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Archiv "Psychische und Verhaltensstörungen: Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?" (31.03.2006)

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A

A834 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006

P

sychische und Verhaltensstörungen nach Kapitel F der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) sind komplexe, multifaktoriel- le Erkrankungen, deren Manifestation auf der Ebene der Kognition, der Affekte sowie des motorischen und so- zialen Verhaltens erfolgen kann. Nach den Daten des Bundes-Gesundheitssur- veys von 1998/99 wird nahezu jeder zweite Bundesbürger (41 Prozent) im Laufe seines Lebens wenigstens einmal an einer psychischen Gesundheits- störung erkranken, jeder dritte wird aus diesem Grund mindestens einmal pro- fessionelle Hilfe in Anspruch nehmen (1). Nach den Angaben im Zusatzsur- vey „Psychische Störungen“ zur 12- Monats-Prävalenz sind Angststörungen (14,5 Prozent), affektive (11,9 Prozent) und somatoforme Störungen (elf Pro- zent) und Schmerzstörungen (8,1 Pro- zent) die häufigsten psychischen Er-

krankungen unter 18- bis 65-jährigen deutschen Er- wachsenen (Tabelle 1) (1). In den Industriena- tionen kommt depressi- ven Störungen als Ursa- che einer eingeschränk- ten Lebensqualität und Leistungsfähig- keit sowie krankheitsbedingter Fehl- zeiten und eines vorzeitigen Berufsaus- stiegs wachsende Bedeutung zu. Zuneh- mend sind darüber hinaus depressive Störungen auch als Begleiterkrankun- gen (Komorbidität) bei primär organi- schen Leiden (zum Beispiel ischämi- schen Herzerkrankungen, Diabetes mel- litus) mit Prävalenzraten von bis zu 70 Prozent zu verzeichnen. Eine komorbide Depression ist nicht nur mit einer schlechteren Lebensqualität und höhe- ren Krankheitskosten verbunden, son- dern führt auch zu einer deutlich höheren Mortalität (2). Die „Burden of Disease Study“ von WHO und Weltbank geht davon aus, dass Depressionen im Jahr 2020 weltweit den zweiten Rang un- ter den Behinderung verursachenden Erkrankungen einnehmen werden (3).

Psychische Erkrankungen stellen des- halb für alle Akteure im Gesundheits- und Sozialbereich eine Herausforde- rung dar. Dies betrifft die Prävention ebenso wie Intervention und Versor- gung, Begutachtung, Rehabilitation sowie Reintegration und Teilhabe an Arbeitsleben und Gesellschaft.

Hinsichtlich möglicher Risiken für die Entstehung und Manifestation der- artiger Gesundheitsstörungen werden neben biologischen und genetischen

Faktoren in letzter Zeit vermehrt auch Stressoren aus Gesellschaft und Ar- beitswelt (etwa Primat der Ökonomie, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, Ar- beitsplatzunsicherheit, diskontinuierli- che Erwerbskarrieren) diskutiert. An- zunehmen ist, dass es einen Zusammen- hang zwischen negativem chronischen Stress im Beruf und dem Auftreten psychischer Störungen, insbesondere depressiver Erkrankungen, gibt. Unab- hängig von der Klärung möglicher Ur- sachen richtet sich das öffentliche Inter- esse derzeit vor allem auf die sozialen Folgen psychischer und psychosomati- scher Erkrankungen, wie etwa krank- heitsbedingte Fehlzeiten,Verlust des Ar- beitsplatzes mit sozialem Abstieg, Früh- berentung und hohe Belastung der ge- setzlichen Rentenversicherung (GRV), Zerbrechen von Familien und Partner- schaften, Suchtentwicklung et cetera.

