AI-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad in
den Jahren 812/13*
Von Gerhard Hoffmann, Leipzig
Bereits fünfzig Jahre nach Gründung der Abbasidenhauptstadt
durchlebten Bagdad und seine Bevölkerung kritische Zeiten. Be¬
lagerung und Bombardements, Blockade, Hunger und Teuerun¬
gen, Feuersbrünste und Plünderungen, ständige Scharmützel und
gelegentliche Schlachten - all dies verbunden mit zunehmender
Massenflucht - markierten in den Jahren 812/13 die Schlußphase
der Auseinandersetzungen um die Herrschaft im Kalifat zwischen
den Söhnen von Härün ar-Rasid, Muhammad al-Amin und 'Abd¬
alläh al-Ma'mün.
Mit diesem Knotenpunkt in der Entwicklung des frühen Abba¬
sidenkalifats sind Probleme vielschichtiger Natur verbunden. Sie
betreffen Motive der Nachfolgeregelungen Härüns und des Stur¬
zes der Barmakiden; die Frage, ob sich in dieser Zeit ein wie
immer zu definierendes „Arabertum" gegen iranischen Machtzu¬
wachs aufbäumte; die Bestimmung von Etappen in der Ausein¬
andersetzung zwischen al-Amin und al-Ma'mün, u.a. ob und wie
lange ernstgemeinte politische Lösungsversuche beider Seiten exi¬
stierten und wann die militärische Option die Oberhand gewann.
Der militärische Ablauf schließt Fragen von Rekrutierung, Stär¬
ke, Struktur und Loyalitäten der jeweiligen Kontingente, nach
ihrer Kampfkraft und ihrem Unterhalt ein. Damit aber stehen
schließlich die Rolle des ahi Bagdäd, der Bevölkerung der Haupt¬
stadt oder deren 'ämma/ 'ayyärün, ihr Charakter als „Sturmtrup¬
pen des Volkswiderstandes gegen die khorasanische Armee"' zur
Diskussion.
* Erweiterte Fassung eines Vortrages auf dem 25. Deutschen Orientalistentag in München, April 1991.
' Sabari, S.: Mouvements populaires d Bagdad d I'epoque 'abbasside IX^-XP siecles, Paris 1981, S.77.
Mit der Nachfolgeregelung von Mekka im Jahre 802 hatte
Härün ar-Rasid wohl im Sinn, angesichts der westlich wie östlich
erstarkenden Autonomiebestrebungen im Kalifat die Autorität
seiner Famihe in den Provinzen zu verankern und diese gleich¬
zeitig gegen alidische wie abbasidische Gegenspieler zu sichern.
Ihn damit zumindest teilweise für späteren Bürgerkrieg und Des¬
integration verantwortlich zu machen^ bleibt sicher umstritten.
Zurückdrängung und Sturz der Barmakiden, Minderung des Ein¬
flusses ihrer kuttäb sowie Zerstreuung oder Auflösung der in Bag¬
dad ursprünglich 20000 Mann umfassenden barmakidischen
'Abbäsiya-Truppen^ stärkten die Positionen der Kalifen-wawä/f
nach dem Tode Härüns im Jahre 809 unter der „grauen Emi¬
nenz"" des Amin, al-Fadl b. ar-Rabi''. Andererseits festigte der
Barmakidenprotege al-Fadl b. Sahl bei al-Ma'mün in Khorasan
seine Stellung.
Eine solche sichtliche Polarisation förderte zweifelsohne die
Auffassung von einem nunmehr aufbrechenden „Antagonismus
zwischen Iraniern und Arabern" als Leitmotiv der Auseinander¬
setzung^. Schon 1928 hat aber F. Gabrieli auf die Fragwürdigkeit
einer Gegenüberstellung von „Arabertum" und „Persertum" auf¬
merksam gemacht und dabei die angeblich „arabischen" Neigun¬
gen al-Amins, verglichen etwa mit jenen der Umayyadenkalifen
und -emire als irrelevant charakterisiert*.
Denn in den Auseinandersetzungen zwischen den Söhnen
Härüns verliefen selbst die geographischen Trennlinien nicht zwi¬
schen „Iran" und „arabischem Zentrum". Großkhorasan bis Rayy
stand dem Irak mit Fars und Khuzistan gegenüber, Syrien, Ägyp¬
ten und der Hidjaz wechselten die Fronten. Darüber hinaus wa¬
ren sogar innerhalb prominenter arabischer Familien die Loyali-
2 Vgl. Omar, F.: HÄRIJN AR-RASHID, in: EI^ Bd.III, 1966, S.241 ; derselbe:
al-'Abbäsiyün al-awä% Teil II, Bagdad 1392/1973, S.227f.
' Vgl. at-Tabari, Muhammad b. Garir: K. Ahbär ar-rusul wabmulük, Ed. M.J.
DE Goeje u.a., Leiden 1879-1901, Bd.III, S.629, 631 ff.; Lassner, J.: The Shaping of 'Abbäsid Rule, Prineeton, N.J. 1980, S.2I3, 270-271, Anm. 18; Kennedy, H.:
Tlie Early Abbasid Caliphate, London 1981, S. 120f
So: T.Nagel: Das Kalifat der Abbasiden, in: Haarmann, U. (Hrsg.), Geschich¬
te der arabischen Welt, München 1987, S. 123.
' V. Grunebaum, G.E.: Der Islam in seiner klassischen Epoche 622-1258, Zü¬
rich/Stuttgart 1966, S. 121.
' Gabrieli, F.: La successione di Härün ar-Rasid e la guerra fra al-Amin e al- Ma'mün, in: RSO 11 (1928), S.353, Anm. 2.
Al-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 29
täten deutlich gespalten. So soHte sich Huzaima b. Häzim, Mili¬
tärführer in Bagdad, als khorasanorientiert erweisen; Hätim,
Sohn des bedeutenden Feldherren Härüns und al-Ma'müns, Har-
tama b. A'yan, war zeitweilig Gouverneur al-Amins in Ägypten;
Söhne von al-Musayyab, Zuhair und al-'Abbäs, nahmen promi¬
nente Posten im Militär des Ma'mün ein, ihr Bruder Muhammad
beim Amin; von den Nachfahren des berühmten abbasidischen
Militärführers Qahtaba b. Sabib b. at-Tä'i stand zumindest einer
für al-Ma'mün, andere behaupteten sich in Bagdad'.
Das von al-Fadl b. ar-Rabi' gezielt geschürte Streben al-Amins,
für sich und seinen Sohn Müsä die Macht nicht nur gegenüber
al-Ma'mün, sondern auch gegenüber seinem anderen Bruder und
designierten Ma'mün-Nachfolger Qäsim b. Härün und dessen Er¬
zieher 'Abd al-Malik b. Sälih im gesamten Kalifat zu sichern, traf
in den Jahren 809 bis 813 auf die erfolgreiche Gegenoffensive
al-Ma'müns. Die persönlichen Ziele aller Seiten waren untrenn¬
barer Teil des Widerspruches zwischen kalifaler Zentralisation
und regionalem Autonomismus. Dieser Widerspruch existierte
auch nach dem Sieg al-Ma'müns fort und fand erst in zunehmen¬
dem Ausbau des Regionalismus eine längerfristige Lösung. In der
,Jitnat al-Amin"^ kamen also durchaus auch bisherige soziale und
politische Spannungen zum Tragen'.
