Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
KONGRESS-NACHRICHTEN
Legasthenie und Kriminalität
Die durchschnittliche Häufigkeit der kongenitalen Legasthenie im deutschen Sprachraum liegt bei etwa sieben Prozent der Kinder im zweiten Grundschuljahr. In Fürsor- geerziehungsheimen und Jugend- beziehungsweise Erwachsenen- Strafanstalten ist dagegen jeder dritte männliche Insasse Legasthe- niker. Das wichtigste sekundäre und vor allem vermeidbare Folge- symptom der Legasthenie ist eine neurotische Fehlentwicklung (C.
Weinschenk, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Marburg). Sie kommt durch die Selbstwertverletzung in Gang, be- dingt durch schulische Mißerfolge bei meist normalen Intelligenzvor- aussetzungen. Daraus resultieren weit überdurchschnittlich häufig dissoziale und kriminelle Verhal- tensweisen, in denen die Kinder (Jugendliche) die vermißten Er- folgserlebnisse finden. Rechtzeitige Diagnose und konsequente Thera- pie nach modernen (!) kinder- psychiatrischen Gesichtspunkten beugen dieser Entwicklung ent- schieden vor. WP
(V. Kongreß der Union Europäischer Pädopsychiater, Juli 1975 in Wien)
Psychosozial entstreßt
Daß zwischen psychosozialem Streß und essentieller Hypertonie Kausalbeziehungen bestehen, wird heute mit immer mehr Indizien be- legt. Die pathogenetische Dreh- scheibe liegt im Hypothalamus, dessen Sensibilität gegenüber psy- chosozialen Stressoren mit anson- sten unterschwelligen Reizen auch getestet werden kann (E. Richter- Heinrich, Akademie der Wissen- schaften der DDR, Berlin-Buch).
Damit kann man zwar die letzte Ur- sache der essentiellen Hypertonie noch nicht erklären, aber ein De- sensibilisierungstraining entwik- kein. Diese spezifische antihyper- tensive Reaktions-Konditionierung im Sinne der verhaltenstherapeuti-
schen Bahnung funktioniert im the- rapeutischen Experiment. Der kli- nische Großversuch steht noch aus (Richter-Heinrich). — Mit autoge- nem Training erreicht man wahr- scheinlich ähnliche Ergebnisse, wenn das Verfahren zur Grundlage für jede psychosoziale Anpas- sungsreaktion gemacht und nicht nur gelegentlich abends geübt wird. WP (Streß-Symposion, Juni 1975 in Bonn)
Kortikosteroide gegen Hirnödem
Dexamethason, in hohen Dosen parenteral gegeben, verringert nicht nur ein Hirnödem schnell und wirksam, sondern verhindert es bei rechtzeitiger Applikation auch (H.
E. Diemath, Nervenkrankenhaus Salzburg). Damit beeinflussen Kor- tikosteroide auch die hirndruckbe- dingte Bewußtseinsstörung gün- stig. Darüber hinaus kann wahr- scheinlich mit einer Hemmung der Autoimmunprozesse durch Dexa- methason gerechnet werden, die bei posttraumatischem bezie- hungsweise posthämorrhagischem Hirnzerfall nachgewiesen wurden (H. Reisner, Neurologische Univer- sitätsklinik, Wien). Prophylaktische Gabe des Steroids für den Trans- port nach Schädel-Hirn-Trauma er- scheint sinnvoll. Dexamethason in- trathekal wirkt sofort, aber nur kurzfristig. WP
(IX. Venezianisches Neuro-psychiatri- sches Symposion, Mai 1975)
Akutes Leberversagen
Früher sprach man von akuter gel- ber Leberdystrophie. Die Prognose hat sich mit dem Namenswechsel nicht verbessert; die Überlebensra- ten liegen trotz aller Therapieexpe- rimente (Austauschtransfusion, Anastomosen mit Schweine- oder Affenleber usw.) unverändert bei 10 bis 20 Prozent (W. Horak, Lehr- stuhl für Gastroenterologie, Medizi-
nische Universitätsklinik Wien). Ur- sachen: Hepatitis A und B, Knol- lenblätterpilz und andere Intoxika- tionen. Auch die Fettleber kann bei einschlägigem Anlaß in eine akute Alkohol-Hepatitis übergehen (Ho- rak). — Neue Therapieversuche in der „Liver-Unit" des Kings College Hospitals London mit extrakorpora- ler Säulenperfusion. Die Säule ent- hält 300 g Charcoat (aktivierte Holzkohle mit biokompatiblem Kunststoff beschichtet). Die Säule absorbiert hepatotoxische Substan- zen am besten. Sie wird deshalb in London vor allem bei Intoxikatio- nen eingesetzt (44 Prozent von 33 Patienten mit akutem Leberversa- gen überlebten). — Weitere neue Therapiechancen (Horak): L-Dopa- Heparin, Isolationskammern). WP
(24. Deutscher Kongreß für ärztliche Fortbildung Mai 1975 in Berlin)
Schwangerschaft und
Verhaltensstörungen
Frühkindliche Hirnschädigungen gehören zu den häufigsten Ursa- chen von Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter. Diagno- se: Neurologischer Befund bezie- hungsweise EEG (R. Matthai, Abtei- lung für Psychosomatische Pädia- trie, Universität Göttingen). Blutun- gen, Asphyxie, Lageanomalien, aber auch Unehelichkeit des Kin- des korrelieren eng mit frühkindli- cher Hirnschädigung. Aus Schwan- gerschaftsstörungen, die begrün- deten Verdacht auf einen temporä- ren oder gar ständigen Sauerstoff- und Substratmangel der Frucht er- wecken, lassen sich solche früh- kindlichen Hirnstörungen, vor al- lem auch das sogenannte Mini- Hirn-Syndrom, sehr häufig voraus- sagen. Solche „Risikokinder" soll- ten viel häufiger als bisher später rechtzeitig auf diese Entwicklung hin kontrolliert werden. Rechtzeiti- ge konsequente heilpädagogische Therapie verhütet manche Verhal- tensstörung. WP
(V. Kongreß der Union Europäischer Pädopsychiater, Juli 1975 in Wien)
3112 Heft 45 vom 6. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT