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Actus evangelii confirmant gesta priora : zur Tradition des Doppelgedichtes bei Proba, Ps.-Hilarius und Ps.-Victorinus

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Actus evangelii con/irmant gesta priora

Zur Tradition des Doppelgedichtes bei Proba, Ps.-Hilarius und Ps.-Victorinus

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, eine kleine, doch nicht ganz unbedeutende und bislang jedenfaIls, soweit ich sehen kann, unbe- achtet gebliebene Traditionslinie der christlichen Literatur der Spatantike zu skizzieren, die des im weitesten Sinne paraphrastischen alt-neutesta- mentlichen Doppelgedichtes, dessen Hauptvertreter im fraglichen Zeit- raum die drei im Titel genannten Werke sind, und zwar in der klassischen Reihenfolge von Traditionsbegriinder (Proba) - Hohepunkt (Ps.-Hilarius) - Epigone (Ps.-Victorinus). DaB die Linie selbst damit keineswegs an ihrem Ende angelangt war, sondern bis zu Miltons Paradise Lost und Paradise Regained immer wieder Vertreter hervorgebracht hat, solI hier nur angedeutet werden, und das gerade erwahnte englische Gedichtpaar ist iiberdies gut geeignet, die Selbstverstandlichkeit des Werktypus zu demon- strieren, hatte doch Milton, soweit bekannt, urspriinglich nur Paradise Lost konzipiert, wahrend sich Paradise Regained gewissermaBen als automati- sches Pendant erst spater anschloK Worin aber liegt dieser Automatismus begriindet, und wie verhalten sich die genannten Doppelgedichte zu ver- gleichbaren Phanomenen der griechischen und romischen Literatur?

Das Prinzip zweier pendantartig aufeinander bezogener, zu einer groBe- ren Einheit zusammengeschlossener Texte ist, mindestens theoretisch, etwas sehr Schlichtes; selbst wenn man nicht bis Homer zuriickgreift, des- sen beide Epen die Antike bekanntlich als Gegenstiicke auffaBte und, wie beispielsweise die Aenels zeigt, auch entsprechend rezipierte, finden sich etwa mit Plutarchs Parallelviten oder den letzten sechs Gedichten der Heroides-Sammlung Ovids ganz offenkundige Beispiele fiir Textpaare.

Doch schon hier zeigen sich Differenzen: Plutarchs Biot napaAA'I1AOl bil- den jeweils separat lesbare Einzelstiicke, die nur unter agonalem Ge- sichtspunkt paarweise kombiniert sind und daher, soIlen sie eine groBere Einheit bilden, auch des jedesmal beigefiigten cru,¥Kptcru;-Abschnitts bediirfen, wohingegen die drei Briefpaare der Heroides, ihrer antitheti- schen, im Frage-Antwort-Gestus begriindeten Natur entsprechend, nicht so ohne weiteres voneinander getrennt werden konnen, sondern eine orga- nischere Einheit bilden, die konsequenter Weise auch keines zusammen- fassenden dritten Textes bedarf. Gleiches wiirde im Prinzip fiir jedes belie-

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-132366

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bige Briefpaar gelten, und ebenso fur jedes Paar von Reden, sei es aus dem Gerichtsmilieu, wo AnkHiger und Verteidiger ganz unwillkurlich aufeinan- der bezogene Textpaare produzieren (die Uberlieferungssituation ist frei- lich, was echte Paare anbelangt, prekar, doch denkt man etwa an die Reden des Aischines und des Demosthenes im Gesandtschaftsstreit), sei es aus historiographischen Werken mit ihren seit spatestens Thukydides so beliebten Redepaaren zur Verdeutlichung historischer Entscheidungs- situation en. Doch haben Brief- und Redepaare immer noch eine Eigenschaft, die sie von der fur mich interessanten Traditionslinie trennt: Die - mindestens virtuelle - unterschiedliche Autorenschaft der beiden Texte, praziser gesagt ihre verschiedenen Sprecherpositionen. Sucht man aber auch diese Differenz noch zu eliminieren, reduziert sich die Fulle des einschlagigen Materials drastisch, denn bei identischer Sprechpostition konnen Textpaare nur noch entstehen, wenn ihre inhaltliche Konzeption an sich bereits antithetische Struktur aufweist. Beispiele sind beizubringen, etwa die letzten beiden Oden des Horaz im vierten Odenbuch, die man als Paar auf der Basis des Gegensatzes von Krieg und Frieden lesen kann, oder die beiden komplementaren Lehrgedichte des Ovid, Ars und Remedia, die letzten Endes dem alten revocatio-Prinzip ahneln, wie man es aus der Uber- lieferung zu Stesichoros' Helenadichtung kennt. Doch immerhin ist die Anzahl moglicher, an sich bereits antithetischer Themen begrenzt, und mit ihr die der solcherart konzipierten Werke.

Nun bringt das Christentum eine neue Moglichkeit fur derlei Pen- danttexte mit sich, namlich durch die Zweigeteiltheit der Textgrundlage dieser Religion, der Bibel. Altes und Neues Testament korrespondieren miteinander in christlicher Interpretation nach Prinzipien wie Prophetie und Erfullung, Versprechen und Einlosung, Verirrung und Heimfuhrung, also in antithetischer Weise, und der wichtigste Mechanismus, den die christliche Bibelexegese gebraucht, um das Alte Testament in den Griff zu bekommen und letztlich zu absorbieren, die Paarung von Typos und Antitypos, wird als grundlegende Spannung nicht hur fur die weitere euro- paische Literatur, sondern auch fur die bildende Kunst von eminenter Bedeutung sein. Denn sob aId das Christentum begann, die Bibel zum Gegenstand kunstlerischer Bearbeitungen zu machen, muBte sich die Dichotomie der Bibel geradezu zwangslaufig als strukturierendes Element aufdrangen.1 Somit ware das Auftreten alt-neutestamentlicher Gedicht-

1 Selbstverstiindlich existiert mit der bekannten ante legem - sub lege - sub gratia - Reihe auch eine kompliziertere dreifiiltige Variante des typologischen Mechanismus,

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paare nicht nur nichts Besonderes, sondern geradezu eme Selbstver- standlichkeit.2