Daß in diesem Widerspruchsgeflecht in den Jahren 809 bis 813
militärische Kräfte unterschiedlichster Provenienz und wechseln¬
der Loyalitäten eine ambivalente Rolle spielten, mag ein Blick auf
die Etappen der Auseinandersetzung verdeutlichen.
Wenn al-Amln und seine Berater tatsächlich die Hoffnung ge¬
hegt hatten, mit politisch-diplomatischen Mitteln den Ma'mün
nach Bagdad zu bewegen und gleichzeitig große Teile von Härüns
Militär und Schatz, die nach seinem Tode in Khorasan verblieben
waren, zurückzuerlangen, so scheiterte dies bereits bis Ende 810.
Al-Ma'mün bestand unter al-Fadl b. Sahls Einfluß auf seinen
Rechten, verwies auf die Kosten der andauernden Kämpfe gegen
' Diese und andere Belege zusammenfassend: Rekaya, M.: AL-MA'MÜN, in:
El\ Bd. VI, 1987, S.31 7.
» So: Hiläl as-Säbi': Rusüm där al-hiläfa, Ed. M.'Awwäd, Bagdäd 1964, S.I8, 29, 39.
' Vgl. Lewis, B.: 'ABBASIDES, in: EI^, Bd.l, I960, S.18f; zu schematisch allerdings: Shaban, M.A.: Islamic History. A New Interpretation, Bd.II, A.D.
750-1055 (A.H. 132-448), Cambridge 1976, der S.41 die abnä'a\s „Reaktionäre"
den Leuten aus dem Osten als „Fortschrittler" gegenüberstellt.
den rebellierenden Räfi' b. Lait, schnitt die feanrf-Verbindungen
des Kalifen ab und verstärkte gleichzeitig sein Informationssy¬
stem in Bagdad'".
Nachdem Amins Sohn Müsä im November 810 zum Thronfol¬
ger ernannt und der in Khorasan seit seiner dortigen rigorosen
Amtsführung verhaßte, von Härün inhaftierte und nunmehr frei¬
gelassene 'All b. 'Isä b. Mähän zum Gouverneur aller östlichen
Provinzen bestallt worden war, schien der Weg zur militärischen
Konfrontation unumkehrbar. Al-Ma'mün hatte sich seit Ende 809
darauf vorbereitet, als er durch Härüns amir Hartama b. A'yan
eine ehrenvolle Unterwerfung des Räfi' b. Lait erreichte und sich
um Frieden mit turkstämmigen Fürsten des Ostens bemühte. Für
die Grenzstadt Rayy verlieh er das Kommando über Chorasaner
und mittelasiatische Söldner" an Tähir b. al-Husain aus Bushang,
Angehöriger einer dehqän-¥dimWie wahrscheinlich arabischen Ur-
sprungs'^ Prominente Militärs wie 'Abdalläh b. Mälik standen
jedoch noch immer gegen al-Fadl b. Sahls schroffen Kurs. 'Abd¬
alläh b. Humaid b. Qahtaba und Asad b. Yazid b. Mazyad zogen
gar zu al-Amin'd Aber auch in Bagdad stieß die militärische Op¬
tion von 'Ali b. 'Isä und al-Fadl b. ar-Rabi' auf Opposition pro¬
minenter Militärführer wie Huzaima b. Häzim und dessen Bruder
'Abdalläh'".
So stand im Mai 811 eine inkonsistente Truppe von 40000
Mann aus abnä'' ad-daula („Söhnen der Dynastie") unter 'Ali b.
'Isä und Stammeskriegern unter Abü Dulaf b. Qäsim b. 'Isä al-
'Igli den nur 5000 Söldnern Tähirs gegenüber. Nach dem frühen
Tode des 'AH in der Schlacht ohne fähigen Kommandeur geblie¬
ben, zerstreute sich jedoch diese Truppe rasch. Bei den abnä^
ad-daula, die sich nach at-Tabari als „'arab" im Gegensatz zu
'agam und a'räb verstanden'^, handelte es sich wohl um mehr
oder minder stark arabisierte Söldner, Nachkommen der ersten
at-Tabari, Bd.III, S. 782 ff.
" Bei M.A.Shaban, Bd.II, S.4I allerdings auch (khorasanische?) 'Abbäslya- Truppen der Barmakiden.
'2 Vgl. Kaabi, M.: Les origines tähirides dans la da'wa 'abbäside, in: Arabica, XIX (1972), S. 145-164 mit Bezug aufdie Abstammung vom Huzä'a-Stamm.
" at-Tabari, Bd.III, S.790.
'* ad-Dinawari, Abü Hanifa: al-Ahbär at-tiwäl. Ed. 'A. 'Ämir, G. as-Sayyäl, Kairo 1960, S.396; at-Tabari, Bd.III, S.809.
" at-Tabari, Bd. Iii, S.829; vgl. Töllner, H.: Die türkischen Garden am Kali- fenhof von Samarra, Walldorf-Hessen 1971, S.22.
Al-Amin, al-Ma^mün und der „Pöbel" von Bagdad 31
khorasanischen Truppen der Abbasiden, die nunmehr Bagdad als
Khorasan des Irak bezeichneten'*. Ihren deutlich militärischen
Charakter - im Unterschied zu den abnä'ad-da'wa" - hat J. Lass¬
ner zu Recht betont". Nach Rayy wurde dem Ma'mün in Kho¬
rasan als Kalifen gehuldigt. Ein Pamphlet des neuen Kalifen mit
der Aufforderung an Führer seines Heeres, den von Gott auser¬
sehenen rechtmäßigen Herrschern zur Macht zu verhelfen, ver¬
schärfte das Unbehagen in Bagdad'*.
Hatte Tähir in Rayy auf die kriegsunwillige Haltung der Stadt¬
bevölkerung Rücksicht nehmen müssen, kam ihm dieselbe der
Einwohner Hamadans entgegen, auf das er nunmehr in Eile über
die Zagros-Pässe zog. Die Bevölkerung Hamadans zwang nämlich
den amir 'Abd ar-Rahmän al-Abnäwi zur Aufgabe, seine abnä'
wurden bei Asadäbäd mit Mühe geschlagen, er fiel, und Tähir
konnte in der Gegend von Hulwän sein Winterquartier aufschla¬
gen. Ein beträchtliches Kontingent aus angeblich 20000 abnä'
und ebensovielen Stammeskriegem, im Herbst 811 von al-Fadl b.
ar-Rabi' auf den Weg geschickt, kam bis Khaniqin und zerbrach,
ohne auf den Feind zu treffen, an alten Differenzen zwischen
Stammeskriegern und privilegierten abnä', geschürt von Agenten
des Tähir. Al-Fadl b. ar-Rabi' floh in dieser Zeit in ein Versteck,
al-Amin stand ohne seine bisherigen Berater allein".
