Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
EDITORIAL
HOFFNUNG
FÜR ERBLINDETE:
DIE VITREKTORNE
Wolfgang Straub
Die Weiterentwicklung der mi- krochirurgischen Techniken sowie des Nahtmaterials und der Instrumente hat in den letzten Jahren für die Oph- thalmologie neue Dimensio- nen erschlossen: Seit langem kennt man Veränderungen des Glaskörpers, die zu einer massiven Herabsetzung der Sehschärfe bis zur Erblin- dung führen. Hierher gehört die Hornhautdystrophie als Folge einer Operation des grauen Stars, bei der die vor- dere Glaskörpergrenzmem- bran einreißt und daher Glas- körpergewebe die Vorder- kammer ausfüllt, das die Hornhautrückfläche berührt.
Von ihrer allgemeinen Bedeu- tung her aber fallen Glaskör- perblutungen und Glaskör- perschwarten, vor allem im Rahmen der diabetischen Re- tinopathie, viel mehr ins Ge- wicht. Diese Erkrankung ist zur häufigsten Erblindungsur- sache bei den Erwachsenen der Industrieländer gewor- den: In der Bundesrepublik sind aufgrund einer diabeti- schen Retinopathie und ihrer Folgen rund 7000 Menschen beiderseits erblindet. Die Zahl der praktisch Blinden liegt wesentlich höher. Aber auch traumatische Glaskörpertrü- bungen und Glaskörperproli- ferationen, besonders solche nach intraokularen Entzün- dungen mit nachfolgender
Netzhautablösung, führen häufig zur Erblindung.
Bis vor relativ kurzer Zeit galt der Glaskörper als operatives Tabu, und es hat lange gedau- ert, bis man sich systematisch mit seiner chirurgischen Be- handlung befaßte. Ende der 60er Jahre begann Kasner, Glaskörper routinemäßig aus der Vorderkammer zu entfer- nen. Er benutzte dabei den Weg der sogenannten „open- sky"-Technik, das heißt, er klappte die etwa in der halben Zirkumferenz eröffnete Horn- haut auf, saugte das verlager- te Glaskörpergewebe an und trug es ab. Dieses Vorgehen wird auch erfolgreich im Rah- men der Versorgung frischer perforierender Verletzungen angewandt. Damit läßt sich aus der Vorderkammer und aus dem Glaskörper das zer- störte Gewebe entfernen. Al- lerdings hat dieser Zugangs- weg bestimmte Nachteile: Die Vorderkammer muß relativ breit eröffnet werden, was zu einem starken Absinken des Augeninnendrucks führt. Da- mit ist die Gefahr frischer Blu- tungen gegeben. Auch kön- nen bei der mit der Absau- gung einhergehenden Trak- tion an der Glaskörperbasis Einrisse in der Netzhaut ent- stehen.
Einen großen Fortschritt be- deutete es daher, als Mache- mer 1968 die geschlossene Pars-plana-Vitrektomie ein- führte. Bei ihr wird durch eine kleine Öffnung im hinteren Zi- liarkörperbereich ein Instru- ment in den Glaskörperraum eingeführt, das gleichzeitig getrübtes Glaskörpergewebe
ansaugt und Glaskörpersträn- ge durchtrennt. Für eine ge- zielte Operation dieser Art ist das Aufrechterhalten eines gleichmäßigen Druckes im Augeninnern notwendig. Dies wird durch permanente Infu- sion mittels des gleichen In- struments oder mittels einer zweiten dünnen Kanüle er- reicht. Nach dieser Methode kann im Glaskörper bei nor- malem Augeninnendruck län- gere Zeit operiert werden.
Selbstverständlich handelt es sich um Eingriffe an speziel- len Operationsmikroskopen mit Zoorhoptik. Bei modernen Einrichtungen ist durch be- sondere technische Entwick- lungen eine sehr exakte Füh- rung der Instrumente im Au- geninnern möglich geworden (Spitznas).
Überraschend war zunächst die Tatsache, daß das entfern- te Glaskörpergewebe durch spezielle Flüssigkeiten, die vom Auge in der Regel gut vertragen werden, relativ leicht ersetzt werden kann.
Natürlich ist eine solche Ope- ration nicht ohne Risiko. Das Instrument wird etwa 4 Milli- meter vom Hornhautrand ent- fernt in den Glaskörperraum eingeführt. Man muß sich da- bei vor einer Linsenverletzung hüten. In unübersichtlichen Situationen ist eine Traumati- sierung der Netzhaut nicht ausgeschlossen.
Moderne Instrumente sind re- lativ teuer; auf Grund ihrer Feinheit und Präzision ist ihre Wartung und Pflege äußerst diffizil. Manche Geräte vertei- len die Funktionen des Sau-
44 Heft 10 vom 11. März 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin,
EDITORIAL gens, Schneidens, der Infu-
sion und der Beleuchtung auf zwei oder mehr Instrumente, die jeweils einen Durchmes- ser von etwa 1 Millimeter ha- ben. Dies erleichtert ein scho- nendes mikrochirurgisches Arbeiten. Das eigentliche Vi- trektom saugt Glaskörperge- webe ab und durchschneidet durch rotierende, oder besser durch wippende Bewegungen gleichzeitig die Stränge. Auch mit scherenartigen Instru- menten können Strangbildun- gen durchtrennt werden. Eine Faseroptik beleuchtet das Au- geninnere unter mikroskopi- scher Aufsicht.