Erhebliche Folgeschäden

Während der Krankenstand insgesamt sinkt, ist seit etwa einem Jahrzehnt ein kontinuierlicher Anstieg an Arbeits- unfähigkeitstagen (AU-Tagen) infolge psychischer Erkrankungen (gemäß Ka- pitel F der ICD-10) zu beobachten. So nahm der Krankenstand in der Gesetz- lichen Krankenversicherung zwischen 1997 und 2004 von 4,19 Prozent auf 3,39 Prozent ab; im gleichen Zeitraum nah- men zum Beispiel bei den berufstätigen DAK-Versicherten die AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen um 70 Pro- zent zu. Ähnliche Trends sind auch bei

1Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Reha- bilitation an der Deutschen Sporthochschule Köln (IQPR- GmbH)

2Lehrstuhl für Allgemeine und Gesundheitspädagogik der Universität Bamberg

3Fachklinik für Psychosomatische Medizin Bliestal Klini- ken, Blieskastel, und Institut für Psychoanalyse, Psycho- therapie und Psychosomatische Medizin der Universitäts- kliniken des Saarlandes, Homburg/Saar

Psychische und Verhaltensstörungen

Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?

Der Erhalt oder die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit müssen als gesamt- gesellschaftliche Aufgabe begriffen werden.

Andreas Weber1, Georg Hörmann2, Volker Köllner3

Foto:BilderBox

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den anderen großen Krankenkassen zu verzeichnen (4, 5, 6, 7, 8) (Tabelle 2). Eine aktuelle Studie des MDK Sachsen-An- halt auf Grundlage der Begutachtung von 4 069 AU-Fällen infolge psychischer Erkrankungen (F-Diagnosen) in den Jahren 2001 bis 2003 kommt zu dem Er- gebnis, dass in 40 Prozent der Fälle schon eine erhebliche Gefährdung oder eine bereits bestehende Minderung der Er- werbsfähigkeit vorliegt (9). Somit ver- wundert es nicht, dass der Anteil psychi- scher und psychosomatischer Erkran- kungen an der krankheitsbedingten Frühinvalidität in der GRV im letzten Jahrzehnt kontinuierlich zugenommen hat; dabei lag die relative Häufigkeit der- artiger Gesundheitsstörungen bei Frau- en (bezogen auf die gesamte GRV) – außer bei Abhängigkeit – zwischen neun und 13 Prozentpunkten höher als bei Männern (10, 11). Nach der Rentenzu- gangsstatistik des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) er- folgte 2004 fast ein Drittel (31 Prozent) der Frühberentungen wegen einer psy- chisch bedingten Erwerbsminderung. Im Morbiditätsspektrum der für eine Früh- berentung wesentlichen Gesundheits- störungen waren psychische und psycho- somatische Erkrankungen damit am

häufigsten vertreten. Psychisch Kranke schieden zudem fast 20 Jahre vor der ge- setzlichen Altersgrenze oder fast 13 Jah- re vor dem tatsächlichen durchschnitt- lichen Renteneintrittsalter (derzeit: 60,4 Jahre) aus dem Erwerbsleben aus (10).

Der Anteil psychischer Erkrankungen an der Frühpensionierung von Beamten hat wie in der GRV zugenommen. Im Jahr 2000 lag einer vorzeitigen Dienst- unfähigkeit bei Beamten im öffentli- chen Dienst in 39 Prozent der Fälle eine

psychische Erkrankung zu- grunde, 2003 waren es bereits 50 Prozent.Von den frühpen- sionierten Lehrern gaben im Jahr 2003 fast zwei Drittel (65 Prozent) wegen einer der- artigen Erkrankung vorzeitig ihren Beruf auf (11, 12, 13).

Vor dem Hintergrund der erheblichen sozialmedizini- schen und sozio-ökonomi- schen Konsequenzen psychi-

scher und Verhaltensstörungen stellt sich die Frage nach der Effektivität und Qualität der Gesundheitsversorgung.

Zwar nahm die Zahl der an der ver- tragsärztlichen Versorgung beteiligten Ärzte und Psychologen mit psychothe- rapeutischer Fachkompetenz im letzten Jahrzehnt zu; dennoch wird insbesonde- re die ambulante Versorgung psychisch Kranker von Experten als unbefriedi- gend eingeschätzt: Nach dem Gutachten des Sachverständigenrates für die kon- zertierte Aktion im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2003 bleiben rund 30 Pro- zent aller depressiven Störungen uner- kannt. In der Primärversorgung werden nur rund 50 Prozent der psychischen Störungen richtig diagnostiziert und ei- ner Behandlung zugeführt. Nach Erhe-

bungen der DAK erhalten rund 40 Pro- zent der psychisch kranken Patienten beim Hausarzt trotz eindeutiger Indika- tion keine depressionsspezifische Thera- pie, wobei die Kosten für nicht adäquat behandelte Patienten auf rund 13 700 Euro je Fall geschätzt werden (1, 3, 6, 14).