Ganz so einfach ist die Sachlage freilich nicht, wie schon ein Blick auf die einfachste vorstellbare Bearbeitung der Bibel, eine Paraphrase der heilsge- schichtlich einschlagigen Partien, also der historischen Biicher des Alten Testamenst versus Evangelien und Actus apostolorum lehrt.3 Wahrend es namlich keine Schwierigkeiten bereitet, das Wirken Christi zu einer zwar nicht im aristotelischen Sinn epischen, aber immerhin sinnvoll zusammen- hangenden Handlung umzudichten, widersetzt sich das viel langere Alte Testament derartigen Versuchen, und zwar sowohl aufgrund der schieren Stoffmasse als auch aufgrund der passagenweisen literarischen Unver- wertbarkeit der Vorlage: Selbst der eisern paraphrasierende Hepta- teuchdichter scheut denn doch davor zuriick, etwa die aufgelisteten Volks- zahlungsergebnisse prahistorischer Schafherden aus dem Buch Numeri in sein Gedicht zu iibernehmen. Eine strukturell gleichmaBige Paraphrase von Altem und Neuem Testament miiBte angesichts der Verschiedenheit der beiden Basistexte also konsequent zu einem recht schiefen Textpaar fiihren, mit spiirbarem Dberhang des Alten Testaments. Der Mechanismus der Typologie wiederum verlangt aber eine Gleichgewichtung der beiden Gegenstiicke, wenn nicht gar einen Dberhang des Neuen Testaments iiber das Alte. Also miissen, will man die Balance erhalten, Altes und Neues Testament verschieden behandelt werden.

Dies fiihrt zu unterschiedlichen Vorgangsweisen, vorausgesetzt ein Autor beschrankt si ch nicht wie der Heptateuchdichter oder Iuvencus auf eine der beiden Bibelhalften. Alcimus Avitus zum Beispiel nimmt ausgewahlte Passagen des Alten Testamentes als Basis, laBt aber durch Anwendung typologischer Perspektiven Ausblicke ins Neue Testament zu; ahnlich hatte zuvor schon Marius Victorius in seiner Alethia etwa die Halfte des Buches

die fur die bildende Kunst vielfach, fur die Literatur aber, soweit sie nicht mit der bil- den den Kunst im Sinne von tituli-Texten zusammenhangt, kaum einfluEreich wurde.

2 Aus dieser Selbstverstandlichkeit ist jedoch keineswegs abzuleiten, daE keine andere Form biblischer Poesie denkbar ware. Wenn E.A. CLARK und D.E HATCH (The Golden Bough, the Oaken Cross. The Virgilian Cento

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Faltonia Betitia Proba, Chico 1981, p. 2 [American Academy of Religion, Texts and Translations Series 5]) der Ansicht sind, daE «most strikingly, Juvencus does not treat the Old Testament at ail», so ist gegenzufragen, was daran "striking" sein soil, wenn jemand das Neue Testament, konkreter eine hauptsachlich am Matthausevangelium orientierte ansatzweise Evan- gelienharmonie, zum Gegenstand der Dichtung macht, ohne gleich das Alte Testament ebenfails zu behandeln.

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Genesis unter Einbeziehung neutestamentlicher Ankniipfungspunkte bearbeitet. Umgekehrt geht Sedulius vor, der zwar hauptsachlich eine Evangelienparaphrase bietet, doch in das vorspannartige erste Buch eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten alttestamentlichen Ereignisse von der Sintflut bis zu den Makkabaerbriidern einfiigt; eine vergleichbare, doch nicht identische Zusammenfassung findet sich im dritten Buch des Carmen adversus Marcionitas (auf beides wird unten noch einzugehen sein), und auch das letzte von mir zu besprechende Gedicht wird Derartiges enthalten. Komplizierter ist der Fall von Dracontius' De laudi- bus Domini, wo gleichfalls eine alttestamentliche Szenenfolge im ersten Buch, diesfalls die Schopfung, einer Fiille neutestamentlichen Materials im zweiten und dritten Buch gegeniibersteht, doch ist das gesamte Werk ein so hochgradig assoziativer, letztlich in ein Gebet als wahre Form christ- licher Dichtung miindender Text,4 daB der Genesisabschnitt des ersten Buches praktisch die einzige als Bearbeitung biblischen Stoffes anzuspre- chende Passage bleibt. Ahnliches gilt auch fiir De Christi Iesu bene/iciis des Rusticus Helpidius, das, insgesamt als Gebet stilisiert, hauptsachlich eine lose Abfolge von Evangelienszenen bringt, eingeleitet allerdings durch einen Hymnus, der die Schopfungsthematik verbalisiert, also das Neue Testament mit dem wichtigsten Abschnitt des Alten praludiert. Eine erkennbare dualistische Strukturierung des Textes fehlt allerdings. Sie fin- det sich hinlanglich deutlich im zweiten bekannten Werk desselben Dich- ters, den Tristicha, in der Tradition des Dittochaeon des Prudentius' ste- hen de typologische Gedichtpaare, echte alt-neutestamentliche Doppel- gedichte, freilich jedesmal nur einem einzigen biblischen Motiv gewidmet, sodaB erst die gesamte Serie von Gedichtpaaren die Bibel (mindestens potentiell) abdeckt. Eine beachtliche Bandbreite von Losungsansatzen also, wie man die beiden Teile der Bibel literarisch bewaltigen konnte, do ch keiner, der auf eine Aquilibrierung der beiden Teile innerhalb eines fortlaufenden Textes hinausliefe.

3 Es eriibrigt sich darauf hinzuweisen, daB das Alte Testament selbstverstandlich nie als geschlossene Einheit empfunden, sondern stets die historische Linie vom Pentateuch iiber die weiteren historischen Biicher bis zu den Makkabaerbiichern gesucht wurde. Die Psalmen- und Weisheitsbiicher ebenso wie die meisten Pro- phetenbiicher (m it Ausnahme etwa von Daniel und Jonas) stehen abseits davon.

4 Cf. A. ARWEILER, Die Confessiones des Augustinus, die romische Verssatire und die Grundlagen einer christlichen Poetologie in der Dichtung De laudibus Dei des Dracontius, in Duke Melos. La poesia tardoantica e medievale. Atti del In Convegno Internazionale di Studi (Vienna, 15-18 novembre 2004), a cura di V. PANAGL, Alessandria 2007, pp. 229-265.

