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Ausbruchsgeschehens der COVID-19-Pandemie

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Leitthema

Bundesgesundheitsbl 2021 · 64:1058–1066 https://doi.org/10.1007/s00103-021-03390-1 Eingegangen: 9. März 2021

Angenommen: 1. Juli 2021 Online publiziert: 30. Juli 2021

© Der/die Autor(en) 2021

Viola Priesemann1· Michael Meyer-Hermann2· Iris Pigeot3,4· Anita Schöbel5,6

1Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen, Deutschland

2Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Braunschweig und Technische Universität Braunschweig, Braunschweig, Deutschland

3Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Bremen, Deutschland

4Fachbereich Mathematik und Informatik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland

5Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM, Kaiserslautern, Deutschland

6Fachbereich Mathematik, Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland

Der Beitrag von

epidemiologischen Modellen zur Beschreibung des

Ausbruchsgeschehens der COVID-19-Pandemie

Einleitung

Nach dem globalen Ausbruch der COVID-19-Pandemie Ende 2019 und der Meldung des ersten Falls in Deutsch- land am 27.01.2020 entwickelte sich ei- ne Infektionsdynamik von immensen Ausmaßen. Im März 2020 wurden in Deutschland zahlreiche Maßnahmen be- schlossen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt bestimmte Eigen- schaften des Virus bereits mehr oder weniger bekannt waren, beruhten die Maßnahmen zum Teil auf Vermutungen bzgl. möglicher Treiber der Infektions- dynamik und der Übertragungswege, da die Datenlage nicht ausreichend war, um eine bessere Grundlage für evidenz- basierte Entscheidungen zu bekommen.

Noch heute, im Frühjahr 2021, fehlen in vielen Bereichen systematische epi- demiologische Studien (s. auch [1]), mit denen z. B. die Wirksamkeit einzel- ner Maßnahmen nachgewiesen werden könnte.

Mathematisch-statistische Modelle benötigen verlässliche Informationen zum Infektionsgeschehen, um möglichst belastbare Vorhersagen bzgl. des wei- teren Verlaufs der Pandemie treffen zu

können. Die Komplexität der Modelle kann sich daher nur Hand in Hand mit der Komplexität der zur Verfügung ste- henden Daten entwickeln. Die Modelle waren und sind ein wertvolles Werkzeug im Pandemiemanagement, da sie zur Abschätzung von zukünftigen Entwick- lungen der Pandemie eingesetzt werden können. So bieten epidemiologische Mo- delle die Möglichkeit, unter Ausnutzung von vorliegenden Daten bestimmte Sze- narien z. B. bezüglich der Auswirkungen des Lockdowns oder einzelner Eindäm- mungsmaßnahmen „durchspielen“ zu können.

In den folgenden Abschnitten wird nach einer Abgrenzung zweier grund- sätzlicher Modellklassen, der sogenann- ten Kompartmentmodelle und der agen- tenbasierten Modelle, der Beitrag epide- miologischer Modelle zur Beurteilung verschiedener zentraler Aspekte des Pan- demieverlaufs, wie z. B. Reproduktions- zahl, Dunkelziffer und Infektionssterb- lichkeit, sowie zur Berücksichtigung der Regionalität aufgezeigt. Anschlie- ßend wird der Einsatz der Modelle zur Quantifizierung der Wirkung von Maßnahmen und der Effekte der Stra- tegie des Testens, Nachverfolgens und Isolierens („test-trace-isolate strategy“)

beschrieben. In der abschließenden Dis- kussion werden die Limitationen solcher Modellierungsansätze ihren Vorteilen gegenübergestellt.

Modellierung der COVID-19- Pandemie

Die Dynamik einer Pandemie kann mit mathematischen Modellen beschrieben werden. Der klassische Ansatz des Kom- partmentmodells basiert auf Differenzi- algleichungen, in denen die Menschen nicht individuell, sondern als Menge be- schrieben werden, die sogenannten SIR- und SEIR-Modelle ([2,3,.Abb.1]).