Gleichzeitig nimmt die Verordnung von Antidepressiva bei Versicherten der Techniker Krankenkasse, die in jedem zweiten Fall durch Hausärzte erfolgt, seit 2000 jährlich um neun bis elf Prozent zu

(7). Darüber hinaus fallen lange „Krank- heitskarrieren“ auf: So kann es bis zu sieben Jahre vom ersten Auftreten der psychischen Störung bis zu einer quali- fizierten Therapie dauern (6). Im inter- nationalen Vergleich hat Deutschland einen hohen Anteil an Psychotherapie- betten, die in der Psychiatrie, Psycho- somatischen Medizin und in der Reha- bilitation vorgehalten werden. Die Ver- weildauer wegen psychischer Störungen im Akut-Klinikbereich ist hoch. Mit durchschnittlich 25,3 Leistungstagen nahm sie zum Beispiel bei BKK-Ver- sicherten im Jahr 2003 nach den onko- logischen Fällen den zweiten Platz ein (4, 14). Auch im Rehabilitationsgesche- hen spielen psychische und psychosoma- tische Erkrankungen eine bedeutende Rolle: So wurden allein zulasten der Rentenversicherung im Jahr 2003 rund 130 000 Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation abgeschlossen.

Aus gesundheitsökonomischer Sicht lassen sich direkte von indirekten Ko- sten abgrenzen. Direkte Kosten entste- hen bei der Inanspruchnahme von Lei- stungen innerhalb des Gesundheits- systems und fallen im Rahmen von Diagnostik, (Psycho-)Therapie oder Me- dikamentengabe (Psychopharmaka) an.

Nach der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamtes betru- gen sie im Jahr 2002 für psychische und Verhaltensstörungen (Kapitel F der ICD-10) in den einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens rund zwölf Milliar- den Euro. Demgegenüber versteht man unter indirekten Kosten Ausgaben, die aus Produktionsausfällen, verlorenen Arbeitstagen, Beschäftigung von Er- satzkräften, Lohnersatzleistungen oder vorzeitigen Rentenzahlungen resultie- ren. Indirekte Kosten sind schwer zu quantifizieren. Nach Einschätzung der Gewerkschaft ver.di haben psychische A

A836 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006

Die Techniker Kranken- kasse verzeichnete im Jahr 2004 eine „Spitzen- quote“ von 13,7 Pro- zent bei berufstätigen und 28 Prozent bei ar- beitslosen Versicherten, wobei psychische Er- krankungen den zweiten Platz in der AU-Morbi- ditätsrangfolge einnah- men (7).

´ Tabelle 2CC´

Arbeitsunfähigkeit und psychische Erkrankungen bei berufstätig Versicherten/2004

Krankenkasse Anteil an AU-Tagen Dauer Rangplatz

Techniker 13,7 % w > m m: 49 Tage 2

Krankenkasse Arbeitslose: 28 % w: 55 Tage

DAK 9,8 % m: 8,4 % 27,8 Tage 4

w: 11,6 %

AOK 7,8 % w > m 16,4 Tage 4

BKK 7,5 % m: 5,6% 29 Tage 4

Arbeitslose: 16,3 % w: 10,0 %

´ Tabelle 1CC´

12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen

Gesamt Frauen Männer Angststörungen 14,5 % 19,8 % 9,2 % Affektive Störungen 11,9 % 15,4 % 8,5 % Somatoforme Störungen 11,0 % 15,0 % 7,1 % Schmerz-Störung 8,1 % 11,4 % 4,9 % [aus Bundes-Gesundheitssurvey – 1998/99- Zusatzsurvey „Psychische Störungen“ All- gemeinbevölkerung – 18–65 Jahre – n=4.181 – modifiziert nach Jacobi et al. 2004]

(3)

Gesundheitsstörungen im Jahr 2003 zu einem Produktionsausfall von cir- ca 4,1 Milliarden Euro geführt. Der AOK-Bundesverband bezifferte die indirekten Kosten durch Fehlzeiten für das Jahr 2003 mit rund drei Milli- arden Euro. In den USA geht man davon aus, dass allein die depressi- ven Störungen pro Jahr Arbeitsaus- fälle von rund 44 Milliarden US- Dollar nach sich ziehen. Die indirek- ten Kosten für Arbeitsausfälle und Lohnersatzleistungen werden in Großbritannien auf etwa 19 Milliar- den Euro im Jahr geschätzt (3).