Eine folgende Etappe bis April 812 umfaßte den gescheiterten
Versuch al-Amins, in Syrien neue arabische Stammeskrieger zu
gewinnen; den Ausbau der Positionen des Ma'mün durch Trup¬
pen unter Hartama b. A'yan; die Einnahme von Ahwäz, Wäsit,
Kufa und Basra durch Tähir bzw. die Übergabe an ihn; die An¬
erkennung al-Ma'müns in Mosul, Ägypten und dem Hidjaz mit
der hutba für den neuen Kalifen in Mekka und Medina. Ein
Putsch von abnä' in Bagdad und ein Gegenputsch anderer abnä'
brachte im April 812 eine zweitägige Gefangenschaft al-Amins
und kurzzeitige Anerkennung des Ma'mün in Bagdad.
Bemerkenswert in dieser Etappe scheint, daß der Versuch, Kal-
biten und Zawäqil (Qaisiten) aus Syrien und der Djazira durch
" Vgl. J. Lassner, S. 132.
" Ebenda, S. 131; M.A.Shaban, Bd.II, S.30 setzt abnä' ad-daula mit abnä' ad-da'wa gleich und sieht beide als voll in die Handelsgeschäfte Bagdads inte¬
griert an.
Dazu: Nagel, T.: Rechtleitung und Kalifat, Bonn 1975, S. 140 ff.
" at-Tabari, Bd.III, S. 833 ff.
den aus der Haft entlassenen Abbasiden 'Abd al-Malik b. Sälih
zu gewinnen, sowohl an deren inneren Differenzen als auch am
Widerstand von al-Husain, Sohn von 'All b. 'Isä b. Mähän, schei¬
terte, der mit seinen abnä' nach Niederschlagung einer pro-
umayyadischen Revolte in ar-Raqqa stationiert war^°. Zuerst ent¬
fernten sich die Kalbiten, dann machten sich die Zawäqil nach
Verlusten in Auseinandersetzungen mit den abnä' in Richtung
Nordsyrien auf, 'Abd al-Malik starb und al-Husain b. 'Ali zog
schließlich gen Bagdad.
Hinsichtlich des Putsches der abnä' unter al-Husain b. 'Ali,
den dieser mit den Bemühungen des Amin um die Zawäqil und
damit dem Verrat an den abnä' begründete, der also von Furcht
der abnä' um den Verlust ihrer privilegierten Stellung getragen
war^', steht nach wie vor die Frage von Differenzen - auch topo¬
graphischer Natur - zwischen den Kontingenten der abnä'.
H. Kennedy hat für die interessante Überlegung, daß es sich bei
den abnä' des Husain um Truppen aus Ostbagdad ('Askar
Mahdi, ar-Rusäfa) handelte, deren Führung von den abnä' aus
Westbagdad (Harbiya) nicht akzeptiert wurde^^ keine schlüssigen
Beweise. Nach at-Tabari traf al-Husain b. 'Ali im Westen beim
Bäb Huräsän und beim Huld-Palast, dessen Gefolge sich am
Putsch beteiligte, auf „huyül min al-a'räb wa-gairihim" und erst
nach dem Erfolg auf die abnä' aus Harbiya^d Bei seiner Ab¬
schiedsrede 813 vor einer Gruppe von abnä' soll al-Amin diesen
ohne Unterschied vorgeworfen haben, daß sie mit al-Husain b.
'AH gegen ihn rebelliert hätten^". Hinsichtlich der Garnisonen auf
dem Ostufer bleiben Unklarheiten. Von al-Mansür im Jahre 768
für seinen Nachfolger al-Mahdi begonnen, entwickelte sich der
'Askar Mahdi rasch zur Residenz des neuen Kalifen (ar-Rusäfa)
mit Palast, großer Moschee, qatä'f und Häusern für al-Mahdi
und seinen aus Khorasan gekommenen Anhang, vor allem seine
" Fragmenta Historicorum Arabicorum (Bd.3 des K. ab'Uyün wal-hadä'iq ß
ahbär al-haqä'iq). Ed. M.J. de Goeje und P. de Jong, Leiden 1871, Nachdruck Bagdad o.J., S.328;), zu deren deutlicher Bindung an al-Baläduri: Muranyi, M.:
Al-Baläduris Ansäb al-asräf und das kitäb al-'Uyün wal-hadä 'iqß ahbär abhaqä 'iq (Bd HJ), in: ZDMG 129 (1979), S. 98-101; at-Tabari, Bd.III, S. 841 ff.
" Vgl. at-Tabari, Bd.III, S.847.
" H.Kennedy, S.144.
" at-Tabari, Bd.III, S.846f.
" at-tabari, Bd.III, S.931f.
Al-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 33
mawäli^^. Der Bericht at-Tabaris aber, daß al-Mansur mit Anlage
des 'Askar Mahdi gleichzeitig eine Truppentrennung großen Stils
zum Erhalt der Balance zwischen verschiedenen arabischen Stam¬
mesgruppierungen erreichte - Grundlage offenbar späterer Über¬
legungen zu Divergenzen zwischen den Truppen in Ost- und
Westbagdad -, ist nach J. Lassner wegen deutlicher Anachronis¬
men kaum glaubwürdig^*.
Auf jeden Fall vertieften Putsch und Gegenputsch aber eine
Spaltung unter den abnä \ deren Harbiya-Kommandeur Muham¬
mad b. Abi Hälid aus einer prominenten Militärfamilie vor seinen
Leuten die Großzügigkeit Amin'scher Truppenpolitik beschwor.
Zusammen mit der 'ämmat ahi al-arbäd, dem Volk der Vorstädte,
brachte er den Amin in die Rundstadt und installierte ihn wieder
auf dem Thron". Aus dieser Zeit stammt also der erste Hinweis
auf eine Intervention städtischen Volkes, noch fest einbezogen in
die Aktionen von abnä"".
Zwischen Juni und August 812 näherte sich Tähir nach Einnah¬
me von al-Madä'in der Kalifenstadt von Süden. Er kampierte
zunächst am Nahr Sarsar, bis er schließlich den Garten am
Anbär-Tor nördlich von Harbiya zu seinem Lager wählte. Nun¬
mehr gruppierte al-Amin seine Kräfte in jener Gestalt um, die in
der folgenden Belagerungszeit weitgehend erhalten blieb. Er ver¬
teilte an Kommandeure aus der 'ämma und an angeblich 5000
Söldner (agnäd), die trotz des Sieges von Hartama über 'Ali b.
Muhammad b. Nahik wegen der materiellen Anreize aus den Rei¬
hen Tähirs übergelaufen waren, Geld und gäliya-Farfüm für die
Bartpflege (die quwwäd al-gäliya - „Parfümgenerale")^*. Einige
Harbiya-Kommandeure" waren über die Bevorzugung dieser
neuen Soldaten {muhdatün) so verärgert, daß sie ihrerseits zu
Tähir desertierten, der Bestechungen zahlte und die Kontrolle
über das Harbiya-Viertel übernahm^".