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In diesem Sinne ansatzweise erfolgreich ist zuerst das Carmen de laudibus Domini etwa aus den Jahren um 320.5 Sieht man von den ersten gut drei- Big Versen ab, die der Beschreibung eines zeitgenossischen Mirakels gewidmet sind und erkennbar einleitende Funktion haben, ist der Haupteil des Gedichtes in Half ten von 54 und 60 Versen geteilt, deren erste die Schopfung, deren zweite Leben, Passion und Auferstehung Christi schil- dert, mit einem kurzen Binnenprooemium dazwischen.6 Ganz offensicht- lich versucht der anonyme Dichter eine ausgeglichene Ponderierung von Altem und Neuem Testament zu erzielen, und es ist hochst aufschluBreich, wie er dies erreicht: Entsprechend der oben festgehaltenen Unter- schiedlichkeit von Altem und Neuem Testament entscheidet sich der Dichter dafur, die Evangelienhandlung zwar nicht vollstandig (was auf ein Epos Iuvencianischen Typs hinausliefe), doch in reprasentativer Auswahl zu paraphrasieren, aus dem Alten hingegen nur ein zentrales Element, die Schopfung, auszuwahlen: Nicht einmal die Sintflut wird erwahnt, geschweige denn der Rest der biblischen Geschichte - man gewinnt den Eindruck, daB der Dichter sonderbar unbekummert mit dem Alten Testament umgeht.

Um dies zu erklaren, gilt es zu bedenken, daB jede Gegenuberstellung von Altem und Neuem Testament fur einen Christen selbstverstandlich vom Neuen Testament ausgehen muK Aus dies em wiederum genieBen ins- besondere auf dem Feld der dichterischen Bearbeitungen (doch auch fur

5 Die beiden heranzuziehenden Editionen sind: Laudes Domini. Tekst, vertaling en commentaar. door P. VAN DER WEIJDEN, Amsterdam 1967; Laudes Domini.

Introduzione, testo, traduzione e commento a cura di A. SALZANO, Napoli 2000.

Ferner cf. an alterer Literatur W. BRANDES, Ober das fruhehristliehe Gedieht "Laudes Domini)), in Die Zerstorung von Autun unter Claudius II. Wissenschaftliche Beilage zu dem Programm des Herzoglichen Gymnasium Martino-Catharineum in Braun- schweig Ostern 1887, Braunschweig 1887; und R. PEIPER, Bemerkungen zu dem fruh- ehristliehen Gediehte Laudes domini, in "Zeitschrift fur die osterreichischen Gym- nasien" 41 (1890), pp. 106-109; an neuerer Literatur A. FruSONE, Saneti poetae, in

"Helikon" 9-10 (1969), pp. 673-676; 1. OPELT, Das Carmen de laudibus Domini als Zeugnis des Christentums bei den Galliern, in "Romanobarbarica" 3 (1978), pp. 159- 166; E. DI LORENZO, Sulla Teeniea Esametriea delle Laudes Domini, in "Sileno" 30/1- 2 (2004), pp. 109-120; ferner cf. R. PALLA. Aspetti e momenti della poesia eristiana lati- na nel IV seeolo, in La poesia: origine e sviluppo delle forme poetiehe nella letteratura oecidentale, a cura di G. ARruGHETTI, vo!. 1, Pis a 1991, pp. 153-174 (Universitas n.s.

20).

6 Clark und Hatch (The Golden Bough ... cit., p. 137) bezeichnen den Cento Probae als erstes christliches Gedicht auf der Basis des Schopfungsberichtes. Dies ist falsch.

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die bildende Kunst) die Wundertaten Christi evident hohere Beliebtheit als etwa die in den gleichen Evangelien enthaltenen Parabeln und Predigten:

Praktisch jede Bearbeitung der Evangelien konzentriert si ch auf das, was man "die Erlosung der Menschheit durch die (Wunder haten Christi" nen- nen konnte. Das mag theologisch problematisch sein, literarisch aber ist es sinnvoll, wie ein Vergleich zwischen Iuvencus und Sedulius lehrt. Stellt man nun den neutestamentlichen Teil eines prasumptiven Gesamtbibel- gedichtes unter den Aspekt der Erlosung, liegt es nahe, das alttestamentli- che Gegenstiick in der Erzahlung vom Siindenfall zu such en. Konzentriert sich die zweite Halfte auf die Wundertaten Christi, findet sich in seiner Tatigkeit als Demiurg bei der Schopfung ein passender Konterpart. In bei- den Fallen geniigen die ersten Kapitel des Buches Genesis, das Gegen- gewicht zum Neuen Testament abzugeben, die restliche Geschichte von Abel bis Zacharias kann entfallen. Genau das geschieht in De laudibus Domini, sieht man davon ab, daB das Gedicht noch zusatzlich im Gestus des Gebets gesprochen wird. F reilich gabe es andere Moglichkeiten, si ch auf das Alte Testament zu beziehen (eine davon wird in weiterer Folge noch skiziert werden), doch die eben vorgestellte, nur den Schopfungs- bericht zu paraphrasieren und von hier direkt ins Neue Testament zu springen, ist nicht nur die einfachste, sondern auch die beliebteste - auf Miltons Gedichtpaar, das genauso funktioniert, habe ich ja schon hinge- Wlesen.

Der erste Text, der von den Moglichkeiten, die dem kleinen Carmen de laudibus Domini innewohnen, wirklich Gebrauch macht, ist der Cento Probae, der damit auch gattungsstiftend wirkt.7 Ohne ein Praludium wie

7 Als Textausgabe nach wie vor giiltig die von K. SCHENKL, in Poetae Christiani mino- res, pars 1 (mehr noch nicht erschienen), Vindobonae 1888, pp. 511-609 (CSEL 16).

Von der alteren Literatur ist nach wie vor zu nennen: 1. QPELT, Der zurnende Christus im Cento der Proba, in "Jahrbuch fUr Antike und Christentum" 7 (1964), pp. 108-116.

