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Archiv "Zur Psychologie medizinischer Urteile" (26.08.1991)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DAS EDIT i RIAL

I Zur Psychologie

medizinischer Urteile

Rudolf Gross

1. Einflußgrößen medizinischer Entscheidungen

Wie wir früher mehrfach betont haben (zum Beispiel 5,7), sind, im Unterschied etwa zu den meisten Wirtschaftswissenschaften, Vorteile und Nachteile in der Medizin nicht komplementär, sondern werden von wenig- stens vier Einflußgrößen bestimmt, die man in einer einfachen Formel (7) zusammenfassen kann:

Ui • So

U

=

Uo • Si

Dabei ist der Gesamtnutzen U jeweils als der Nutzen (u 1) der Durchführung oder der Unterlassung einer Maßnahme (u 0) respektiv als der Schaden durch ihre Durchführung (s 1) beziehungsweise durch ihre Unterlassung (s o) gegeben. Am besten erhalten alle vier Parame- ter die neutrale Bezeichnung Aktionen. Die Diagnostik und Therapie besteht in diesem Sinne aus mehr oder minder zahlreichen Ak- tionen. Sie lassen sich in etwa, zeitlich und be- deutungsmäßig, einteilen in:

1. Erhebung der Fakten und Einbringung der Informationen über den individuellen Kran- ken (statistisch: n = 1!);

2. Allgemeine eigene Empirie und Kenntnisse einschließlich erreichbarer Literatur oder Wis- sen aus Datenbanken (statistisch: n = x!);

3. Intuition;

4. Logik, besonders Ausschluß von Inkonsi- stenz oder hypothetico-deduktive Prüfung auf Richtigkeit (6);

5. Psychologie des Entscheidenden selbst;

6. Prüfung auf ethische Vertretbarkeit und rechtliche Korrektheit;

7. Vorschläge an den Kranken, möglichst mit Angabe der Gründe für die Präferenz, und Herbeiführung seines „informed consent".

Im Zeitalter der Datenverarbeitung und Datenbanken hat sich der Schwerpunkt noch mehr auf die logischen Sequenzen oder mathe- matischen Algorithmen verlagert, wobei die psychologische Seite der Entscheidung des Pa- tienten, des Arztes oder deren Interaktion et- was zu kurz kommen kann. Aus einem überrei- chen anglo-amerikanischen Schrifttum seien dazu in Auswahl nur drei Standardwerke ge- nannt: Das fast ausschließlich von Psychologen oder Entscheidungstheoretikern geschriebene Werk von Kahneman, Slovic und Tversky (8) — ferner: Feinstein (3) sowie Weinstein und Fi- neberg (16). Seit dem grundlegenden Buch von Meehl (10) haben die Psychologen in mei- ner Kenntnis früher und mehr Beiträge gelie- fert als die — offenbar mehr an den speziellen Fragen ihrer Subdisziplinen interessierten — Kliniker und niedergelassenen Ärzte.

Dabei schrieb einer der bedeutendsten Mathematiker und Logiker unseres Jahrhun- derts, B. Russell (12): „Wenn wir wissen, daß p wahr ist und daß aus p q folgt, so können wir weiterhin q behaupten. Es spielt unvermeid- lich immer irgend etwas Psychologisches (Her- aushebung: Russell) beim Schließen hinein:

Schließen ist eine Methode, durch die wir zu einer neuen Kenntnis gelangen; nicht psycho- logisch an ihr ist die Beziehung, die uns er- laubt, korrekt zu schließen; aber der wirkliche Übergang von der Behauptung von p zur Be- hauptung von q ist ein psychologischer Prozeß, und wir dürfen nicht versuchen, ihn rein lo- gisch darstellen zu wollen". Das gilt meines Er- achtens besonders für die Medizin. In einem Editorial über Logic und Psycho-logic betont 1987 ein Lancet-Autor (2), daß derzeit weder die Lehrbücher der Medizin noch die Fortbil-

A-2786 (38) Dt. Ärztebl. 88, Heft 34/35, 26. August 1991

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dungskurse in die hohe Kunst der Diagnose- findung ausreichend einführten.

2. Alte und neue Definitionen

Vorab seien zwei auch hier gebräuchliche Begriffe ausgesprochen:

1. In der Nomenklatur mancher Entschei- dungstheoretiker (zum Beispiel 13) versteht man unter Risiko Ungewißheiten, „bei denen für die Zustände der Welt gewisse Wahr- scheinlichkeiten ihres Auftretens vorliegen und dem Entscheidenden bekannt sind (sto- chastische Welt)." Entscheidungen auf dieser Basis liegen somit zwischen Entscheidungsräu- men mit völliger Gewißheit und mit völliger Ungewißheit über künftige Ereignisse, Verläu- fe usw., hinter denen sich häufig „Entschei- dungen unter Risiko" im Sinne der Entschei- dungstheorie verbergen. Die meisten Ärzte ge- hen beim Risiko von der Gefährlichkeit einer Aktion aus, wobei häufig größere, das heißt riskantere Eingriffe, Behandlungen usw. zu- gleich größere und anhaltendere Heilungs- chancen versprechen. Nach Tversky und Kah- neman (bei 8) sind alle Entscheidungen proba- bilistisch: „Ein Risiko (hier im medizinischen Sinn des Wortes — Gr) ist nicht ausgeschlossen, nur reduziert." Deshalb ist es meines Erach- tens gerade in der Medizin geboten, sich dar- über klar zu werden, was der jeweilige Autor mit „Risiko" meint.