Diese Abkürzungen stehen für 4 ver- schiedene Krankheitsstufen: Die Suszep- tiblen (S) sind empfänglich für das Virus, die Exponierten (E) tragen es, die Infekti- ösen (I) geben es weiter und die Genese- nen („recovered“, R) tragen nicht mehr zur Ausbreitung bei, weil sie z. B. im- mun sind. In die Gleichungen setzt man dann die Übergangsraten von einer in die nächste Stufe ein. Diese Modelle sind gut geeignet, um größere Strukturen, wie zum Beispiel Deutschland als Ganzes, zu betrachten. In solchen Kontexten bezie- hen sie sich auf hinreichend viele Men- schen, sodass die gemachte Näherung gut

(2)

Exposed

E

Infectious

I

Recovered

R

Susceptible

S

Epidemiologische Kompartimente

Zeitlicher

Verlauf infiziert infektiös symptomatisch erfasst

Inkubationszeit Latenzperiode

Meldeverzug infiziert

Reproduktionsrate

Abb. 18Zeitlicher Verlauf einer Infektion unter Berücksichtigung des Meldeverzugs alsGrundlage für die Entwicklung eines abstrakten Modells zur Berechnung der Pandemiedynamik (hier SEIR-Modell, Kompartmentmodell). Die Reproduktionsrate bildet eine Rückkopplungsschleife und gibt damit an, wie schnell sich das Virus ausbreitet. (Abbildung modifiziert aus Dehning et al. [3])

zu rechtfertigen ist. Allerdings gehen rea- le Kontakte hier nur phänomenologisch ein: Da die Menschen in dem Modell nicht einzeln abgebildet sind, können sie auch keine echten Kontakte haben. Dafür ist dieses Modell analytisch lösbar und braucht wenig Rechenkapazität.

Alternativ können reale Kontaktda- ten auch verwendet werden, um soge- nannte agentenbasierte Modelle (ABM) zu entwickeln [4]. In ABM entspricht je- der Agent einer Person. Es werden Kno- ten definiert und zu einem Netzwerk verbunden. Solche Knoten stellen zum Beispiel Wohnungen, Supermärkte, Ge- schäfte, Schulen, Arbeitsplätze, Kranken- häuser und Kulturstätten dar, also Orte, an denen sich Menschen aufhalten kön- nen. Jeder Agent befindet sich immer in einem der Knoten und kann sich von Knoten zu Knoten bewegen. Diese Be- wegungen werden nach Tageszeit auf- gelöst: Eine Person ist z. B. morgens zu Hause, geht dann zum Knoten Arbeits- platz, abends zum Knoten Supermarkt und ist dann wieder zu Hause. Die Haus- halte werden in der Personenzahl und der Alterszusammensetzung so gewählt, wie es der beschriebenen Region entspricht.

Diese tägliche Bewegung der Agenten zwischen den Knoten erzeugt Kontak- te zwischen den Agenten. Die Zahl der Kontakte wird für jeden Knoten spezi- fisch aus gemessenen Kontaktdaten ab- geleitet [5]. Damit ist dem Modell nicht

nur jeder Kontakt bekannt, sondern auch der Ort und die Zeit des Kontakts.

Um in ABM Infektionen zu beschrei- ben, wird jedem Agenten ein Gesund- heitszustand zugeordnet. Jeder Agent durchlebt die Infektionen, so wie es die öffentlich zugänglichen Daten über den Infektionsverlauf vorgeben. Ins- besondere wird der Krankheitsverlauf altersabhängig „ausgewürfelt“. Das führt auch zu verändertem Verhalten in dem Sinne, dass ein kranker Agent z. B. den Knoten Arbeitsplatz nicht aufsuchen wird oder dass sich Agenten anstecken, bevor Symptome aufgetreten sind. Da sich mit SARS-CoV-2 Infizierte bereits vor Ausbruch der Symptome ansteckend sein können, sind auch Agenten im Mo- dell ohne Symptome bereits ansteckend.

Wenn diese verschiedene Knoten auf- suchen und Kontakte haben, entstehen im Modell Infektionsketten. Bei einer identifizierten Infektion wird der zuge- hörige Agent zu Hause isoliert und es ist möglich, mit beliebiger Präzision die Kontakte der erkrankten Person zurück- zuverfolgen, da in der ABM-Simulation jeder Kontakt bekannt ist.

Grundlegende Aspekte der Modellierung

Berechnung der Reproduktions- zahl R

Die effektive Reproduktionszahl, um- gangssprachlich R-Wert, quantifiziert, wie viele Menschen von einer infizierten Person im Mittel angesteckt werden. Im Einzelfall kann das keine/r sein oder auch sehr viele. Für die Ausbreitung ist vornehmlich der Mittelwert wichtig: Ist Reffektiv kleiner als 1, dann gehen die Fallzahlen exponentiell zurück, istRgrö- ßer als 1, dann wachsen sie exponentiell.