Vergleichsweise starkste Beachtung erfuhr die Debatte urn Datierung und Au- torenschaft des Gedichtes, in der D. SHANZER (The Anonymous Carmen contra pag- anos and the Date and Identity

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the Centonist Proba, in "Revue des Etudes Au- gustiniennes" 32 [1986], pp. 232-248; EAD., The Date and Identity

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the Centonist Proba, in "Recherches Augustiniennes" 27 [1994], pp. 75-96) fur eine Datierung etwa in die Jahre 385-395 (jungere Proba) eintrat, wahrend ihr von RP.H. GREEN (Proba's Cento: Its Date, Purpose, and Reception, in "Classical Quaterly" 45/2 [1995], pp. 551- 563) massiv widersprochen und die traditionelle Datierung in das dritte Viertel des vierten J ahrhunderts (altere Proba) verteidigt wurde. Aus neuerer Zeit sind auBerdem zu nennen: V BUCHHEIT, Vergildeutung im Cento Probae, in "Grazer Beitrage" 15 (1988), pp. 161-176; Z. PAVLOVSKIS, Proba and the Semiotics o/Virgilian Narrative, in

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den Wunderbericht von De laudibus Domini beginnt er mit einem regula- ren, zunehmend centonistischen Prooemium (1-28), das in einen Hymnus an Gott als Schopfer (29-55) und damit zum Sechstagewerk iibergeht. 260 Verse widmet Proba dem eigentlichen Schopfungsbericht (56-171), dem Siindenfall (172-277) und der weiteren Entwicklung bis inklusive Sintflut (278-316), schlieBt daran in Gestalt einer praeteritio einen 16 Verse langen Dberblick iiber das restliche Alte Testament, solcherart die schon nach dem Siindenfall beschleunigte Gangart zur rasanten Tour d'Horizon stei- gernd (317-332), und markiert dann mit einem Binnenprooemium (333- 345) den Dbergang zur Evangelienhandlung, die mit etwa 340 Versen (346- 688) zwar etwas mehr Raum als die erste Halfte beansprucht, doch immer- hin ungefahre Proportionen wahrt. Wie zu erwarten ist die Evangelien- paraphrase selektierend, deckt aber von der Geburt Christi bis zur Him- melfahrt doch die wesentlichen Stationen ab.8 Proba geht hier also weitaus vorsichtiger, schonender vor als in ihrer Bearbeitung des Alten Testaments, ein weiser EntschluB, wollte sie Kritik an ihrem Werk vermeiden - selbst die Bibeldichtung als solche war ja zu ihrer Zeit noch keineswegs fest eta- bliert. Das bekannte giftige Verdikt des Hieronymus9 blieb literaturhisto- risch bedeutungslos, denn der Erfolg gab letztlich Proba recht,lO wie fol- gende drei Umstanden zeigen: erstens die beachtliche Dichte der hand- schriftlichen Dberlieferung; zweitens die Nachahmung des Cento durch

"Vergilius" 35 (1989), pp. 70-84; ferner, freilich wenig erhellend, E.A. CLARK, The Virgilian Cento o/Faltonia Betitia Proba, in "Studia Patristica" 17/1 (1982), pp. 412- 416, und, ganz ausgezeichnet, R. JAKOBI, Vom Klassizismus zur christlichen Asthtik. Die Selbstkonstituierung der christlichen Dichterin Proba, in "Hermes" 133 (2005), pp. 77- 91 bzw. p. 92 (Postskriptum). Auf die Monographie von Clark und Hatch, der man nicht uberall kritiklos folgen wird, wurde schon supra, n. 2 hingewiesen.

8 Zu Recht weisen Clark und Hatch (The Golden Bough ... cit., p. 125 und passim) dar- auf hin, wie stark selektierend Proba im neutestamentlichen Teil agiert: Doch bleibt das Grundgerust der Evangelienhandlung immerhin unangetastet. Ibid., pp. 161-169 ferner eine gute Ubersicht uber die typologischen Beziehungen, die Proba zwischen alt- und neutestamentlicher Hiilfte ihres Centos spannt.

9 Hier., epist. 53, 7.

10 Anders Green (Proba's Cento ... cit., pp. 562s), der selbst fur das fiinfte Jahrhundert schon nicht mehr notwendig mit Probakenntnis rechnet. Allein die Existenz des pseu- dohilarianischen Doppelgedichtes beweist aber das Gegenteil; cf. Pseudo-Hilarius, Metrum in Genesin, Carmen de Evangelio. Einleitung, Text und Kommentar hrsg. von G.E. KREUZ, Veroffentlichungen der Kommission zur Herausgabe des Corpus der lateinischen Kirchenviiter 23, Wien 2006 (Sitzungsberichte der philosophisch -histori- schen Klasse der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften 752), p. 79.

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einen gewissen Pomponius, der freilich die alttestamentliche Halfte zugun- sten einer langatmigen bukolischen Einleitung komprimierte;11 und drit- tens die Rezeption Probas auch auBerhalb der Centonendichtung durch Pseudo-Hilarius und Pseudo-Victorinus.

Zwei Eigentiimlichkeiten des Cento Probae sind noch hervorzuheben.

Erstens ist zu beach ten, daB die Autorin, so wenig Platz sie auch dem Alten Testament nach der Sintflut einraumt, es doch immerhin nicht vollkommen streicht. Anders als dem anonymen Dichter von De laudibus Domini ver- ursachte ihr als rechtschaffener Paraphrastin der Gedanke an eine kom- plette Auslassung offenbar Gewissensbisse, die durch die kleine, einem symbolischen Feigenblatt ahnelnde Zwischenpassage (317 _332)12 offenbar aber beschwichtigt werden konnten. Zweitens weist der Umgang mit den breiter paraphrasierten Passagen, Schopfungsbericht und Evangelienhand- lung, einen signifikanten Unterschied auf: Die Evangelienhalfte ist selektiv konzipiert, wahrt aber die Reihenfolge der paraphrasierten Perikopen, folgt also den Spielregeln paraphrastischer Literatur unter Beriick- sichtigung des reduzierten Umfangs des resultierenden Textes; der Schop- fungsbericht hingegen enthalt zwar im Prinzip alle relevanten Elemente, doch, und das ist sehr ungewohnlich, in veranderter Reihenfolge.13 So wer-

11 Poetae Christiani minores ... cit., pp. 609-620. Beide Centonen wurden iibrigens (der des Pomponius total, der der Proba in einem einzelnen Traditionszweig) im Zuge der handschriftlichen Uberlieferung in ihre alt- und neutestamentlichen Teile zerlegt, womit die grundsatzliche Zweigeteiltheit dies er Gedichte auf recht bracchiale Weise sinnfallig gemacht wurde.

12 Proba 317-332: Diluvio ex illo patribus dat iura vocatis / Omnipotens: magnis agitant sub legibus aevum. / Quid memorem infandas caedes, quid facta tyranni / Nesciaque humanis precibus mansuescere corda, / Aegyptum viresque orientis et ultima bell a / Magnanimosque duces totiusque ordine gentis, / Quo cursu deserta petiverit et tribus et gem / Magna virum, meriti tanti non immemor umquam, / Quique sacerdotes casti alta- ria iuxta, / Quique pii vates pro libertate ruebant, / Qui bello exciti reges, quae litore rubro / Complerint campos acies, quibus arserit armis / Rex, genus egregium, magno in/lammante furore, / Agmen agens equitum et /lorentis aere catervas? / Cetera facta patrum pugnataque in ordine bella / Praetereo atque aliis post me memoranda relinquo.