" Vgl. Le Strange, G.: Baghdad During the Abbaside Cahphate, Oxford 1924, S. 187ff ; H. Töllner, S.30 f.
" J. Lassner, S.217f ; akzeptiert aber von G. Le Strange, S.187 und Duri,
A.A., BAGHDÄD, in: El^ Bd.l, S.923.
" at-Tabari, Bd.III, S.849; vgl. Fragmenta, S.329: „rigäl wa-'awämm".
" at-fabarl, Bd.III, S.866; Fragmenta, S.332.
" at-Tabarl, Bd.III, S.866; aber nicht Muhammad b. Abi Hälid, den H.Ken¬
nedy, S. 145 anführt.
" at-Tabari, Bd.III, S.867; Ta'rih, halifa Ibn Hayyät, Teil II, Ed. S. Zakkär, Damaskus 1968, S.756.
Die Etappe der Belagerung Bagdads durch Tähir im Westen
und Norden, Hartama b. A'yan, von Hulwän gekommen, im
Osten und Zuhair b. al-Musayyab mit weniger Leuten, dafür aber
wirkungsvollen Belagerungsgeräten {magäniq und 'arrädät) auf
Booten^' im Süden des östlichen Bagdad erstreckte sich von Au¬
gust 812 bis Oktober 813.
Die Verteidigung der Stadt lag nunmehr in den Händen von
verbliebenen abnä \ dem „Pöbel", der 'ämma, desertierten Tähir-
Söldnern {musta'mina) und anderen kleineren militärischen Kon¬
tingenten. Als Anführer des „Pöbels", der nunmehr von befreiten
Gefängnisinsassen {ahi as-sugün) Zulauf erhielt^^ tauchen in den
Quellen die bis dahin unbekannten Hätim b. as-Saqr in Ost- und
al-Hasan al-Hirs in Westbagdad auf. Daneben setzte aber al-
Amin weiter auf abnä'- und iwr/a-Kommandeure wie Muham¬
mad b. Abi Hälid, Muhammad b. 'Isä b. Nahik, Huzaima b.
Häzim, wobei sich letzterer allerdings schon vor seiner Desertion
zurückhielt.
Der Widerstand erwies sich, je länger die Belagerung andauer¬
te, als immer mehr aussichtslos. Al-Amin mußte all seine Schätze
zur Löhnung der verschiedensten Truppen opfern, dem „Pöbel"
schließlich die Plünderung der Begüterten gestatten. Die Märkte
wurden geschlossen, die Preise stiegen ins unermeßliche. Für ei¬
nen Dirham sollen im Tähir-Gebiet 20 rati Brot, im Amin-Gebiet
1 rati verkauft worden sein". Eine von Tähir zunehmend enger
gezogene Blockade, auch für Transporte auf dem Tigris, zeigte
deutlich Wirkung. Zahlreiche einflußreiche Persönlichkeiten lie¬
ßen sich durch Druck und Erpressung bewegen, den Amin al-
mahlü' („den Abgesetzten") zu verlassen. Nach Verrat der Kom¬
mandeure an der strategisch wichtigen Hauptbrücke zwischen
West- und Ostbagdad im September 813 begannen die Bombar¬
dements auf den Huld-Palast des Amin. Dieser floh jetzt mit sei¬
nen letzen Getreuen in die Rundstadt al-Mansürs. Hier entschied
er nach kontroverser Debatte mit seinen Ratgebern, sich dem
Hartama, nicht dem Tähir zu ergeben. Tähir jedoch ließ das
Fluchtboot überfallen, den Amin im Oktober 813 von seinen Leu-
" Ta'rih al-Ya'qübi, Bd.II, Ed. Beirut 1379/1960, S.441.
" at-Jabarl, Bd.III, S.867; Fragmenta, S.332.
" al-Mas' üdi, 'Ali b. al-Husain: Murüg ad-dahab wa-ma'ädin al-gauhar, Teil III, Ed. Beirut O.J., S.407.
Al-Amln, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 35
ten ermorden^". Daß er dazu eindeutig von al-Ma'mün aufgefor¬
dert worden sei, behauptete allerdings wohl nur Ibn Hallikän^'.
An all diesen Ereignissen nahm die städtische Bevölkerung,
insbesondere ihre unteren Schichten, äußerst aktiven Anteil. Die
Quellen bieten, meist mit deutlichem Abscheu vor dem „Pöbel",
eine Fülle oft pejorativer Termini für diese Schichten, wie ra'iya
- „Herde", aubäs an-näs - „Auswurf der Menschen", 'ayyärün
- „Vagabunden", suttär - „Betrüger", du"är - „Straßenräuber", 'urät - „Nackte", sußa/sißa - „Untere", fagara - „Wüstlinge",
sufahä' - „Dreiste", fussäq - „Elende", bä'at at-tariq - „Stra¬
ßenhändler, Hausierer", ahi as-sugün „Leute der Gefängnisse",
at-tarrärün - „Beutelschneider", ahi as-süq - „Marktleute",
'awämm - „gemeines Volk", gaugä' - „Pöbel"^*.
Eine solche konzentrierte Fülle an Benennungen ist für spätere
Zeiten wohl kaum zu belegen.
Ziele und militärische Rolle des „Pöbels" werden bis in die
jüngste Zeit unterschiedlich bewertet Die Bandbreite der Auffas¬
sungen erstreckt sich von der Annahme, daß die unteren Schich¬
ten völlig in die regulären Truppen der abnä' und deren Militär¬
register einbezogen waren^', bis zu ihrer Charakterisierung als
alleinige Verteidiger der belagerten Stadt^*.
Bei allen Schwierigkeiten, das auch chronologisch nicht inimer
sichere Beziehungsgestrüpp innerhalb der Verteidiger Bagdads zu
durchdringen, dürfte es problematisch sein, abnä' und ahi Bag-
" Zum gesamten Verlauf: F.Gabrieli, S.341-397; H.Kennedy, S.135-150;
J. Lassner, S. 107 ff, M.A.Shaban, Bd.II, S.20ff., T.Nagel, Das Kahfat der Ab¬
basiden S.l 22 ff
" Ibn Khallikan's Biographical Dietionary, Übers. Mac Guckin de Slane, Paris I842-I871, Bd.l, S.649.
"at-Tabari, Bd.III, S.867, 872; Fragmenta, S.332f; al-Mas'üdi, S.402, vgl.
Cahen, C: Mouvements populaires et autonomisme urbain dans l'Asie musulmane du Moyen Äge, II, in: Arabica VI (1959), S.35ff.; vgl. Michajlova, J. B.: Roi' gorodskich ob-edinenij v social'no-politiceskoj zizni Bagdada X-XII w., in: Gosu- darstvennaja vlast' i obscestvenno-politiceskie struktury v arabskich stranach, Moskau 1984, S.l 9 ff
" Schon im Ta'rih al-Ya'qübi, S.44I finden die aubäs keine Erwähnung;
J. Lassner, S. 134; D. Pipes, Slave Soldiers and Islam, New Häven/London I98I, S. 179; M.A.Shaban, Bd.II, S.46 hält abnä', reiche Kaufleute und 'ayyärün für eine Partei.