Wie schnell sie wachsen oder zurückge- hen, hängt sowohl vom genauenR-Wert ab als auch von der Generationszeit. Das kann man sich leicht verdeutlichen: Star- tet man mit 100 Infizierten in einer sehr großen Population, dann stecken diese im Mittel nach einer GenerationszeitR * 100 Menschen an. NachkGenerationen erhält man alsoRk-mal mehr Infizierte.

Ein solches Wachstum wird durch eine Exponentialfunktion beschrieben: Diese wächst exponentiell, wennRgrößer als 1 ist, und geht exponentiell zurück, wenn Rkleiner als 1 ist. Wenn ein relevanter Anteil der Bevölkerung immun ist, dann geht der effektiveR-Wert zurück.

Die effektive Reproduktionszahl R kann man grob abschätzen, indem man die Anzahl der NeuinfektionenN(t)zu ei- nem Zeitpunkttdurch die Anzahl 4 Tage vorher dividiert: R̂ = N(t) /N(t−4).

Diese 4 Tage entsprechen der vom Ro- bert Koch-Institut (RKI) angenomme- nen Generationszeit von SARS-CoV-2.

Um statistische Schwankungen zu glät- ten, kann man entweder über mehrere Tage den Mittelwert berechnen [6] oder ein Inferenzmodell nutzen [3, 7, 8].

In der einfachsten Rechnung nimmt man an, dass der Eintrag neuer Fälle von außen,H(t),sehr gering ist. Nimmt man dagegen an, dass dieser Eintrag je Generationszeit relevant ist, dann sollte er auf geeignete Weise in die Berechnung einfließen, denn dann er- gibt sich die Fallzahl N(t) als N(t) = RN(t−4) +H(t) und der R-Wert somit alŝR= (N(t) −H(t))/N(t−4).

Alternativ, kann derR-Wert aus SEIR- Modellen analytisch berechnet werden

(3)

[9]. Die Entwicklung des R-Werts von dem Beginn der Pandemie bis Ende Februar 2021 ist in.Abb.2dargestellt.

Im Gegensatz zum effektivenR-Wert, der vom Anteil immuner Personen und vom Verhalten der Bevölkerung abhängt, gibt die Basisreproduktionszahl R0 an, wie stark sich das Virus ausbreitet, wenn eine Bevölkerung sich „normal“ verhält und kein Mitglied gegenüber dem Virus immun ist. Da es eine solche Normbevöl- kerung nicht gibt, variiert dieser Wert von Region zu Region und kann nur mit ei- ner gewissen Unsicherheit bestimmt wer- den. Für Europa wird typischerweise bei der ursprünglichen Variante von SARS- CoV-2 von einemR0von 2,8–3,8 ausge- gangen [10].

Auswirkung der Dunkelziffer

Gerade bei COVID-19 verläuft ein nen- nenswerter Teil der Infektionen (fast) symptomlos oder nur mit sehr leichten Symptomen, sodass infizierte Personen leicht übersehen werden können. Es ist daher anzunehmen, dass die Anzahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten die ge- meldeten Fallzahlen deutlich übersteigt.

Diese sogenannte Dunkelziffer gibt an, mit welchem Faktor man die gemelde- ten Fallzahlen multiplizieren muss, um die tatsächlichen Fallzahlen zu erhalten.

Neben Antikörpertests aus Blutproben kann man eine Untergrenze für die Dunkelziffer auch mit mathematischen Modellen basierend auf altersabhängi- gen Prävalenzen schätzen [11]. Dennoch bleibt die Dunkelziffer eine Unbekannte.

Sind nun alle Ergebnisse der epide- miologischen Modelle wegen der fehlen- den Dunkelziffer mit großer Vorsicht zu genießen? Das ist erfreulicherweise nicht der Fall, da die Dunkelziffer nur dann eine Auswirkung auf die Simulationen hat, wenn sich ein Großteil der Bevölke- rung schon infiziert hat. Dazu betrachten wir zwei konkrete Fragestellungen an- hand eines Beispiels genauer. Es geht um die Schätzung des weiteren Pandemie- verlaufes am 19.10.2020, zu Beginn der Herbstwelle. An diesem Tag hielt die Bun- deskanzlerin im Fernsehen eine Rede, in der sie die Bevölkerung bat, vorsichtig zu sein. Rückblickend wissen wir, dass u. a.

diese Rede und die nachfolgenden Lock-

Zusammenfassung · Abstract

Bundesgesundheitsbl 2021 · 64:1058–1066 https://doi.org/10.1007/s00103-021-03390-1

© Der/die Autor(en) 2021

V. Priesemann · M. Meyer-Hermann · I. Pigeot · A. Schöbel

Der Beitrag von epidemiologischen Modellen zur Beschreibung des Ausbruchsgeschehens der COVID-19-Pandemie

Zusammenfassung

Nach dem globalen Ausbruch der COVID-19- Pandemie entwickelte sich eine Infektionsdy- namik von immensen Ausmaßen. Seitdem wird versucht, das Infektionsgeschehen mit zahlreichen Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Das gelang im Frühjahr 2020 sehr gut, während im darauffolgenden Herbst die Anzahl der Infektionen stark anstieg. Zur Vorhersage des Infektionsgeschehens werden epidemiologische Modelle eingesetzt, die grundsätzlich ein sehr wertvolles Werkzeug im Pandemiemanagement sind.

Allerdings beruhen sie teils immer noch auf Vermutungen bzgl. der Übertragungswege und möglicher Treiber der Infektionsdynamik.

Trotz zahlreicher einzelner Ansätze fehlen auch noch heute in vielen Bereichen systematische epidemiologische Daten, mit denen z. B. die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen nachgewiesen werden könnte.

In Studien generierte Daten werden aber benötigt, um möglichst belastbare Vorhersagen bzgl. des weiteren Verlaufs der Pandemie treffen zu können. Dabei

entwickelt sich die Komplexität der Modelle Hand in Hand mit der Komplexität der zur Verfügung stehenden Daten. In diesem Artikel wird nach einer Abgrenzung zweier grundsätzlicher Modellklassen der Beitrag epidemiologischer Modelle zur Beurteilung verschiedener zentraler Aspekte des Pan- demieverlaufs, wie z. B. Reproduktionszahl, Dunkelziffer, Infektionssterblichkeit, sowie zur Berücksichtigung der Regionalität aufgezeigt. Anschließend wird der Einsatz der Modelle zur Quantifizierung der Wirkung von Maßnahmen und der Effekte der Strategie des Testens, Nachverfolgens und Isolierens („test-trace-isolate strategy“) beschrieben. In der abschließenden Diskussion werden die Limitationen solcher Modellierungsansätze ihren Vorteilen gegenübergestellt.

Schlüsselwörter

Agentenbasierte Modelle · Dunkelziffer · In- fektionssterblichkeit · Kompartmentmodelle · Reproduktionszahl

The contribution of epidemiological models to the description of the outbreak of the COVID-19 pandemic

Abstract

After the global outbreak of the COVID-19 pandemic, an infection dynamic of immense extent developed. Since then, numerous measures have been taken to bring the infec- tion under control. This was very successful in the spring of 2020, while the number of infections rose sharply the following autumn.

To predict the occurrence of infections, epidemiological models are used. These are in principle a very valuable tool in pandemic management. However, they still partly need to be based on assumptions regarding the transmission routes and possible drivers of the infection dynamics. Despite numerous individual approaches, systematic epidemiological data are still lacking with which, for example, the effectiveness of individual measures could be quantified. Such information generated in studies is needed to enable reliable predictions regarding the further course of the pandemic. Thereby, the

complexity of the models could develop hand in hand with the complexity of the available data. In this article, after delineating two basic classes of models, the contribution of epidemiological models to the assessment of various central aspects of the pandemic, such as the reproduction rate, the number of unreported cases, infection fatality rate, and the consideration of regionality, is shown.

Subsequently, the use of the models to quantify the impact of measures and the effects of the “test–trace–isolate” strategy is described. In the concluding discussion, the limitations of such modelling approaches are juxtaposed with their advantages.