13 Weniger erheblich sind Erweiterungen Probas, die, da theologisch unbedenklich, angesichts der Knappheit des biblischen Berichtes kaum auf Widerstand stoBen konn- ten, etwa einige Verse iiber die vier Jahreszeiten (70-79): Auf die insgesamt zu beob- achtende Freiheit Probas gegeniiber ihrer biblischen Vorlage wies bereits R. HERZOG

hin (Die Bibelepik der lateinischen Spiitantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung, Bd. 1 [mehr nicht erschienen], Miinchen 1975 [Theorie und Geschichte der Literatur und der schonen Kiinste, Texte und Abhandlungen 37], pp. 36-49), ging

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den laut Proba, anders als im Buch Genesis, die Gestirne vor den Pflanzen erschaffen; schlimmer noch: die Erschaffung der Gestirne wird, dem bibli- schen Bericht zuwiderlaufend, mit dem ersten Schopfungsakt, dem/iat lux, gleichgesetzt. Es konnte schon an anderer Stelle gezeigt werden,14 dag just diese zwei Punkte in der spatantiken Exegese, mit der Proba zwangslaufig kollidieren mugte, besonders umstritten waren. Ganz offensichtlich wagt die Dichterin hier, signifikanter Weise im Alten und nicht im Neuen Testament, einen Eingriff in den biblischen Bericht, der zwar Theologen wie Hieronymus verargern mugte, doch die Peinlichkeit der wissenschaft- lichen Unhaltbarkeit des veralteten Bibeltextes beseitigte und ihn an modern ere Kosmogonien annaherte.

Ungefahr ein halbes

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ahrhundert nach Proba iibernahm ein als Pseudo- Hilarius bezeichneter Dichter15 das von Proba geschaffene Schema, befrei- te es ab er von den Zwangen der Centonentechnik und kombinierte es mit einer zweiten Struktur, die der zusatzlichen Verklammerung der beiden Gedichthalften dient (dazu unten).16 Die Anderung der Reihenfolge im

aber davon aus, Proba sei von theologischen Gesichtspunkten, will hei~en: von der Bibelexegese nicht beeinf1u~t (ibid., pp. 19s); tatsachlich erfolgten ihre kraftigen Eingriffe in den Schopfungsbericht aber wahrscheinlich gerade wegen der Probleme der zeitgenossischen Exegese mit diesem Bibeltext, moglicherweise auch unter dem

Einf1u~ klassischer poetischer Kosmogonien (man denkt zuallererst an die der ovidi- schen Metamorphosen, doch auch Passagen aus dem Werk Vergils sind heranzuzie- hen), was freilich auf das gleiche hinauslauft, wenn man bedenkt, da~ die Defen- sivhaltung der christlichen Genesisexegese gegeniiber den Kosmogoniekonzepten der philosophischen Systeme sich damit ja gegen den Untergrund richtet, auf dem auch die poetischen Kosmonien ruhen. Die Affinitat zwischen letztgenannten und Probas Schopfungsbericht erahnen richtig Clark und Hatch (The Golden Bough ... cit., pp. 139ss) freilich ohne iiber die unscharfe Annahme einer Ergriffenheit Probas von der Herrlichkeit der Natur, die sie den Werken ihrer dichterischen Vorganger folgen lie~,

hinauszugelangen, und ohne die Bedeutung der Differenzen zwischen Proba und dem biblischen Schopfungsbericht zu sehen. Die veranderte Reihenfolge dieses Schopfungsberichtes beschreibt hingegen K. SMOLAK, Lateinische Umdichtungen des biblischen Schopfungsberichtes, in "Studia Patristica" 12 (1975), p. 355. Papers pres- ented to the Sixth International Conference on Patristic Studies held in Oxford 1971, Bd. 1, scheint aber, wie der Reihenfolge der bei ihm besprochenen Autoren zu ent- nehmen ist, von zeitlicher Prioritat des Pseudo-Hilarius gegeniiber Proba auszugehen.

14 G.E. KREUZ, Pseudo-Hilarius ... cit., pp. 101s; 105s.

15 Die alte Edition von R. PEIPER im Anhang zu CSEL 23 ('Cyprianus Gallus', 1891) jetzt ersetzt durch G.E. KREUZ, Pseudo-Hilarius ... cit.

16 Dem Verhaltnis zwischen Proba und Ps.-Hil. sowie den allgemeinen Traditionslinien der Genesisdichtungen des 4. und 5. Jhdts. ist bereits ein Aufsatzpaar von K. Smolak

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Schopfungsbricht ahnelt der bei Proba, wirkt aber eleganter, insoferne auf die dort noch in ungeschickter Weise bewahrte Tageszahlung (und damit aber auf ein wesentliches biblisches Element!) vollends verzichtet wird, ferner durch die hintereinandergesetzen und durch gleichen Versbeginn (Ps.-Hil., in gen. 50. 65) parallelisierten Berichte von der Erschaffung des Lichtes und der der Gestirne, womit offenbleibt, ob es sich urn denselben Akt handelt oder urn zwei verschiedene. F rappant ist auch die Rezeption, die Ps.-Hil. Probas ohnehin schon knappen Referat des ,restlichen' Alten Testaments angedeihen laBt, wenn er mit nicht mehr als sieben Versen die sechzehn Vergleichsverse des Centos gut halbiert und damit fast parodisti- sche Kiirze erreicht.17 Die wirkliche N euerung des Ps. -Hil. besteht in der Einbeziehung des Normaltextes der zu seiner Zeit iiblichen Prafation zum Canon missae, also des Dignum et iustum est mitsamt den umgebenden Elementen des Sursum corda sowie Sanctus und Benedictus. Davon konnte bereits an anderer Stelle ausfiihrlich gehandelt werden.18 Festzuhalten ist hier nur, daB die Anwendung des liturgischen Konzeptes auf das biblische Doppelgedicht umso miiheloser moglich war, als ja der Aufbau der Prafation Dignum et iustum est dem gleichen alt-neutestamentlichen Span- nungsbogen ,Schopfungsbericht - Evangelien' bzw. ,Siindenfall - Er- losung' folgt wie die poetische Tradition des Carmen de laudibus Domini und des Cento Probae.