" S. Sabari, S.57f, 77 f; C. Cahen, S.36; Duri, A.A., Arabische Wirtschaftsge¬
schichte, Zürich/München 1979, S.69.
däd zu identifizieren, die abnä'' - wie J. Lassner^' - als „profes¬
sional backstone" des ahi (Militär) von Bagdad zu bezeichnen,
oder sie - wie D. Pipes mit D. Avalon"" - als „core and nucleus"
des ahi Bagdäd anzusehen. Schon at-Tabari unterschied deutlich
zwischen abnä' als reguläre Einheiten und ahi Bagdad, hier be¬
waffneten Streitern städtischer Unterschichten"'. Die Quellen be¬
richten ebenso von gemeinsamen bewaffneten Aktivitäten der
abnä' - einschließlich der von Tähir übergelaufenen musta'mina
- und des „Pöbels", wie von getrennten Aktionen dieser Kontin¬
gente gegen Tähirs und Hartamas Truppen und schließlich auch
von Kämpfen gegeneinander"^.
Sicher ist dagegen allerdings, daß sowohl abnä' als auch „Pö¬
bel" als Fußkrieger stritten - bekannte kämpferische Qualitäten
der abnä', die noch al-Gähiz in den „Manäqib al-aträk" bei der
Charakteristik des typischen „banawi" rühmte"^ Dies wiederum
war offenbar ein Grund mehr für Tähir, seine Reiter lange Zeit
den offenen Straßenkampf meiden zu lassen, in seinem Lager
beim Anbär-Tor zu bleiben und vom Sarät-Kanal um die Gazira
'Abbäsiya den Tähir-Graben {handaq Tähir) auszubauen"". Die
vielfach erwähnte Episode"\ in der ein khorasanischer qä'id
Tähirs zu Pferde von einem 'ayyär, ausgerüstet mit verpichter
Schilfmatte {bäriya muqaiyara). Steinen im Beutel (hugar ji-
mihlät) und Schleuder {miqlä"), schmählich in die Flucht geschla¬
gen wurde und die 'ayyärün daraufhin als Teufel und ginn qua¬
lifizierte, hat in dieser Hinsicht durchaus exemplarischen
Charakter.
Für gewisse Verbindungen zwischen regulären Einheiten und
bewaffnetem „Pöbel" steht auch die erwähnte Bestallung von
quwwäd al-gäliya, den „Parfümgeneralen", aus Anführern der
'ayyärün und desertierten agnäd Tähirs. Weitere Bindeglieder
könnten der jeweilige sahib as-surta, Polizeichef, und ägyp¬
tisch/berberische „afäriqa", „Afrikaner" bei al-Amin gewesen
" J. Lassner, S.134.
" D. Pipes, S. 179.
" at-Tabari, Bd.III, S.849.
« at-tabari, Bd.III, S.883, 899, 901, 912; al-Mas'üdi, S.397, 404.
" Dazu: J. Lassner, S. 135.
" Daß er den Graben erweitert, nicht angelegt hat: G. Le Strange, S. 110.
« Fragmenta, S.334; at-Tabari, S.885; al-Mas'üdl, S.406; Ibn Miskawaih:
Tagärib al-umam, Teil VI, Ed. M.J. de Goeje, Leiden 1871, Nachdruck Bagdad
O.J., S.413.
Al-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 37
sein**. Anläßlich der Desertion des sähib as-surta Muhammad b.
'Isä zu Tähir konstatierte at-Tabarl, daß dieser früher mit den
afäriqa, ahi as-sugün und aubäs gekämpft habe'". Gelegentlich
finden auch gemeinsame Aktionen eines der quwwäd des „Pö¬
bels", al-Hasan al-Hirs, mit den afäriqa Erwähnung"*.
Auch Bewaffnung und militärische Struktur der Streiter aus
den unteren Schichten dürften nicht einheitlich gewesen sein.
Al-Mas'üdl gab ein beeindruckendes Bild von den nackt-bar¬
füßigen 'urät, der muttawi'a - Freiwilligen - aus niederem Volk:
mit Stöcken/Knüppeln {kaßrkubät), Steinbeuteln (mihäli l-
higära wal-ägurr) und Rohrlanzen {rimäh al-qasab) bewaffnet,
geschützt allein durch Helme und Schilder aus Palmblättern
(huwad al-hüs, daraq al-hasir wal-bawäri), sich sammelnd und
kämpfend unter Fahnen aus Stoffetzen {a'lä al-hiraq), Fanfa¬
ren aus Rohr {büqät al-qasab) und Rinderhörnern {qurün al-ba-
qar)'^'^. Dieses Bild bedarf allerdings zumindest der Ergänzung,
daß al-Amin jene ahi al-arbäd, mit deren Unterstützung er wie¬
der auf den Thron gekommen war, mit libäs und siläh verse¬
hen hatte und Teile der 'ayyärün auch später von ihm versorgt
wurden oder selbst solche Kriegskleidung und Waffen erbeute-
ten^o.
Der erst seit al-Mas'üdi zu findende Hinweis, wonach diese
„Nackten" mit einer Gliederung nach dem Dezimalsystem vom
'arif über 10, dem naqib über 100, dem qä'id über 1000 und
einem amir über jeweils 10000 Mann offizielle Militärstrukturen
nachahmten, bleibt beim Schweigen früherer Quellen wie auch
angesichts der desolaten Verhältnisse in Bagdad, die gewiß eine
solch straffe Organisation ausschlössen, anzuzweifeln^'.
Gegen „Diebe und Elende", die bei „rigäl wa-nisä'", bei
„du'afä' ahi al-milla wad-dimma"plünAerierv'^ , agierten gelegent-
" Eine Verbindung mit den schwarzen Eunuchengarden der girädiya und
guräbiya (at-Tabarl, Bd.III, S.950; D. Pipes, S. 145) muß nicht bestanden haben;
die Auflistung der ashäb as-surta im Ta'rih abYa'qübi, S.442 kann nicht vollstän¬
dig sein.
at-Tabari, Bd.III, S.881.
" at-fabari, Bd.III, S.873.
" ai-Mas'üdi, S.402, 407; Fragmenta, S.333; Ibn Miskawaih, S.41 2.
" at-Tabari, Bd.III, S.849.
" ai-Mas'üdi, S.403; übernommen von S. Sabari, S.78 und C. Cahen, S.36.
" Ibn Miskawaih, S.41 2.
lich abnä" unler Muhammad b. Abi Hälid, den al-Amin sogar mit dem Schutz der „Schwachen" vor dem „Pöbel" betraut haben soll".
Die bewaffneten „Nackten" erzielten - allerdings selbst bei al-
Mas'üdi mit Beteiligung anderen Militärs {al-^urät wa-gairuhum
min al-Muhammadiya^^) zeitweilig Erfolg in mindestens drei
größeren Auseinandersetzungen mit den Leuten des Ma'mün:
beim Qasr Sälih, im Sammäsiya-Viertel von Ostbagdad und in der
GazTra 'Abbäsiya im Westen.
