEON

*GEBHARDT

DEPUTY

*BLOME

CHIEF OF PERSONNEL

*POPPENDICK O K W

CHIEF – KEITEL

SS REICH LEADER SS

HIMMLER

MINISTRY OF INTERIOR FRICK– until 1943

HIMMLER after 1943

PARTY CHANCERY

CHIEF – BORMANN PRIVATE CHANCERY OF THE FUEHRER

FOR THE NSDAP CHIEF – BOUHLER O K M

RAEDER DOENITZ

O K H BRAUCHITSCH

HITLER

O K L GOERING

CHIEF MEDICAL SERVICES – OKM until 1943 FIKENTSCHER GRUEL– after 1943

MEDICAL INSPECTOR OKH

*HANDLOSER 1940–44 WALTER– after 1944

CHIEF MEDICAL SERVICES – OKL HIPPKE– until 1943

*SCHROEDER – after 1943

CHIEF MEDICAL SERVICES WAFFEN-SS

*GENZKEN

CHIEF ADMINISTRATIVE

OFFICER

*BRACK CHIEF OF MEDICAL SERVICES

OF THE WEHRMACHT

*S. HANDLOSER

REICH COMMISSIONER FOR HEALTH AND SANITATION

*K. BRANDT

SECRETARY OF STATE

FOR HEALTH

– CONTI REICH HEALTH LEADER

Grafik

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28. Juli 1942) beziehungsweise Gene- ralkommissar (seit dem 5. September 1943) für das Sanitäts- und Gesund- heitswesen Conti übergeordnet. Er hatte in dieser Position auch starken Einfluß auf den militärmedizinischen Bereich. Karl Brandt direkt nachge- ordnet war der in Nürnberg ebenfalls angeklagte Chirurg Prof. Paul Ro- stock als „Beauftragter für medizini- sche Wissenschaft und Forschung“.

Prof. Kurt Blome war in bezug auf die Funktion des Reichsgesundheitsfüh- rers Stellvertreter Leonardo Contis gewesen, so daß man ihn in systema- tischer Hinsicht als hierarchiebezo- gen ausgewählt ansehen kann. Mit diesen genannten Ärzten geriet auf jeden Fall die hierarchische Spitze der „state medical services“ des Dritten Reiches ins Blickfeld der Öffentlichkeit.

Weitere angeklagte Ärzte

Zusammen mit diesen rangho- hen Ärzten wurden in Nürnberg hier- archisch untergeordnete Ärzte ange- klagt. Ihnen warf man die Aus- führung beziehungsweise die Beteili- gung unter anderem an verbrecheri- schen Menschenversuchen an KZ-In- sassen oder an Kriegsgefangenen vor.

Auf diese Einzelvorwürfe kann hier nicht näher eingegangen werden. Den angewandten systematischen Ansatz für die Auswahl dieser Gruppe der Angeklagten kann man jedenfalls primär deliktbezogen nennen. Die von Taylor unterschiedene erste Gruppe bestand neben Prof. Schrö- der aus sieben weiteren „Luftwaf- fenärzten“ in unterschiedlichen hier- archischen Positionen (Prof. Gerhard Rose, Dr. Georg August Weltz, Dr.

Hermann Becker-Freyseng, Dr. Sieg- fried Ruff, Dr. Hans Wolfgang Rom- berg, Dr. Konrad Schäfer und Prof.

Wilhelm Beiglböck).

Die von Taylor unterschiedene zweite Gruppe, die „SS-Gruppe“, war noch einmal in sich heterogen:

Neben Genzken wurden die Grawitz unterstellten SS-Ärzte Prof. Dr. Joa- chim Mrugowsky, Oberster Hygieni- ker beim Reichsarzt SS, und Prof.

Karl Gebhardt, Oberster Kliniker beim Reichsarzt SS und Chefarzt der bekannten Heilanstalt Hohenlychen,

angeklagt. Hinzu kamen die SS- Ärzte Dr. Helmut Poppendieck, Chef des persönlichen Büros im Sta- be des Reichsarztes SS, Dr. Walde- mar Hoven, Lagerarzt im KZ Bu- chenwald, und Dr. Fritz Fischer, As- sistenzarzt in Hohenlychen. Die An- geklagte Dr. Hertha Oberheuser wurde dieser „SS-Gruppe“ zugeord- net, sie war Lagerärztin im KZ

Ravensbrück und Assistenzärztin in Hohenlychen gewesen.

Aus der von Taylor erwähnten dritten Gruppe bleibt noch ein ange- klagter Arzt zu erwähnen, der eine Sonderstellung einnimmt: Der nie- dergelassene Dermatologe Dr. Adolf Pokorny – ein williger Mitdenker Hit- lers – hatte in einem Brief an Himmler auf eine ihm praktikabel erscheinen- de Möglichkeit der medikamentösen Massensterilisation von „Feinden“

des Regimes hingewiesen. Konkrete Schritte in die von Pokorny vorge- schlagene Richtung wurden jedoch nicht unternommen, so daß er – trotz seines ungeheuerlichen Vorschlages – freigesprochen wurde.

Angeklagte Nicht-Ärzte

Neben diesen Ärzten wurden auch drei Nicht-Ärzte angeklagt, die durch die ausgewählten Delikte in den Blick geraten waren. Viktor Brack war Oberdienstleiter in der für

die „Euthanasie“-Aktion zuständi- gen Kanzlei des Führers gewesen (Bracks Vorgesetzter, Reichsleiter Ph. Bouhler, hatte kurz nach Kriegs- ende Selbstmord begangen). Dr. jur.

Rudolf Brandt hatte als Persönlicher Referent des Reichsführers SS Himmler und Leiter des Minister- Büros im Innenministerium eine ho- he Stellung im NS-Machtgefüge inne- gehabt, die auch den medizinischen Bereich berührte.

Wolfram Sievers war – wie schon er- wähnt – General- sekretär der Ge- sellschaft Ahnen- erbe und Direktor des Institutes für wehrwissenschaft- liche Zweckfor- schung dieser Ge- sellschaft gewesen.

Auch die ge- nannten Nicht- Ärzte wurden im übrigen von den Ermittlern als rang- hohe Vertreter des NS-Gesundheits- wesens angesehen, wie aus ihrer Pla- zierung in einer im Prozeß verwandten schematischen Darstellung der staat- lichen medizinischen Dienste zu er- sehen ist.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1996; 93: A-2929–2931 [Heft 45]

Literatur

Mitscherlich A, Mielke, F [Hrsg.]: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1987 Taylor, T: Beitrag zur Konferenz „Biomedical

Ethics and the Shadow of Nazism“, 8. 4. 1976 [The Hastings Center]. In: Ha- stings Center Report, Special Supplement, August 1976, S. 4–7

Trials of War Criminals Before the Nuernberg Military Tribunals, Vol. I und II [The Medical Case]. Washington, D.C.: U.S.

Government Printing Office [1949]

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Dr. Udo Benzenhöfer Abt. Medizingeschichte, Ethik und Theoriebildung in der Medizin Medizinische Hochschule Hannover 30623 Hannover

Die Entstehung der Dokumentation von Mitscherlich und Mielke wurde aus- führlich geschildert im Deutschen Ärzteblatt, Heft 22–23, 1994. Foto: Keystone

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