Interessanter Weise bricht der nachste Vertreter dieser poetischen Linie, das jedenfalls nach 500, womoglich sogar noch deutlich spater entstande- ne Doppelgedicht De lege Domini und De nativitate sive passione vel resur-

gewidmet: Lateinische Umdichtungen ... cit., pp. 350-360; ID., Die Stellung der Hexamerondichtung des Dracontius (laud. dei 1, 118-426) innerhalb der lateinischen Genesispoesie, in Antidosis. Festschrift fur Walther Kraus zum 70. Geburtstag, Wien - Koln - Graz 1972 (WS Beiheft 5), pp. 381-397.

17 Ps.-Hil., in gen. 194-200: Tum populus surgit melior, tum purior undis / gens homi- num, magnos tems paritura nepotes. / Inde sacerdotis in caelum dedita corda, / hinc inter /lammas pueri cantare paratz; / et puer, inpasti quem non tetigere leones. / Tum reges cecinere deum, tum vera prophetis / ora sonant caeli subole splendentia tems. Cf.

supra, n. 12.

18 G. KREUZ, ... sed lib et alta loqui. Die Zusammengehorigkeit der pseudohilarianischen

Gedichte In Genesin und De Evangelio, in Dulce Melos ... cit., pp. 121-145, bes. 137- 145; in leicht veranderter Form abgedruckt in ID., Pseudo-Hilarius ... cit., pp. 82-89. - Die ursprungliche Anregung, ein liturgisches Konzept bei Ps.-Hil. zu erkennen, ging von K. Smolak aus (Unentdeckte Lukrezspuren, in "Wiener Studien" , n.s. 7, 86 [1973], pp. 216-239, bes. p. 238).

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rectione Domini des Pseudo-Victorinus, mit der Tradition. 19 Es handelt sich weitgehend um einen Cento aus verschiedenen christlichen Gedichten, ins- besondere dem Carmen adversus Marcionitas, aus der Feder eines Poeten, der von den nicht eben zahlreichen Philologen, die sich ihm zugewandt haben,20 stets und mit Recht als mindestens weitgehend unfahig bezeichnet wurde. Doch so schlecht der Dichter auch sein mag, sein Konzept weist bemerkenswerte Elemente auf, wiederum, wie zu erwarten, im alttesta- mentlichen Teil als dem fur Experimente zuganglichen Teil solcher Doppelgedichte.

Bekanntlich versucht das Carmen adversus Marcionitas, dem ich mich zunachst kurz zuwenden muE, vereinfacht gesprochen die Legitimitat des biblischen Kanons, die Einheit von Altem und Neuem Testament sowie von alt- und neutestamentlichem Gott und damit die Koharenz der bibli- schen Geschichte resp. Heilsgeschichte vom Buch Genesis uber die Evangelien bis zur Apokalypse zu demonstrieren. In diesem Sinne bringt das dritte Buch des Carmen eine lange Serie kurzer Skizzen wichtiger Charaktere und Ereignisse von Kain und Abel bis zu

J

ohannes, mit einer sozusagen neutestamentlichen Fortsetzung in Form einer Liste der romi- schen Bischofe. Die Schopfung wiederum spielt keine bedeutende RoUe und wird nirgends naher thematisiert. Nun ubernimmt Ps.-Victorinus praktisch die gesamte alttestamentliche Liste in nur punktueU und gering- fugig veranderter Form als erste Halfte seines Doppelgedichtes21 und laEt

19 Der editorische Zustand der Gedichte ist dermaGen prekiir, daG eingehendere Untersuchungen an ihnen zur Zeit nicht moglich sind: Den neutestamentlichen Teil gab in gewohnt dubioser Weise Angelo Mai heraus (Classicorum Auctorum e Vaticanis.

codicibus editorum tomus V, complectens auctores aliquot de re grammatical~ carmina Christiana, et alia quaedam, curante ANGELO MAl, Vaticanae Bibliothecae praefecto, Romae 1833, pp. 382-385); die alttestamentliche Hiilfte publizierte sauber, doch nahe- zu unauffindbar A. OXE (Programm des Gymnasiums zu Crefeld 17 [1893/94], pp. 3- 20). In verkehrter Reihenfolge abgedruckt in PL Suppl. 3, Paris 1963, pp. 1139-1147.

20 W BRANDES, Zwei Victoringedichte des Vatic. Regin. 582 und das carmen adversus Marcionitas, in "Wiener Studien" 12 (1890), pp. 310-316; M. MANlTIUS, Geschichte der christlich-lateinischen Poesie bis zur Mitte des 8. Jah rh un derts, Stuttgart 1891, pp.

477 -479; C. MlCAELLI, Carmen adversus Marcionitas: ispirazione biblica e sua ripresa nei centoni De lege e De nativitate, in La poesia tardoantica e medievale. Atti del I Convegno Internazionale di Studi (Macerata, 4-5 maggio 1998), a cura di M. SALVA- DORE, Alessandria 2001, pp. 171-198.

21 Von den 215 Versen von De lege Domini sind die Verse 29-214 fast eine Kopie von carm. adv. Marc. 3, 14-218, wie der Ausgabe von Oxe auch gut zu entnehmen ist. Das

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dafiir die Schopfung vollkommen aus. Das lieBe zunachst darauf schlieBen, daB Ps.-Victorinus iiberhaupt nur einige Passagen des nicht sehr klar struk- turierten Carmen adversus Marcionitas, das ja allenthalben auch neutesta- mentliche Szenen in reichlichem AusmaB zur Verfiigung stellte, sauber in Altes und Neues Testament getrennt und damit auf der Basis des diesem Carmen inharenten Gedankens der Einheit von Altem und Neuem Tes- tament eher zufallig zu einem den alteren Doppelgedichten ahnelnden Konzept gekommen ware. Dagegen spricht, daB Ps>Victorinus sich auf eben diese Doppelgedichttradition bezieht, indem er Pseudo-Hilarius, also den prominentesten Vertreter dieser Gattung, massiv zitiert - wenn auch ausschlieBlich im neutestamentlichen Teil.22 Anscheinend versuchte er also ein Doppelgedicht wie Proba oder Ps.-Hil. zu schreiben, dabei aber deren alttestamentliche Halfte (Schopfung und Siindenfall ohne weiteres Altes Testament) durch etwas vollig anderes (Altes Testament ohne Schopfung und Siindenfall) zu ersetzen. Doch warum?

