Parlamentarische Legitimation und praktische Wirksamkeit in
der COVID-19-Pandemie
Prof. Dr. Winfried Kluth
Vortrag im Rahmen der MER-Tagung „Die COVID-19-Pandemie:
Standpunkte aus Medizin, Ethik, Recht“
Pandemie und Recht – eine erste Annäherung
• Führt Pandemie zum „Ausnahmezustand“ mit all seinen historischen und verfassungsrechtlichen Konnotationen?
• Anders gewendet: kann der demokratische Verfassungsstaat trotz seines „erkrankten Körpers“ einen klaren Geist und kühlen Kopf behalten?
• Inwieweit haben sich Topoi wie „Die Krise ist die Stunde der Exekutive“ bewahrheitet – und was folgt daraus?
• Was können wir aus der bisherigen Staatspraxis lernen?
• Erleben wir eine „Aufkündigung der Moderne“? (H. Wissmann)
• Wie hat die Rechtswissenschaft die Entwicklung verarbeitet?
Gedankenschritte
• Strukturelle Besonderheiten der COVID-19-Pandemie aus dem Blickwinkel der staatlichen Gefahrenabwehr / Schutzpflicht
• Die Rolle(n) der Parlamente – Theorie und Praxis
• Handlungsmodus und Wirksamkeit – Entwurf einer Gerechtigkeits- und Effizienzmatrix für die Aufgabenverteilung
• Nicht thematisiert werden kann in diesem Vortrag die
Verhältnismäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Einzelmaßnahmen und die
Frage, ob es sich dabei um eine „Aufkündigung der Moderne“ durch
eine zu einseitige Orientierung an medizinischen Belangen und dem
Lebensschutz handelt (so H. Wißmann) – das ist ein zu weites Feld.
Strukturelle Besonderheiten der COVID-19-Pandemie
... und ihre Auswirkungen auf die Anforderungen an die staatliche Gefahrenabwehr.
Ein Blick auf die Merkmale
• Klein und unsichtbar
Mathematiker berechnet
Alle weltweit grassierenden Coronaviren passen in eine halbe Cola-Dose
• Die zugleich omnipräsente und kaum lokalisierbare Gefahr – die Welt der Statistiken – jeder ist potenziell gefährlich
• Plötzliche Gefahr – ein Superspreader-Event ändert die Lage in einer
Region von heute auf morgen
Besondere Merkmale
• Varianz des Symptome
• Varianz der Verläufe
• Widerspruch von Schutzmaßnahmen zu sozialen Konventionen
• Schwierigkeit der Herausbildung sicherer Schutzmaßnahmen und ihrer strikten Beachtung
• Schnelle Mutationsentwicklung
• Erhebliche Reichweite und Tiefe der sozialen und sonstigen
Beschränkungen (Intensitätsmerkmal)
Besonderheiten aus der Sicht der Gefahrenabwehr
Herkömmliches Muster
• Personell, örtlich und zeitlich eher eng radiziert
• Bewältigung mit erprobten Maßnahmen und Strategien
• Selbst das Infektionsrecht geht bisher von diesen Merkmalen aus (anders das
Tierseuchenrecht)
COVID-19-Pandemie
• Schwierige personelle und räumliche Eingrenzung
• Gesamtgesellschaftliche
“Kontaktminimierung“ als primäres Steuerungsziel
• Isolierung von Infizierten als
sekundäres Steuerungsziel
Folgen für Staat und Bürger
Staatliche Perspektive
• Komplexität der Aufgabe hinsichtlich Entscheidungs- findung und Umsetzung
• Spannung zwischen Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit
• Wahl der richtigen
Entscheidungsebene (zentral / dezentral) und Instrumente
Private Perspektive
• Schwere und Dauer der Beschränkungen
• Existenzielle Gefährdungen vor allem in wirtschaftlichen Bereich
• Hohe psychische Belastungen und ungewisse Perspektiven
• Abkehr von sozialen Praktiken
Organkompetenzen
• Im parlamentarischen Regierungssystem ist die Arbeit von Regierung und Parlamentsmehrheit eng verwoben.
• Das parlamentarische Verfahren der Gesetzgebung und
Regierungskontrolle dient damit vor allem der Einbeziehung der Opposition und der Transparenz.
• Zudem sind bestimmte gewichtige Entscheidungen dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten.
• Ist diese Rollenverteilung gefährdet (gewesen)?
Die Rolle(n) der Parlamente
... zwischen Legitimation, Kontrolle und Innovation
DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR GESETZGEBUNG
Leitlinien für die Gesetzgebung in Covid-19-Krisenzeiten(9. April 2020)
Die Covid-19-Pandemie stellt nicht nur eine große Herausforderung für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat dar, sondern erschwert insbesondere kollegiale Beratungen und Entscheidungen von Parlament und Regierung. Die Deutsche Gesellschaft für Gesetzgebung nimmt das zum Anlass, Leitlinien für parlamentarische und exekutivische Gesetzgebung zu formulieren. Ausgehend von den Grundentscheidungen des Grundgesetzes sollen sie zeigen, wie Parlament und Regierung in dieser Situation die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat gewährleisten.
Das Grundgesetz legt die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens weitgehend in die Hand des Parlaments. Diese Freiheit ist Bestandteil derGeschäftsordnungsautonomieund der parlamentarischen Praxis. Das Parlament kann etwa die Voraussetzungen seiner Beschlussfähigkeit im Rahmen der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen absenken. Das ist im Rahmen der Infektionsbekämpfungsgesetzgebung bereits geschehen. Es kann auch den Zeitrahmen wie den Verfahrensablauf seiner Entscheidungen der Krisenlage anpassen. Das ist wichtig. Denn die Infektionsschutzregeln stehen einer Versammlung größerer Personengruppen – wie des Plenums oder der Ausschüsse – entgegen. Neue technische Beratungsformen sind notwendig.
Mit Blick auf die zentrale Funktion des Parlamentsgesetzes müssen Kerngehalte des Gesetzgebungsverfahrens auch in der Krise gewahrt werden. Das betrifft insbesondere die öffentliche Debatte und die Beratung unter Einbeziehung von Kritik und alternativen Handlungskonzepten. Krisenlagen lösen keinen Zwang zum Kritikverzicht aus. Gerade in der Krise ist die Thematisierung von Alternativen ein wichtiger Beitrag zur Erweiterung des Wissens und zur Erörterung von Wertungsstandpunkten. Eine Zustimmung zum Mehrheitsvorschlag nach einer Debatte ermöglicht aber auch die Signalisierung der Verantwortungsmitüberahme durch die Opposition. Zugleich sollten die Möglichkeiten der öffentlichen Teilhabe an parlamentarischen Debatten, die digitale Kommunikationsinstrumente eröffnen, eher noch stärker als in Normalzeiten genutzt werden, um das demokratische Leben sichtbar zu machen. DieEinbeziehung des Nationalen Normenkontrollrates erweist sich gerade bei schnellen Entscheidungskorrektiv hinsichtlich der Bürokratiekosten als bedeutsam.