Der kurze Gewinn beim Qasr Sälih mit Teilnahme von 'urät
min al-'ayyärin, bä'at at-turuq und agnäd^^ ist deshalb erwäh¬
nenswert, weil dieser nach dem Verrat des Schloßkommandeurs
und eines sähib as-surta errungen wurde und dem Tähir offenbar
schwerste Verluste brachte. Daraufhin befahl dieser die Schlie¬
ßung der Märkte des Handelsviertels von al-Karh, begann mit der
Zerstörung der Häuser seiner Gegner und forcierte eigene Vor¬
stöße. Al-Amin seinerseits erlaubte nunmehr die Plünderung der
Begüterten, überließ das Kommando vollständig dem Muham¬
mad b. 'Isä b. Nahik und dem Hasan al-Hirs und soll sich nur
noch seinen Vergnügungen überlassen haben^*.
In der Sammäsiya vertrieben die 'urät unter ihrem Anführer
Hätim b. as-Saqr den 'Ubaidalläh b. al-Waddäh, qä^id Tähirs,
und machten reiche Beute an Pferden, Waffen, Hab und Gut.
Dann schlugen sie die vorrückenden Entsatztruppen des Hartama
b. A'yan, die vom Lager am Nahr Bin kamen". Hartama wurde
von einem „Nackten" {'ärin) gefangengenommen, blieb aller¬
dings unerkannt und kam mit dem Verlust einer Hand davon.
Seine Truppen zogen sich jetzt in schneller Flucht bis Hulwän
zurück. Tähir ließ nunmehr eine Pontonbrücke über den Tigris
von Harbiya zum Gebiet nördlich von Sammäsiya bauen und ent¬
sandte eigene Leute, welche die Kontrolle über Ostbagdad zu¬
rückgewannen. 'Ubaidalläh und Hartama kehrten in ihre Stellun¬
gen zurück^*.
" at-Tabari, Bd.III, S.883.
" ai-Mas'üdi, S.409.
» at-Tabarl, Bd.III, S.881.
" at-tabarl, Bd.III, S.882, 887.
" at-tabari, Bd.III, S. 893 ff.
" at-tabari, Bd.III, S.896.
Al-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 39
Auf der Westseite des Tigris war die große Schlacht in der
Gazira 'Abbäsiya offenbar jene, in der nach al-Mas'üdi 100000
der 'urät kämpften. Nach anfänglichem Erfolg erlitten sie kata¬
strophale Verluste, etwa zehntausend wurden erschlagen oder
verbrannt bzw. ertranken in den Kanälen^'.
Trotz kurzzeitiger Positionsgewinne des „Pöbels" verschlechter¬
te sich die Situation in der belagerten Stadt zusehends. Dabei
zeigte sich immer klarer, daß die Loyalität all ihrer Verteidiger
von pünktlicher Löhnungszahlung und zusätzlichen Dotationen
abhing. Auf dieses Hauptinteresse des Militärs, regulären Sold
und Ausgleich für steigende Preise zu erlangen, hatte als gefähr¬
lich zunehmenden Trend schon Ibn al-Muqaffa' verwiesen*". Al-
Amin sah sich genötigt, seine Schätze zu opfern. Das Schwinden
seiner materiellen Ressourcen stärkte unter den abnä' die Bereit¬
schaft zur Desertion, bei den unteren Schichten mehrte es den
Drang, sich auf eigene Faust zu bereichern. Treue zum Kalifen
war für die Verteidiger unterschiedlichster Provenienz wohl kein
Motiv mehr. So beklagte sich al-Amin gegen Ende der Auseinan¬
dersetzung, alle „Verteidiger" hätten nur sein Vermögen, alle Op¬
ponenten sein Leben im Sinn, Allah möge deshalb beide vernich¬
ten*'. Und nach seinem Tode sollen sowohl der gund Tähirs als
auch der gund ahi Bagdäd das Ende verwünscht haben, weil
ihnen damit der Zugang zu weiterer Beute verschlossen wurde*^.
Tähir hatte die Widerstandviertel zur där an-nakt („Haus des
Eidbruches") erklärt*^ ein neben einigen Passagen in seinem Ab¬
schlußschreiben an al-Ma'mün bemerkenswert isolierter Versuch,
seine Aktivitäten islamisch zu legitimieren. Deutlich realer erwies
sich der Druck auf asräf, quwwäd der abnä' und Begüterte, mit
dem er durch Androhung der Konfiskation ihrer Domänen
{diyä') und deren Erträge außerhalb der Stadt diese zu Kapitu¬
lation und Desertion zu bewegen suchte. Eine solche Taktik hatte
um so mehr Erfolg, als, wie erwähnt, al-AmTn im belagerten Bag¬
dad ohnmächtig dem „Pöbel" Raub und Plünderung gestatten
" al-Mas'üdl, S.409; vgl. at-Tabari, Bd.III, S.901.
'° J. Lassner, S.I 12 f.; vgl. Goitein, S.D.: A Turning Point in tlie History ofthe Muslim State (A propos of the Kitäb al-Sahäba of Ibn al-Muqaffa'), in: Derselbe, Studies in Islamic History and Institutions, Leiden 1966, S. 149 ff.
" at-Tabari, Bd.III, S.902.
" at-fabari, Bd.III, S.924.
" Fragmenta, S.333; at-Tabari, Bd.III, S.872.
mußte. Hier standen sich nunmehr Muhammadiya-(Amimya-)
und Ma'müniya-Anhänger gegenüber, der Bruder tötete den Bru¬
der, der Sohn den Vater*". Zu Beginn der Belagerung hatte nach
al-Ya'qübi" durchaus ein freundschaftlicher Verkehr miteinan¬
der stattgefunden, etwa in den noch geöffneten Läden von al-
Karh. At-Tabari konstatierte interessante Ansätze einer eigenen
städtischen Verwaltung durch die Bevölkerung, so den Einsatz
von wukalä' in Gassen und den Vierteln um die Tore, in den
Vorstädten und dem Süq al-Karh sowie in den Häfen am Tigris**.
Zur Beruhigung der Lage dürfte aber diese Verwaltung nicht bei¬
getragen haben, größere Teile der Bevölkerung flohen vor den
Nöten von Blockade und Plünderung mit ihrem Hab und Gut in
den zugesagten amän Tähirs - auch unter dem Vorwand der Pil¬
gerfahrt*'.
Die verbliebenen Kaufleute von al-Karh distanzierten sich in
einem Schreiben an Tähir von dem „Pöbel". Diese Leute, schrie¬
ben sie, die Krieg gegen ihn führten, hätten keine Wohnsitze
{dür) in al-Karh, keinen Grundbesitz {'aqär), seien „Gauner"
{tarrär), „Schläger" {sawwät), entflohene Sträflinge {ahi as-su¬
gün), sie verbärgen sich in Bädern und Moscheen, die Kaufleute
{tuggär) unter ihnen seien nur gewöhnliche Straßenhändler und
Hausierer {bä'at at-turuq). Allah möge verhüten, daß einer der
(echten) tuggär gegen Tähir kämpfe. Die Kaufleute von al-Karh
hielten sich aber möglicherweise zurück, dieses Schreiben abzu¬
senden, weil sie im Falle der Information des „Pöbels" um Ver¬
mögen und Leben fürchteten**.