Die simpelste Losung ware wohl, anzunehmen, daB Ps.-Victorinus durch Sedulius beeinfluBt war, dessen auBerordentlich beliebtes Carmen paschale er wohl kannte. Auch Sedulius fiigt in sein erstes Buch einen kurzen Ober- blick iiber das Alte Testament von Enoch bis zu den Makkabliern ein, wah- rend er den Schopfungkomplex nur in einem kleinen Hymnus zu Beginn anklingen lasst,23 dies alles als Vorspann zum in vier Biichern breit ausge-

Verhaltnis zwischen den beiden Texten hat C. Micaelli (cf. supra, n. 20) eingehend beleuchtet, ich folge ihrn rnit rneinen Ausfiihrungen.

22 Ps.-Victorin., vita dom. 24 = Ps.-Hil., de ev. 8; Ps.-Victorin., vita dom. 25 = Ps.-Hil., de ev. 11; Ps.-Victorin., vita dom. 28s

=

Ps.-Hil., de ev. 22s.

23 Es ist eine seit dern Carmen de laudibus Domini stabile Tradition, dern Referat des Schopfungsberichtes einen Hyrnnus rnit wesentlichen Aussagen zur Allrnacht Gottes, Praexistenz Christi (der ja als Derniurg zu verstehen ist) und allgernein zur Trinitat voranzustellen und zugleich darin bereits wichtige Elernente des Schopfungsberichtes ganz unterzubringen oder rnindestens anklingen zu lassen. Bildet dieser Hyrnnus irn anonyrnen Carmen de laudibus Domini (32-55) noch das Scharnier zwischen der Wundererzahlung und der biblischen Thernatik, so wird er bei Proba (29-55) bereits zurn Ubergangsstiick zwischen Prooemium und Schopfungskornplex, soda~ er bei Pseudo-Hilarius, der ja eine rnetrisch abgesetzte Prae/atio bevorzugt, ganz an den Beginn des eigentlichen Gedichtes rutscht (7-22 bzw.-39); gleichzeitig instrurnentali- siert dieser Dichter ihn, urn den exegetisch kritischen Bereich der Creatio ex nihilo zu verdecken und rnit seinern eigentlichen Schopfungsbericht bereits in den Zustand nach Erschaffung der Materie einzusteigen. Eine vorn Prinzip her ahnliche, doch noch weitergehende Instrurnentalisierung hat derngegeniiber Sedulius, wenn er den gesarn- ten Schopfungskornplex in den Hyrnnus verpackt und solcherart elegant beiseite-

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fiihrten Neuen Testament, doch ebenso wie dieses unter die Themen- angabe cur ego ... clara saluti/eri taceam miracula Christi (Sedul., carm.

pasch. 1,23 und 27) gestellt.24 Man kann also das Carmen paschale im wei- testen Sinn ebenfalls als alt-neutestamentliches Doppelgedicht bezeichnen, wenn auch als extrem verzerrtes, und gewiB k6nnte sich ein Dichter ver- anlaBt gesehen haben, Sedulius' asymmetrisches Gedicht durch radikale Kiirzung des neutestamentlichen Teils in ein symmetrisches, diptychonar- tiges Gebilde umzuarbeiten, was direkt zur Struktur von De lege Domini und De nativitate etc. gefiihrt hatte. Doch der EinfluB Sedulius' auf Ps.- Victorinus ist vernachlassigbar gering, soweit Zitate dafiir als MaB dienen k6nnen, obwohl Ps.-Victorinus, wenn er die Idee fiir einen alttestament- lichen Gedichtteil ohne Sch6pfung anstelle eines Sch6pfungsteils ohne Altes Testament aus Sedulius bezogen hatte, doch wohl in erster Linie ihn ausgebeutet hatte, nicht das Carmen adversus Marcionitas. Im Gegenteil aber iibernimmt er nicht nur die volle alttestamentliche Passage aus dem dritten Buch des Carmen, sondern baut auch noch sein Prooemium als Cento exakt aus dessen Biichern 1,2,4 und 5, also aus samtlichen anderen Biichern.25 Sedulius kann also beiseitegelassen werden, die Komponenten, aus denen Ps.-Victorinus sein Doppelgedicht herleitete, sind das Carmen adversus Marcionitas auf der einen Seite, die Proba - Ps.-Hil. - Tradition auf der anderen. Wiederum stellt sich die Frage, weshalb er diese zwei Elemente zu vereinen suchte.

Zwei Antworten scheinen mir denkbar, und beide schlieBen einander nicht aus. Die erste nimmt ihren Ausgangspunkt von den kleinen, doch immerhin vorhandenen Differenzen zwischen den alttestamentlichen Passagen des Carmen adversus Marcionitas und des spateren Doppel- gedichtes. Immerhin kopiert Ps.-Victorinus die Verse nicht v611ig w6rtlich, sondern interpoliert einige Elemente, die ihm wichtig erschienen wie z. B.

den Dekalog oder auch K6nig Salomo, andere Elemente arrangiert er um,

schiebt, womit freilich keine zeitliche Prioritat des Pseudo-Hilarius im Vergleich zu Sedulius postuliert werden solI: lm Gegenteil scheint Sedulius der friihere zu sein (cf.

G.E. KREuz, Pseudo-Hilarius ... cit., p. 128).

24 Genauer fiihrt Sedulius dieses Konzept an der Nahtstelle zwischen alttestarnentli- chem Vorspann und neutstamentlichen Hauptteil aus: Per digesta prius veteris miracu- la legis / Rettulimus, sancti coniuncto spiritus actu / Quae genitor socia nati virtute pere- git. / Per digesta rudis necnon miracula legis / Dicemus, sancti coniuncto spiritus actu / Quae natus so cia patris virtute peregit. (Sedul., carm. pasch. 1,291-296).

25 C. MICAELLI, Carmen adversus Marcionitas ... cit., pp. 183ss; cf. die Aufzahlung der Vorbildstellen in Oxes Ausgabe.

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sodaB sie der genauen biblischen Reihenfolge entspechen, die im Carmen aus typologischen Griinden mehrfach durchbrochen wird: Micaelli spricht von «normalizzazione cronologica» und weist auf die Parallelen zwischen dem Carmen adversus Marcionitas und der didaktischen Literatur hin.26 Doch wenn schon das Carmen didaktische Ansatze zeigt, ist das bei Ps.- Victorinus noch weitaus starker der Fall: Der Leser dieses Doppelge- dichtes lernt zwar definitiv nicht, wie man ein gutes Gedicht schreibt, doch als Oberblick iiber biblische Geschichte ist der Text allemal brauchbar.