Zahlreiche Sozial- und Arbeits- mediziner gehen nach den Ergebnis- sen einer aktuellen DAK-Experten- befragung davon aus, dass es sich um eine echte und nicht nur statistisch verzerrte Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen handelt (6). In diesem Zusammen- hang wird dem tief greifenden Wan- del von Gesellschaft und Arbeitswelt als Auslöser oder zumindest mani- festationsfördernder Faktor (insbe- sondere für depressive Störungen) eine hohe Bedeutung beigemessen.

Als zwei wesentliche, gleichsam übergeordnete Bedingungen, die der- zeit Gesellschaft und Arbeitswelt maß- geblich bestimmen, können das Primat der Ökonomie („McKinsey-Gesell- schaft“) und die Instabilität (in nahezu allen Lebenswelten) angeführt werden.

Jeder Lebensbereich wird nach ökono- mischen Prinzipien ausgerichtet, wobei Effizienz die oberste Maxime darstellt.

Die gesamte Gesellschaft ist gewisser- maßen ein Unternehmen, Managerver- halten wird zum Rollenideal (15, 16).

Leistungsdruck nimmt zu

Stabile soziale Beziehungen gehören nach psychologischen und neurobiolo- gischen Erkenntnissen zu den Voraus- setzungen seelischer und körperlicher Gesundheit. Menschen wollen vor allem Klarheit, Zielorientierung und Sicher- heit – dies gilt für den Beruf genauso wie für das Privatleben. Die Alltags- realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht allerdings oft ganz anders aus. Die neue, globalisierte Arbeitswelt führt zu permanentem Wettbewerb, wachsen-

dem Konkurrenzdruck, Verlust von So- lidarität und Arbeitsplatzunsicherheit.

Gefordert werden hohe Flexibilität und Mobilität, soziale Kompetenz, ständige Erreichbarkeit, wechselnde und/oder überlange Arbeitszeiten. Dabei verwi- schen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zunehmend. Flexibilität wird zum Gesundheitsrisiko, wenn sie gleichgesetzt wird mit Arbeitszeiten oh- ne Rücksicht auf soziale oder kulturelle Traditionen bis hin zur Selbstausbeu- tung.Arbeitsverdichtung, das heißt stei- gendes Arbeitsvolumen bei sinkendem Personalstand, führt zu Überlastung, Zeitdruck und chronischem Stress. Zu- nehmende „Unplanbarkeit“ der beruf- lichen Zukunft macht es immer schwie- riger, privat „Wurzeln zu schlagen“

oder eine Familie zu gründen, was ange- sichts der demographischen Entwick- lung volkswirtschaftlich fatal ist. Nie- mals in der Geschichte Deutschlands war der individuelle Freiraum größer und gleichzeitig der Leistungsdruck höher. Die massiven Veränderungen von Arbeitswelt und Gesellschaft be- wirken nach Meinung vieler Experten

eine Zunahme psychischer und psy- chosomatischer Erkrankungen (ins- besondere depressiver Störungen und Angststörungen) – diese Leiden können als „Epidemie des 21. Jahr- hunderts“ bezeichnet werden.

Verbreitet ist auch die These, dass es sich nicht um eine echte Zunahme psychischer Erkrankungen handelt, sondern um Folgen „diagnostischer Verzerrungen“ oder von „Marktef- fekten“. Zum einen werde heute über psychische Probleme offener gespro- chen, zum anderen sei die Bevölke- rung über derartige Störungsbilder besser informiert und könne sich diesbezüglich adäquater mitteilen.

Zudem gebe es ein stetig wachsendes Angebot an professionellen Helfern –

„der Markt schafft sich Nachfrage“.

Darüber hinaus seien auch Hausärzte heute eher bereit, ihren Patienten bei primär beruflichen Schwierig- keiten eine AU-Bescheinigung mit ei- ner „Psycho“-Diagnose auszustellen.