Trotz der zunehmend desolaten Zustände in der belagerten
Stadt wartete Tähir noch bis zum September 813 mit seiner Of¬
fensive umfassender Natur. Erst zu diesem Zeitpunkt begaben
sich nämlich der '-Kommandeur Häzim und der sähib as-
surta Muhammad b. 'AH b. 'Isä b. Mähän in den amän Tähirs.
Huzaima, der sich in den Kämpfen passiv gezeigt hatte, kontrol¬
lierte mit seinen Leuten die strategisch wichtige Hauptbrücke
" Fragmenta, S.332.
" Ta'rilji al-Ya'qübi, S.440f.
at-Tabari, Bd. III, S.883; ein früher qarmatischer Einfluß bleibt bei Wiet, G.:
Baghdad. Metropolis of the Abbasid Caliphate, University of Oklahoma Press 1971, S.31 ff unbewiesen.
" Levy, R.: A Baghdad Chronicle, Cambridge 1929, S.70ff.
at-Tabari, Bd.III, S.900; al-Mas'üdi, S.408; H.Kennedy, S.146, sieht diesen Brief als abgeschickt.
Al-AmTn, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 41
Über den Tigris. Diese konnte nunmehr zerstört werden, die Ver¬
bindung zwischen West- und Ostbagdad war abgebrochen. Die
Bevölkerung Ostbagdads ("Akar Mahdi, ar-Rusäfa, Sammäsiya)
blieb ruhig in Häusern und auf den Märkten. Hartama b. A'yan
rückte jedoch erst vor, als eine Abordnung ihm zusicherte, kei¬
nerlei Verwerfliches {makrüh) zu begehen*'.
Jetzt stieß Tähir massiv in Westbagdad vor, zerstörte die zwei
Steinbrücken über den Sarät-Kanal und attackierte al-Karh. Ein
Herold verkündete hier den amän für diejenigen Bewohner, die in
ihren Häusern blieben. Bombardements auf den Huld-Palast
zwangen nun den Amin, in der Rundstadt Zuflucht zu suchen. Mit
ihm zogen Hätim b. as-Saqr, al-Hasan al-Hirs, einige der quwwäd
al-abnä' und seines Gefolges. Auf dem Wege in den Palast al-
Mansürs verließen aber den Amin viele Angehörige der 'ämma
seines gund, auch gaugä ' und sußa zerstreuten sich™. Bemerkens¬
werte Widersprüche zwischen Militärführern des „Pöbels" und
Aristokraten in der Umgebung al-Amins traten erneut in den dra¬
matischen Beratungen über das weitere Vorgehen hervor.
Die Führer der aubäs, besonders Hätim b. as-Saqr - in interes¬
santem Einklang mit einem erst jetzt genannten Muhammad b.
Ibrähim b. al-Aglab al-lfriqi", möglicherweise von den afäri¬
qa / „Afrikanern" - rieten dem Amin, mit den verbliebenen 1000
(7000?) Pferden und ausgewählten 700 (7000?) aZ>«ä'" einen
nächtlichen Ausbruch in Richtung Djazira-Syrien, vielleicht sogar
Ägypten zu unternehmen und dort ein neues Heer zu formieren.
Aristokraten wie der Abbaside Sulaimän b. Abi Ga'far (al-
Mansür), Muhammad b. 'Isa b. Nahik, seit Qasr Sälih Chef der
abnä\ und as-Sindi b. Sähik, sähib as-surta und alter Vertrauter
von al-Fadl b. ar-RabI', sollen von Tähir mit Androhung der Kon¬
fiskation ihrer Domänen erpreßt worden sein. Sie beschuldigten
daher die Ausbruchswilligen als sa'älik - „Strolche", die allein
zum Ziel hätten, sich der Person des Amin zu bemächtigen und
für sich damit einen amän Tähirs zu retten".
" Fragmenta, S.335; at-Tabari, Bd.III, S.904f.; zur Freundlichkeit gegenüber al-Ma'mün in Ostbagdad: Ta'rih al-Ya'qübi, S.441.
Fragmenta, S.335; at-Tabari, Bd.III, S.906.
" at-Tabari, Bd.III, S.9il.
" 7ÖÖ Mann, 1000 Pferde, ohne Erwähnung Ägyptens: at-Tabari, Bd.III, S.9I1 ;
7000 Mann, 7000 Pferde mit Erwähnung Ägyptens: al-Mas'üdi, S.411.
" at-Tabari, Bd.III, S.9I2.
Al-Amin nahm schheßlich den Rat der Aristokraten zur Über¬
gabe an, plante allerdings eine Kapitulation vor Hartama, dem er
eher als dem Tähir vertraute. Er fand sein Schicksal aber durch
Leute Tähirs besiegelt, der nach at-Tabari von al-Hasan al-Hirs
über die Pläne des Amin informiert worden war'". Der Kopf des
Amin wurde am Tigris zur Schau gestellt, bevor der Leichnam zu
al-Ma'mün nach Khorasan gesandt wurde. Ein abschließendes
Schreiben Tähirs verwies auf die Entartung des Amin zur _/?/-
«a/„Bürgerkrieg", die schließlich sogar sein Gefolge und die An¬
hänger aus der Stadtbevölkerung veranlaßt hätten, sich gegen ihn
zu stellen. Sein Tod bedeute das Ende von fitna und fasäd''^.
Bagdad, insbesondere seine westlichen Viertel Där ar-Raqiq,
Bäb Huräsän, Bäb as-Säm, Bäb al-Küfa, dazu die Kanäle Sarät,
Karhäya und Kunäsa, war verwüstet'*, ein neuer Aufschwung
begann erst mit dem Einzug al-Ma'müns in der Stadt im Jahre 819.
Selbst nach dem Tode des Amin konnte sich Tähir der Loyalität
seiner khorasanischen Truppen nicht sicher sein. Nunmehr be¬
fürchtete er ein gemeinsames Vorgehen seines gund mit den „Leu¬
ten der Vorstädte" und den abnä'. Nur fünf Tage nach der Er¬
mordung des Amin rebellierten Teile seines gund wegen aus¬
gebliebenen Soldes {arzäq) und ließen dabei sogar den Sohn des
Ermordeten, symbolischer Anstoß der Differenzen zwischen den
Härün-Söhnen, mit dem Ruf „Müsä, ya Mansür!" hochleben.
Tähir glaubte an ein Zusammengehen der Rebellen mit dem ahi
al-arbäd und zog sich zunächst mit einigen quwwäd zurück, um
gegen die Rebellen mobil zu machen. Erst als ihm die suyüh ahi
al-arbäd und suyüh al-abnä' ausdrücklich versicherten, daß ihre
Leute ruhig geblieben wären und ihm Gehorsam leisteten,
schwanden seine Befürchtungen". Dazu kam, daß ein saih ahi
al-arbäd - Sa'id b. Mälik, einer der quwwäd des Amin, die zum
Feind übergelaufen waren'* - auf Anforderung dem Tähir 20000
Dinar geschenkt haben soll". Diese Summe diente zur Zahlung
der viermonatigen Löhnung, die Tähir den nunmehr reuigen Auf-
at-Tabarl, Bd.III, S.9I6; vgl. al-Mas'üdi, S.4II.