Selbst das Fehlen des Schopfungsberichtes braucht in diesem Zusammenhang nicht zu storen, handelt es sich doch urn den popularsten aller alttestamentlichen Themenkomplexe, den jeder prasumptive Schiiler auch ohne das Gedicht des Ps.-Victorinus kannte. Eine Funktion von De lege Domini und De nativitate etc. als Memorialverse wiirde sich auch in die generellen Entwicklungslinien der Gattung Bibeldichtung fiigen.

Bekanntlich nimmt die spatantike Bibeldichtung ihren Ausgang von einem starker paraphrasierenden Typ (Iuvencus, Heptateuchdichter) und befreit sich erst im Laufe der Zeit von diesen Bindungen, wie Sedulius oder Alcimus Avitus zeigen.27 Spater aber kehrt sich diese Entwicklung urn und fiihrt letztlich zu so manchem extrem paraphrastischen Bibelgedicht des Mittelalters, oder auch zu der sonderbaren Kombination eines Katenen- kommentars aus der Feder des Wigbod mit in Stiicke zerlegten Bibelge- dichten in karolingischer Zeit, klarlich ein ProzeB mit diaktischen Zielen.28 In diese sekundare Entwicklungslinie wiirde Ps.-Victorinus also fallen.

Zweitens kann auf ein theologisches Problem hingewiesen werden. Die

26 C. MICAELLI, Carmen adversus Marcionitas ... cit., pp. 187ss - Nur nebenbei sei dar- auf hingewiesen, da£ schon der Cento Probae sich selbst durch Zitate aus den Eklogen und vor aliem Georgica Vergils ausdriicklich als Lehrdichtung begreift, was aus dem Munde einer Frau den besonderen Grimm «ziinftiger Exegeten wie Hieronymus»

hervorrufen mu£te (R. JAKOBI, Vom Klassizismus ... cit., pp. 84-86; Zitat p. 86). Die interpolierten und umarrangierten Stelien am besten sichtbar in der Ausgabe von Oxe, die bei alien centonistischen Versen die Herkunft angibt.

27 Bekanntlich fiihrte diese Beobachtung zu der irrigen, in der Forschung aber gele- gentlich noch immer vertretenen Annahme, die Bibeldichtung insgesamt sei nichts weiter als ein Nebenprodukt paraphrastischer Schuliibungen der Spatantike. Doch waren im antiken Schulunterricht, soweit bekannt ist, poetische Paraphrasen gar nicht iiblich, und ganz allgemein wird niemand ernsthaft annehmen wollen, das gro£te und langlebigste epische Corpus der Literaturgeschichte entspringe lediglich dem Spleen eines offenbar ziemlich traumatisierenden Schulunterrichts.

28 Cf. G.E. KREuz, Pseudo-Hilarius ... cit., pp. 7-11. Erstmals hingewiesen wurde auf das Phanomen durch R. HERZOG, Die Bibelepik ... cit., pp. XXX-XXXII.

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einzige alttestamentliche Passage, die Ps.-Hil. und Ps.-Victorin. gemeinsam haben, ist der Bericht von Sundenfall und Sintflut, do ch zeigt sich hier auch ein entscheidender Unterschied: Fur Ps.-Hilarius ist die Sintflut der Angelpunkt, ab welch em si ch das Menschengeschlecht zum Besseren wen- det, bis Christus die letzten noch verbliebenen vestigia /raudis (Ps.-Hil., in gen. 203s) hinwegwascht. Das ist, gemessen an der Erbsundenlehre des Augustinus, vollkommen unorthodox; was freilich Ps.-Hil., einen am ehe- sten im Gallien der 450er oder 460er Jahre zu denkenden und dem soge- nannten Semipelagianismus nahestehenden Dichter, nicht im geringsten gestort haben wird. Fur Ps.~Victorinus als Dichter des sechsten, siebenten oder gar achten J ahrhunderts hingegen muBte Derartiges unertraglich sein.

Der alttestamentliche Bericht des Carmen adversus Ma rcio nitas , der das Gottesvolk die gesamte biblische Geschichte von Kain und Abel bis zur Geburt Christi als kontinuierlich unter der Sundenlast leidend darstellt und die Sintflut, entspechend augustinischer Theologie, bedeutungslos werden laBt, paBte ins theologische Konzept der Zeit: Man hat den Eindruck, daB Ps.-Victorinus ihn einfach in den altern Doppelgedicht- typus transplantierte, um dies en zeitgemaB zu uberarbeiten.

F aBt man nun zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Ausgehend von einer gleichsam externen Gegebenheit, der scheinbar symmetrischen Zwei- faltigkeit von Altem und Neuem Testament, die naturlich den Gedanken nahelegen muBte, sie in poetischer Form nachzubilden, entwickelt sich aus kleineren, no ch nicht restlos verselbstandigten Ansatzen (Carmen de laudi- bus Domini) eine in sich geschlossene Form, reprasentiert durch den Cento Probae und das auf ihm basierende, doch ungleich elaboriertere und mehr- schichtige Doppelgedicht des Pseudo-Hilarius. Die vollige Symmetrie die- ser Form ist nur insoferne nicht gegeben, als die alttestamentliche Halfte aus eingangs schon dargelegten Grunden stets die weniger determinierte, fur Experimente offenere bleibt, wahrend die neutestamentliche praktisch unverruckbar auf eine Evangelienharmonie ohne Abweichungen von der Norm festgelegt wird, sieht man von der souveranen teilweisen Uberlage- rung dies er Struktur durch das liturgisch-hymnische Konzept des Pseudo- Hilarius ab. Die so gefundene Form erweist sich als so tragfahig, daB sie von inhaltlichen Details unabhangig wird und sogar zum Rahmen fur eine Befullung mit neuen, soferne ins Grundkonzept passenden Inhalten wer- den kann, wie die vollige Neuorientierung der alttestamentlichen Halfte durch Ps.-Victorinus zeigt. Solcherart seine Unverwiistlichkeit demon- striert habend, war das alt-neutestamentliche Doppelgedicht reif fur seine weitere Entwicklung bis in die hohe Neuzeit.

Gottfried Eugen Kreuz

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