2. Mit Feinstein (3, 4) vertreten wir statt der durch unsere binär ausgelegten Computer begünstigten Dichotomie in der Diagnostik seit langem eine Trichotomie, das heißt eine Unter- teilung etwa in: Sicher normal — zweifelhaft oder kontrollbedürftig — sicher abnorm (5, 7).

3. Mit dem Eindringen der kognitiven Wis- senschaften sind einige angloamerikanische Be- griffe auch zu uns gelangt, die nicht leicht zu übersetzen sind. Am einfachsten zu übertra- gen ist noch die Heuristik („heuristics"). Die

„Encyclopaedia Britannica" spricht ganz allge- mein von einer „problemlösenden Prozedur, die zu einer hypothetischen Antwort über ein Problem führt", eventuell mehrstufig. In der medizinischen Diagnostik versteht man unter Heuristik am besten die Sammlung, Analyse, Gewichtung und Folgerung aus anamnesti- schen Angaben, Befunden der unmittelbaren Untersuchung und technologischen Daten. Sox (18) trennt zwischen den kognitiven Prinzipien

der „Representativeness heuristic", das heißt der Wahrscheinlichkeit, mit dem ein Objekt aufgrund seiner Eigenschaften einer Klasse von Objekten (zum Beispiel Krankheiten — Gr.) ähnelt — und „Anchoring" oder „Adjust- ment heuristic", die die Wahrscheinlichkeit angibt, von einem „Startwert" aus zusätzliche Informationen zu beurteilen.

4. Unschärfer und daher schwerer zu übersetzen ist der Begriff der „Representative- ness". Dazu findet man in der sonst so bewähr- ten „Encyclopaedia Britannica", vermutlich wegen der Vieldeutigkeit des Begriffes, nichts.

Nach Langenscheidt bedeutet Representative- ness die Vorstellung, das Symbol oder den re- präsentativen Charakter (9). Representative- ness ist nicht unbedingt identisch mit einem Mittelwert der Statistik oder mit der errechne- ten höchsten (subjektiven) Wahrscheinlich- keit. Sie bietet sich aufgrund bisheriger beson- ders eindrucksvoller oder neuerer Erfahrun- gen sozusagen an (11, 16). Nach Tversky und Kahneman (bei 8) handelt es sich unter ande- rem um einen Einzelwert aus einer Verteilung oder Kategorie oder um einen Zusammenhang zwischen Wirkung und Ursache — auch um ei- ne Ähnlichkeit mit schon Bekanntem, mit ei- nem Modell. In der Medizin findet sie ihren Ausdruck zum Beispiel in der Überschätzung schwererer Erkrankungen (zum Beispiel 17).

5. Als letzten aus dieser Serie neuer Aus- drücke der kognitiven Psychologie wählen wir

„Anchoring". Die schlichte Übersetzung ist ein- fach: „Ankern" (9). Die Diagnostiker pflegen darunter (metaphorisch) ebenso wie unter

„Adjustment" anderes zu verstehen: Entwick- lung (zum Beispiel einer Diagnose) von einem Ausgangspunkt, etwa einem Leitsymptom her, wobei das endgültige Urteil im Lichte späterer Informationen einfach modifiziert wird (15).

Das kann verbunden sein mit einem Festhal- ten an den ursprünglich erhobenen Befunden und Deutungen. Weinstein, Fineberg et al.

(17) weisen einerseits auf einen Konservatis- mus im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeiten hin. Einerseits neigen manche Diagnostiker dazu, an einer mittleren Wahrscheinlichkeit um 0,5 herum sich zu orientieren, während an- dere (aus Gründen eindrucksvoller und kurz- fristiger Erinnerungen) zu ungewöhnlichen Diagnosen (mit einer Wahrscheinlichkeit nahe 0 oder 1) neigen. Hier liegt eine der psycholo- gischen Ursachen, welhalb manche Ärzte dem Ublichen, andere dem Ungewöhnlichen den Vorrang geben (siehe dazu auch 5).