Keywords

Agent-based models · Dark figure · Infection fatality rate · Compartmental models · Reproductive number

(4)

Abb. 28Die Reproduktionszahl im Verlauf der Pandemie. Sie wurde analytisch aus einem auf SARS-CoV-2 angepassten ma- thematischen Modell des SEIR-Typs auf der Basis der beim Robert Koch-Institut gemeldeten Fälle berechnet [9]. Die Flaggen zeigen die Umsetzung bestimmter nichtpharmakologischer Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie an

Abb. 38Einfluss verschiedener exemplarischer Dunkelziffern auf Vorhersagen des Pandemieverlaufs in Deutschland bei Fortsetzung des Verhaltens. Schätzungen ab dem 19.10.2020 zu Beginn der Herbstwelle im Vergleich zum echten Verlauf (graue Linie).asehr geringer Einfluss der Dunkelziffern in den nächsten Wochen,bstarker Einfluss der Dunkelziffern über einen längeren Zeitraum

(5)

Leitthema

downs zu Verhaltensänderungen führ- ten. Wir nutzen diesen Tag jetzt, um zu illustrieren, was passiert wäre, wenn wir unser Verhalten nicht geändert hätten, und welche Auswirkung die Dunkelzif- fer dabei hätte.

Dazu werden in.Abb.3die drei Dun- kelziffern 3, 4 und 6 betrachtet, also dass sich 3-, 4- oder 6-mal mehr Personen infizieren, als man entdeckt. Die graue Linie zeigt zum Vergleich den tatsächli- chen Infektionsverlauf, bei dem wir unser Verhalten geändert hatten.

4In der Vergrößerung auf der linken Seite der Abbildung sieht man, dass die Vorhersage am 19.10-2020 für die nächsten Wochen von der Dunkel- ziffer nur wenig beeinflusst wird: Die drei Kurven für die Dunkelziffern liegen dicht beieinander. Das gilt so auch für andere Verhaltensannah- men.

4Dagegen hat die Dunkelziffer große Auswirkungen, wenn man den Ver- lauf der Pandemie bis zu ihrem Ende bedingt durch Populationsimmu- nität oder endemische Ausbreitung simuliert. Die Abbildung zeigt, dass sich die drei Kurven immer un- terschiedlicher verhalten, je mehr Personen (unentdeckt) infiziert wur- den. Die Kurven werden konstant, wenn eine Populationsimmunität („Herdenimmunität“) erreicht ist, sodass das Virus sich nicht mehr wei- ter ausbreiten kann. Als Faustregel gilt, dass der Anteil der immuni- sierten Personen mindestens 1-1/R0

betragen muss, wobeiR0die oben genannte Basisreproduktionszahl der Krankheit ist. FürR0= 3 ergibt sich, dass mindestens 2/3 der Bevölkerung Antikörper aufbauen müssen. Für eine Dunkelziffer von 3 ist dieser Zu- stand erreicht, wenn man ca. 18 Mio.

Infizierte entdeckt hat, bei einer Dun- kelziffer von 4, wenn man 13,5 Mio.

Infizierte entdeckt hat, und bei einer Dunkelziffer von 6 sogar schon, wenn man 9 Mio. Infizierte entdeckt hat.

Einfluss des Alters auf Sterberaten und Infektionsdynamik

Die Wahrscheinlichkeit, an einer Infekti- on mit COVID-19 zu versterben, ist stark

vom Alter der Infizierten abhängig. Dabei unterscheidet man zwischen der Falls- terblichkeit („case fatality rate“ [CFR]), die das Verhältnis von Todesfällen zu gemeldeten Krankheitsfällen beschreibt, und der Infektionssterblichkeit („infec- tion fatality rate“ [IFR]), die das Ver- hältnis von Todesfällen zur Anzahl der Infizierten angibt. Die beiden Werte un- terscheiden sich also durch die Dunkel- ziffer, die bei der Berechnung der Infek- tionssterblichkeit mit einbezogen wird.

Studien zeigen [12–14], dass sich die In- fektionssterblichkeit mit jeweils zusätzli- chen 20 Lebensjahren etwa verzehnfacht.

Das folgende Beispiel illustriert, wie dras- tisch die Sterbewahrscheinlichkeit im Al- ter zunimmt: Liegt die Infektionssterb- lichkeit für eine Person mit 40 Jahren also zum Beispiel bei rund 0,05 %, sind es im Alter von 60 Jahren schon 0,5 % und im Alter von 80 Jahren sogar 5 %.