» at-tabari, Bd.III, S.926f.; Ta'rVj al-Ya'qübi, S.442.
" at-fabari, Bd.III, S.887; vgl. A.A. Duri, Baghdad, S.924.
" Ibn Miskawaih, S.416 f.; at-Tabari, Bd.III, S.934f.
'S F.Gabrieli, S.381.
" Ibn Miskawaih, S.418; at-Tabari, Bd.III, S.935.
Al-Amin, al-Ma'mün und der „Pöbel" von Bagdad 43
rührern, welche die Schuld den sufahä' wal-ahdät (jungen Leu¬
ten) unter ihnen zuschrieben*" - zusagte.
Das bisher Skizzierte bietet Anlaß zu einigen allgemeineren Be¬
merkungen. Der Untergang al-Amins war vielleicht schon mit den
ersten Niederlagen seiner Truppen bei Rayy und Hamadan im
Jahre 810 besiegelt, interessanterweise schloß ad-Dinawari hier
faktisch seinen Bericht über die Auseinandersetzungen ab*'. Ein
dauerhafter Erfolg des Husain b. 'Ali b. Isä b. Mähän hätte wohl
im Jahre 811 die friedliche Übergabe Bagdads an al-Ma'mün be¬
deuten können, wäre zu diesem Zeitpunkt nicht die Furcht zahl¬
reicher abnä' vor dem Verlust ihrer privilegierten Stellung domi¬
nant gewesen, denen sich erste Scharen des ahi al-arbäd an¬
schlössen. Den Männern um al-Amin mußte sichtlich der Versuch
mißlingen, ein einigermaßen kohärentes Heer aus abnä' und ara¬
bischen Stammeskriegern zu schaffen. H.Kennedy hat also mit
der Überlegung, daß der gesamte Ablauf das Scheitern traditio¬
neller Militärklassen und die deutliche Verlagerung ihrer grund¬
legenden Prioritäten auf materielle Ziele belegt, sicher recht, auch
wenn der Vergleich mit der Kommune von Paris 1871 anachroni¬
stisch bleibt*^
Der „Pöbel" Bagdads, militärisch nur bis zu einem gewissen
Grade organisiert, teils mit, teils ohne reguläre Ausrüstung, in
wechselndem Maße zusammen mit den, neben den oder gegen
die abnä' operierend und möglicherweise des öfteren mit surta-
und a/ar/^a-Kontingenten zusammenwirkend, verfolgte offenbar
breitgefächerte Ziele. Neben die Verteidigung der Stadt- in weit¬
aus geringerer Intensität des Amin- traten umfangreiche Raub-,
Plünderungs- und Schutzaktionen zur Verbesserung der eigenen
miserablen materiellen Lage.
Während der Belagerung vertiefte sich deutlich der Riß inner¬
halb der städtischen Bevölkerung zwischen begüterten und unte¬
ren Schichten. Die Aktionen des „Pöbels", die gravierenden
Blockade- und Belagerungsfolgen sowie die Erpressungen und
Drohungen Tähirs zeigten zunehmend Wirkung auf Aristokraten
und Notabein, die sich mehr und mehr auf die Seite der Belagerer
schlugen. Den kämpferischen Einsatz des „Pöbels" reflektierten
zahlreiche, meist anonyme Gedichte. Die Dichter des Krieges wa-
8° at-Tabari, Bd.III, S.934.
«' ad-Dinawari, S.398f.
»2 H. Kennedy, S.146.
ren mit süf gekleidet, gehörten nicht zu Qahtän und nicht zu
Nizär". Neben Klagen über die Zerstörungen in Bagdad offen¬
barten ihre Zeilen auch Stolz auf einfache Herkunft und streitba¬
ren Mut trotz unzulänglicher Bewaffnung.
Die Aktivitäten des „Pöbels" von Bagdad begründeten eine
Tradition, die sich hier in kommenden Jahrzehnten und Jahrhun¬
derten im vielgestaltigen Wirken der 'ayyärün fortsetzte**. Die
Auftritte des „Pöbels" auf der historischen Bühne und eine zu¬
nehmend deutlicher divergente Interessenlage verschiedener städ¬
tischer Schichten zwangen zivile und militärische herrschende
Kreise auch später, diese Kräfte in ihr Kalkül einzubeziehen.
So kann wohl die Beteiligung des „Pöbels" von Bagdad an den
stürmischen Ereignissen der Jahre 812/13 durchaus einen Mo¬
saikstein mehr zur Untersuchung von Auswirkungen sozialer bzw.
religiöser Bewegung unterer Schichten auf die Prägung gesell¬
schaftlicher Strukturen im islamischen Mittelalter beifügen.
" at-Tabari, Bd.III, S.886; al-Mas'üdi, S.406.
" S. Sabari, S.77ff.; C. Cahen, S.34ff.; J.B. Michajudva, S. 19ff.
Grammar, Rhetoric, and the Enkyklios Paideia in Syriac
By John Watt, Cardiff
No Greek thinker was more respected and studied by learned
Syrians than Aristotle, but only two very brief Vitae of the philos¬
opher have come down to us in Syriac. Anton Baumstark opened
his classic study on this subject by noting that the paucity of
extant biographical material is not totally surprising, for the
Turkish and Mongolian invasions, and more especially the decay
of Syriac literary activity from the 14th century, opened up gaps
in the older Syriac literature. Furthermore, as exclusively theo¬
logical interests came increasingly to dominate Syriac intellectual
life, the greater would the gaps have become in the 'outside'
fields.' A considerable amount of material about Aristotle, how¬
ever, is preserved in Arabic, and it is likely that at least some of
it came from Greek into Arabic through Syriac. Biographical in¬
formation on Aristotle in Syriac was therefore probably once more
abundant than the little that has survived in Syriac manuscripts.^
Since learned Syriac and Arabic readers greatly admired Aris¬
totle's writings, it is likely that they would have been very inter¬
ested in his education. There is a report in al-Mubassir, derived
from the Siwän al-hikma, that at the age of eight he was taken by
his father to Athens, and for nine years was a pupil in a school
of poets, rhetors, and grammarians. The name of the knowledge
he acquired there, i.e.,'the knowledge of language'('///w
al-lisän), was called by them 'the all-round' (al-muhit). Some
' A. Baumstark: Aristoteles bei den Syrern vom V.-V/II.Jahrhundert. Leipzig, 1900 (reprinted Aalen, 1975), p.l. The two Syriac Vitae are edited on pp. 1-2 of the Syriac sequence.
2 Cf ibid., pp. 1-53, 105-130. See now the comprehensive survey by D. Gutas:
77ie Spurious and the Authentic in the Arabic Lives of Aristotle. In: J. Kraye,
W.F.Ryan, C.B.Schmitt (eds.): Pseudo-Aristotle in the Middle Ages. London,
1986, pp. 15-36.