Dt. Ärztebl. 88, Heft 34/35, 26. August 1991 (41) A-2789

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3. Weitere psychologische Probleme

Im letzten Abschnitt waren vorzugsweise Definitionen angesprochen, aber einige Kon- sequenzen für das praktisch-ärztliche Verhal- ten, vor allem in der Differentialdiagnostik, schon hervorgehoben worden. Dem seien (bei- spielhaft) einige wenige weitere Probleme an- gefügt:

1. Dazu gehört in erster Linie, ob man sich für eine Diagnose entscheidet oder mehrere mit absteigender (subjektiver) Wahrschein- lichkeit ausweist. Das gilt besonders für Dia- gnostik mit Computer-Hilfe. Die Therapie, in deren Wahl die Theorie des Nutzens und die eingangs gegebene Formel eingehen, erfordert gewöhnlich eine Präferenz. Leider gilt selten das „Dominanzprinzip", das heißt die Situation, daß für alle in Betracht kommenden Krankhei- ten eine bestimmte Behandlung gleich wirk- sam ist. Die Wahl ist daher subjektiv und da- mit weniger ein logisches als ein psychologi- sches Problem: Sie wird ebenso bestimmt vom Nutzen oder Schaden einer durchgeführten oder unterlassenen Behandlung wie von der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Erkran- kung (7). Tversky und Kahneman (15) haben dies unter dem Prospekt des höchsten erwarte- ten Nutzens zusammengefaßt.

2. Diagnosen sollen abnormen Befunde befriedigend erklären. Wenn ein wesentlicher Befund „nicht paßt", stimmt entweder die Dia- gnose nicht oder es liegt eine Interferenz von mehreren „Krankheiten" vor. Das ist — minde- stens in der Inneren Medizin — relativ häufig:

So fand Ebel (1) unter 5000 Kranken bei etwa 43 Prozent Nebendiagnosen, davon bei etwa 27 Prozent eine, bei rund 16 Prozent mehrere.

3. In der Nutzen/Schaden-Relation wird nicht nur in der Medizin ein möglicher Scha- den höher bewertet als die größere Chance ei- nes Erfolges. Wald (16) hat meines Wissens als einer der ersten die Nutzen/Schaden-Relation mathematisiert und den größten möglichen Schaden minimiert („Minimax-Prinzip"). Die meisten Ärzte treffen allerdings diese Ent- scheidung empirisch-intuitiv, also wieder mehr auf psychologischer Grundlage.

4. Der (Wirtschafts)-Nobelpreisträger Si- mon (14) — und das soll dieses Editorial ab- schließen — spricht bei irrigen, aber nicht unbe- dingt irrationalen Entscheidungen von „gebun-

dener Rationalität" (bounded rationality): Es handelt sich um eine ausreichende, aber eben nicht um die optimale Reaktion auf die Wirk- lichkeit. Entscheidungen haben somit einen weiten, durch die inneren und äußeren Vor-

aussetzungen bestimmten Spielraum. Sie sind damit auch oder vorwiegend psychologisch.

Literatur

1. Ebel, B.: Statistische Erhebungen an 5000 Aufnahmen der Me- dizin. Universitätsklinik Köln. Inaugural. Diss. Köln 1974 2. Editorial: Diagnosis: Logic and Psycho-logic. Lancet 1967,

I: 840

3. Feinstein, A. R.: Clinical Judgment: Baltimore, William and Wilkins, 1987

4. Feinstein, A. R.: The Inadequency of Binary Models of the Cli- nical Reality of Three-Zone Diagnostic Decisions. J. Clin. Epi- dem. 43, 109 (1990)

5. Gross, R.: Medizinische Diagnostik. Grundlagen und Praxis.

Berlin—Heidelberg, Springer, 1969

6. Gross, R.: Der Prozeß der Diagnose. Dtsch. Med. Wschr. 98, 783 (1973)

7. Gross, R.: Über diagnostiche und therapeutische Entscheidun- gen. Klin. Wschr. 53, 293 (1975)

8. Kahneman, D., P. Slovic, A. Tversky (Edit.): Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Cambridge (England), Univ. Press, 1982

9. Langenscheidts Encyclopädisches Wörterbuch. Berlin, 1974 10. Meehl, P. H..: Clinical vs. statistical prediction. Minneapolis,

Univ. Minnesota Press, 1963

11. Pauker, St. G., J. P. Kassirer: Decision Analysis. New Engl. J.

Med. 316, 251 (1987)

12. Russell, B.: Einführung in die mathematische Philosophie, deutsch (ohne Jahr): Wiesbaden, Löwit.

13. Schneeweiss, H.: Entscheidungskriterien bei Risiko. Berlin—

Heidelberg, Springer, 1969

14. Simon, H. A.: Models of Thought. New Haven, Yale Univ.

Press, 1979

15. Tversky, A., Kahneman, D.: The Training of Decisions and the Psychology of Choice. Science, 211, 453 (1981)

16. Wald, A.: Statistical decision functions. New York, Wiley and Sons, 1950

17. Weinstein, M. C., H. V. Fineberg: Clinical Decision Analysis, Philadelphia, PA, 1980

18. Sox, H. C.: Probability Theory in the use of Diagnostic Tests.

Ann. Intern. Med. 104, 60 (1986)

Professor Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5

W-5000 Köln 41 A-2790 (42) Dt. Ärztebl. 88, Heft 34/35, 26. August 1991

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