Dies führe zu einer hohen Prävalenz psychischer Erkrankungen beim Krankenstand. Gerne verwiesen wird auf Schwächen routinemäßig anfal- lender Versorgungs- und Sozialdaten für die Gesundheitsberichterstattung, die wissenschaftlich seriöse Aussagen zur psychischen Morbidität derzeit nicht zuließen (4, 6).

Geht man aber von einer hinreichen- den Validität der Diagnosen aus, führt die Auswertung von Krankenkassenda- ten eher zu einer Unterschätzung als zu einer Überschätzung der sozialmedi- zinischen Bedeutung psychischer Er- krankungen. So werden zum Beispiel nur Hauptdiagnosen routinemäßig do- kumentiert, sodass psychische Komor- bidität in der Regel gar nicht erfasst wird (17). Die Validität der Diagnosen in den Rentenzugangsstatistiken steht weitgehend außer Frage. Zum einen er- folgt eine Rentenbegutachtung bei psy- chischen Erkrankungen durch entspre- chend qualifizierte Fachärzte, zum an- deren liegen aufgrund der meist länge- ren Vorgeschichte im Regelfall ein- schlägige Vorbefunde vor.

Trotz der aus wissenschaftlicher Sicht bestehenden Limitationen lässt sich aus den vorliegenden Daten mit

„ausreichender Evidenz“ Handlungs- bedarf begründen. Der Erhalt bezie- A

A838 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006

Die Verteilung der Diagnose nach ICD-10 unter den zu Arbeitsunfähigkeit führenden psychischen Ge- sundheitsstörungen am Beispiel der differenzierten Erhebungen der DAK für das Jahr 2004. Das Morbi- ditätsspektrum wird von affektiven (F30–39) und neurotischen Störungen (F 40–48) beherrscht (6).

Arbeitsunfähigkeit und Diagnosen

7 % 5 %

41 %

41 % 6 %

Affektive Störungen (F30–39) Neurotische Störungen (F40–48)

Schizophrenie, wahnhafte Störungen (F20–29) Psychotrope Substanzen (F10–19)

Sonstige Störungen

Quelle:DAK-Gesundheitsreport 2005

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hungsweise die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit muss als eine in- terdisziplinäre, gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.

In Zeiten begrenzter Ressourcen ist es wichtig, dass gesicherte wissenschaft- liche Erkenntnisse breit und zeitnah in die Praxis transferiert werden. Auf- grund der hohen Prävalenz einiger psy- chischer Störungen (wie Depressionen oder Angsterkrankungen) und des Vor- liegens geeigneter Instrumente (psycho- metrische Tests) erscheinen Screening- Programme sinnvoll. Es liegt bislang allerdings noch keine Evidenz dafür vor, dass Frühintervention zu einem besseren Outcome führt. Primär- präventiv wird heute allgemein der Set- ting-Ansatz favorisiert. Dabei sehen Experten im Setting „Arbeitswelt“ ein großes präventives Potenzial. Von einem ganzheitlichen betrieblichen Gesund- heitsmanagement erhofft man sich ins- besondere eine Reduktion arbeits- assoziierter psychischer Probleme, wie Stress, Mobbing oder Burnout (11, 18).

Für die Intervention wird insbesondere der Verbesserung der hausärztlichen Kompetenz im Hinblick auf Früherken- nung und zeitgerechte Therapieein- leitung Bedeutung beigemessen. Im Rahmen der sozialmedizinischen Be- gutachtung stehen vor allem Fragen der Bewertung psychischer und psycho- somatischer Erkrankungen (Qualitäts- diskussion, Gleichbehandlung,Transpa- renz, konsens- oder evidenzorientierte Standardisierung) im Vordergrund.

Umdenken dringend geboten

Da psychosomatische Gesundheitsstö- rungen, die zur Rente führen, nach wie vor als inkurabel gelten, kommt der Optimierung der Rehabilitation („Reha vor Rente“) eine Schlüsselrolle zu. Auch psychotherapeutische Angebote müssen sich dabei Fragen nach Qualität, Effek- tivität und Effizienz stellen. Die Weiter- entwicklung neuer, berufsbezogener Therapieansätze und die Verknüpfung

von Rehabilitation mit dem Beruf stellen weitere aktuelle Optionen für Reha-For- schung und -Praxis dar. In diesem Zu- sammenhang könnte das im SGB IX § 84 Abs. 2 verankerte Betriebliche Einglie- derungsmanagement (Disability Manage- ment) neue Möglichkeiten eröffnen.