Da die Pars-plana-Vitrektomie schwierig ist und besondere Ausbildung und Erfahrung er- fordert, sollte sie vorerst nur von Ärzten vorgenommen werden, die entsprechende Voraussetzungen mitbringen.
Ursprünglich wurde die Vi- trektomie zur Entfernung von Glaskörperblutungen einge- setzt. Diesen Veränderungen liegen häufig vor der Netzhaut gelegene Proliferationen zu- grunde. Um eine Besserung des Zustandes zu erreichen, werden Strangbildungen und Blutungen in derselben Sit- zung angegangen. In den nicht seltenen Fällen, in de- nen gleichzeitig auch noch ei- ne Netzhautablösung oder ein Netzhautloch versorgt werden müssen, können überdies im Rahmen der Vitrektomie durch Kryosonden, Diather- miesonden und (bzw. oder) Fotokoagulatoren bereits ab- gehobene bzw. gefährdete Netzhautareale an der Unter- lage fixiert werden.
Bei der besonders häufigen, sehr oft proliferierenden dia- betischen Retinopathie kommt es zu einer allmähli- chen Kontraktion des Glas- körpers, wobei an dessen Rückfläche proliferierte Gefä- ße von der Papille oder Netz- haut mit abgehoben werden.
Da diese Gefäße einer zuneh- menden Zugwirkung unterlie- gen, können Blutungen und Netzhautablösungen auftre- ten. Zudem entwickeln sich neugebildete Gefäße und Pro- liferationen an der Netzhaut- vorderfläche und -rückfläche.
Die Vitrektomie beseitigt schrumpfende Strangbildun- gen dadurch, daß nach Ent- fernung des blutig durchsetz- ten, kontrahierten Glaskör- pers die Basis der Glaskörper- anheftungsstellen an der Netzhaut umschnitten wird, so daß keine Zugwirkung mehr vorhanden ist. Vor der Retina liegende Kontraktions- membranen werden ebenfalls durchtrennt. Man setzt hierbei auch feine scherenartige In- strumente ein, die ein zugfrei- es Schneiden erlauben. Dabei muß man sehr behutsam ar- beiten, denn die Netzhaut des Diabetikers ist besonders empfindlich. Bei stärkeren Manipulationen besteht die Gefahr von Netzhautrissen.
Das für die proliferierende diabetische Retinopathie Ge- sagte gilt genauso für Glas- körperveränderungen nach perforierenden Verletzungen oder solche im Rahmen der Periphlebitis retinae.
Darüber hinaus lassen sich durch eine Vitrektomie die an- geborene Katarakt bei Klein-
kindern, traumatische Kata- rakte sowie in den Glaskörper luxierte Linsen besonders schonend entfernen. Die äu- ßerst schwierige Extraktion amagnetischer Fremdkörper aus dem Augeninnern (Hei- mann) wird durch die Pars- plana-Vitrektomie ebenso er- leichtert wie die Beseitigung von Parasiten aus dem Glas- körper (Benson u. Mitarb.) oder die Behandlung der re- trolentalen Fibroplasie (Ma- chemer). Die neuen Entwick- lungen erweitern das Indika- tionsspektrum der Vitrekto- mie auch auf solche Fälle, die bisher als hoffnungslos einge- stuft werden mußten.
Literatur
Benson, W. E.; Fischer, D.; Irvine, A. R.;
Belmont, J.: Vitrectomy in Parasitic Infec- tions, Acta 24, Internat. Congr. Ophthalm.
San Francisco, 31.10.-6. 11. 1982 (im Druck) — Heimann, K.: Surgery of compli- cated (retained) intraocular foreign bodies, Acta 24, Internat. Congr. Oph- thalm. San Francisco, 31. 10.-6. 11. 1982 (im Druck) — Machemer, R.; Buettner, H.;
Norton, E. W. D.: Vitrectomy, a pars plana approach, Trans. Amer. Acad. Ophthalmol.
Otolaryngol. 75 (1971) 813 — Machemer, R.;
Parel, J. M.; Buettner, H.: A new concept for vitreous surgery I. Instrumentation, Amer. J. Ophthalm. 73 (1972) 1 — Machemer, R.: A new concept for vitreous surgery li, Surgical technique and compli- cations, Amer. J. Ophthalm. 74 (1972) 1022
— Machemer, R.; Norton, E. W. D.: A new concept for vitreous surgery III, Indications and results, Amer. J. Ophthalm. 74 (1972) 1034 — Machemer, R.: Vitrectomy, a pars plana approach, Grune & Stratton, New York 1975 — Machemer, R.; Aaberg, T. M.:
Glaskörperchirurgie, Vitrektomie, Huber, Bern 1981 — Machemer, R.: Closed vitrec- tomy in retrolental Fibroplasia, Acta 24, Internat. Congr. Ophthalm. San Francisco, 31.10.-6. 11. 1982 (im Druck) — Spitznas, M.: A motorized teleguided stereotactic micromanipulator for vitreous micro- surgery, Archives of Ophthalm. (Chicago) (im Druck)
Professor Dr. med. Dr. h. c.
Wolfgang Straub Direktor der
Universitäts-Augenklinik Robert-Koch-Straße 4 3550 Marburg
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 10 vom 11. März 1983 47