Derzeit haben psychisch kranke Arbeit- nehmer, zumal wenn sie älter als 50 Jahre sind, kaum eine Chance auf Reintegra- tion und Teilhabe am Arbeitsleben (19).

Angesichts der demographischen Entwicklung mit alternden Belegschaf- ten erscheint ein Umdenken in Politik, Gesellschaft und Unternehmen drin- gend geboten. Bei den volkswirtschaft- lich erheblichen Aufwendungen, die Frühverrentungen nach sich ziehen, kann das Argument nicht lauten: „Wir haben kein Geld.“ Es stellt sich vielmehr die Frage, ob eine Gesellschaft ihre Res- sourcen lieber für Rentenzahlungen und soziale Unterstützungsleistungen (Aus- grenzung) oder für die Förderung der Gesundheit und Teilhabe von Menschen (Prävention und Eingliederung) einset- zen möchte. Zwischenmenschliche Be- ziehungen bleiben entscheidend für das Gelingen von Arbeit, für ein erfülltes und zufriedenes Leben. Menschen sind wandlungsfähig und -willig, man muss sie nur „mitnehmen“. Wo Profitkultur und Marktfundamentalismus gelebt werden, die den Menschen auf „Human- kapital“ reduzieren, kommt es zu „inne- rer“ Kündigung, hohem Krankenstand, Frühverrentung und Krankheit von Leib und Seele als vermeintlichem Ausweg.

Deshalb ist die Wiederentdeckung der Humanität eine der größten Herausfor- derungen des kommenden Jahrzehnts.

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006 AA841

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(13): A 834–41

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. habil. Andreas Weber Facharzt für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin

Wissenschaftlicher Geschäftsführer – IQPR GmbH Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation an der

Deutschen Sporthochschule Sürther Straße 171, 50999 Köln E-Mail: weber@iqpr.de

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1306 abrufbar ist.

D

er 109. Deutsche Ärztetag in Magdeburg (23. bis 26. Mai 2006) soll dazu beitragen, die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ak- tiv zu bekämpfen. Außerdem sollen die psych- iatrisch-psychosomatisch-psychotherapeuti- schen Kompetenzen im ärztlichen Handeln verdeutlicht werden. Trotz der Fortschritte in Behandlung und Versorgung sind psychisch Kranke häufig einer Stigmatisierung ausge- setzt, die die psychische Erkrankung verschär- fen kann. Aufgrund von Vorurteilen distanzie- ren sich Personen aus dem Umfeld von den Betroffenen und deren Familie.

Aber auch in der Ärzteschaft findet man oftmals skeptische Einstellungen gegenüber psychischen Erkrankungen und ihrer Behan- delbarkeit, stellt die Bundesärztekammer (BÄK) fest. Der Erkrankte selbst verinnerliche oftmals die Stigmatisierung und Diskriminie- rung. Dieses Phänomen wird als eine „zweite Erkrankung“ bezeichnet. Deshalb haben die WHO, der Weltverband für Psychiatrie und na- tionale Fachgesellschaften Aktionsprogram- me gestartet, die einer Diskriminierung entge- genwirken sollen. Die BÄK beteiligt sich an

der Durchführung des nationalen Antistigma- programms.

Das Selbstverständnis der Medizin basiert auf einer ganzheitlichen Sicht auf den Men- schen. Aber in den letzten Jahrzehnten sei eine Verlagerung zu somatischen Aspekten und zur Nutzung der vielen technischen Errungen- schaften zu verzeichnen, beklagt die BÄK. Die Kernkompetenzen Psychosomatik in den ein- zelnen Fachgebieten und die ärztliche Psycho- therapie als besondere Ausprägung der spre- chenden Medizin drohten als wesentliche Be- standteile der ärztlichen Berufsausübung ver- loren zu gehen. Der 109. Deutsche Ärztetag soll deshalb darauf hinwirken, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit psychogenen Symptomen, somatopsychischen Reaktionen und psychosozialen Zusammenhängen in allen patientenbezogenen Weiterbildungsfächern verstärkt vermittelt werden. Die psychosomati- sche Kompetenz soll in alle Fortbildungen für Ärzte in Klinik und Praxis integriert werden. Die Zuständigkeit der Ärzte für die „ureigensten Aufgaben der Medizin“ soll erhalten bleiben, und Kernkompetenzen sollen nicht an andere Berufsgruppen delegiert werden. PB

109. Deutscher Ärztetag 2006

Gegen Stigmatisierung psychisch Kranker

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Literatur

1. Jacobi F, Klose M, Wittchen H-U: Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruch- nahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltage.

Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesund- heitsschutz 2004; 47: 736–744.

2. Berghändler T: Depression. In: von Planta M (Hrsg.):

Evidenzbasierte Innere Medizin. Köln: Deutscher Ärz- teverlag 2005.

3. Heuser I, Dettling M: Medizinische Versorgung und therapeutische Optionen unter gesundheitsökonomi- schen Aspekten bei psychiatrischen Patienten in Deutschland am Beispiel schizophrener und depressi- ver Störungen. Bundesgesundheitsbl-Gesundheits- forsch-Gesundheitsschutz 2004; 47: 745–750.

4. BKK Bundesverband (Hrsg.): BKK Gesundheitsreport 2004 – Gesundheit und sozialer Wandel. Essen 2004.

5. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Siche- rung (Hrsg.): Gesetzliche Krankenversicherung – Er- gebnisse der GKV-Statistik – KM 1 – Stand: 1. Juli 2005. Bonn 2005.

6. Deutsche Angestelltenkrankenkasse – Versorgungs- management (Hrsg.): DAK-Gesundheitsreport 2005 Hamburg 2005.

7. Techniker Krankenkasse (Hrsg.): Gesundheitsreport- Auswertungen 2005 zu Trends bei Arbeitsunfähigkei- ten und Arzneiverordnungen. Hamburg 2005.

8. Wissenschaftliches Institut (Wido) der AOK (Hrsg.:) Presseinformation: Psychische Erkrankungen. Bonn 10. Mai 2005.

9. Keitel C, Hufnagel K, Rösler N, Bucher H: Arbeitsun- fähigkeitsbegutachtung bei psychischen Erkrankun- gen. Gesundheitswesen 2005; 67: 514.

10. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR): Rentenzugangsstatistik: Rentenzugänge we- gen Erwerbsminderung. Frankfurt /Main 2004.

11. Weber A, Weltle D, Lederer P: Frühinvalidität im Lehrerberuf: Sozial- und arbeitsmedizinische Aspek- te. Dtsch Ärztebl 2004; 101: A-850–859 [Heft 13].

12. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Dritter Versor- gungsbericht der Bundesregierung – das Wichtigste in Kürze. Berlin 2005.

13. Weber A, Weltle D, Lederer P: Ill health and early reti- rement among school principals in Bavaria. IntAr- chOccupEnvironHealth 2005; 78: 325–331.

14. Bühring P: Psychosoziale Versorgung in der Medizin – Bedarf steigt mit dem Fortschritt. Dtsch Ärztebl 2003; 100: A-2700 [Heft 42].

15. Kurbjuweit D: Unser effizientes Leben – die Diktatur der Ökonomie und ihre Folgen. 3. Auflage, Reinbek:

Rowohlt 2004.

16. Weiss H, Schmiederer E: Asoziale Marktwirtschaft. 2.

Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005.

17. Kuhn J: Der Krankenstand: Epidemiologische und be- triebswirtschaftliche Bedeutung. Arbeitsmed Sozial- med Umweltmed 2005; 40: 646–651.

18. Weber A, Kraus T: Das Burnout-Syndrom – Eine Be- rufskrankheit des 21.Jahrhunderts? Arbeitsmed So- zialmed Umweltmed 2000; 35: 180–189.

19. Weber A, Weltle D, Lederer P: „They’ll never come back“– Anspruch und Wirklichkeit der beruflichen Reintegration dienstunfähiger Lehrkräfte. Gesund- heitswesen 2004; 66: 667–673.

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006 AA1

Literaturverzeichnis Heft 13/2006, zu:

Psychische und Verhaltensstörungen

Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?

Der Erhalt oder die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit müssen mehr denn je als eine interdisziplinäre, gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden.

Andreas Weber1, Georg Hörmann2, Volker Köllner3

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