Diese Verzehnfachung zeigt sich auch anhand der RKI-Daten (siehe [13]). Bei der Schätzung der Todesfälle muss da- her die Altersverteilung der SARS-CoV- 2-Infektionen unbedingt berücksichtigt werden. Das klingt einfach, ist es aber nicht, da sich diese Verteilung dynamisch ändern kann. Das hat sich im Jahr 2020 in Deutschland gezeigt: Im Sommer wa- ren vor allem jüngere Personen von der Infektion betroffen, sodass die Fallsterb- lichkeit bei unter 0,3 % (z. B. Kalender- woche 36) lag. In der zweiten Welle im Winter waren die Älteren deutlich stär- ker betroffen; die Fallsterblichkeit stieg auf rund 4 % (Kalenderwoche 53; [15]).

Die Alterskohorten sind nicht nur wichtig, um die Sterblichkeiten differen- ziert zu berechnen, sondern auch um die weitere Ausbreitung der Pandemie abschätzen zu können. In epidemiologi- schen Modellen kann dazu eine (nicht zu große) Zahl interagierender Gruppen frei gewählt werden. Diese Gruppen können auch genutzt werden, um Kontaktraten besser zu modellieren: So haben Schul- kinder eine größere Anzahl an Kontakten als die Gruppe der über 80-Jährigen. Pro Altersgruppe wird die Zahl der jemals Infizierten als Zeitreihe gespeichert. Un- ter der Annahme fester Perioden für Inkubation und infektiöse Phase lässt sich daraus pro Gruppe die Zahl der aktuell Infektiösen und der projizierten

Sterbefälle berechnen und über Kon- taktraten innerhalb und zwischen den Altersgruppen die Zahl der Neuinfek- tionen besser abschätzen. Diese werden mit den aktuell gemeldeten Zahlen ver- glichen, sodass die Modellparameter im Laufe der Simulation angepasst werden können.

Berücksichtigung der Regionalität

Die Regionalität ist in einer Pandemie ein wesentlicher Aspekt. Jede Region weist eine eigene Infrastruktur auf, eine spezi- fische Demografie sowie Besonderheiten wie spezielle Industrien, die das Infekti- onsgeschehen beeinflussen. Daher ist es für das Verständnis der Pandemie wich- tig, diese Besonderheiten in der Bewer- tung eines Ausbruchs zu berücksichti- gen. Dies ist insbesondere dann wich- tig, wenn die Pandemie in unterschiedli- chen Regionen unterschiedlich stark ver- läuft. Kompartmentmodelle und ABM erlauben eine regionale Betrachtung. Es ist naheliegend, dass man sich mit SIR- Modellen weniger auf die Besonderhei- ten der Region selbst, sondern eher auf die Beschreibung von Bewegungen zwi- schen Regionen fokussiert [16]. In ABM kann man die Besonderheiten der Re- gion durch die Auswahl und die Bele- gung der Knoten kleinräumig bzw. den lokalen Gegebenheiten angepasst abbil- den, wie z. B. die lokal vorhandene Zahl von Supermärkten und Schulen bei gege- bener Zahl der Einwohner sowie deren Demografie. So kann die Abhängigkeit der Pandemievorhersagen von den lo- kalen Spezifika untersucht werden: Wie wirkt sich etwa ein stärkeres Zusammen- leben von verschiedenen Generationen im gleichen Haushalt in einer Region auf die Pandemie und auf die Sterbe- zahlen aus? Wie wirkt sich ein großer lokaler Arbeitgeber auf das Pandemiege- schehen aus? Was sind die besten Maß- nahmen, wenn sich lokal ein Ausbruch in einem solchen großen Betrieb entwickelt im Vergleich zu kleinen verteilten Infek- tionsgeschehen? All diese Fragen können mit ABM, die hinreichend genau auf die jeweils betroffene Region angepasst wur- den, beantwortet werden. Die so an die jeweilige Region angepassten Simulatio- nen können helfen, effiziente und ange-

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Abb. 48Auswirkung von Kontaktreduktion um 50 % zu verschiedenen Zeitpunkten auf den Pan- demieverlauf. Agentenbasierte Simulation während des erneuten exponentiellen Anstiegs der Fall- zahlen im Oktober 2020. Die Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner bleiben nach der je- weiligen Kontaktreduktion auf konstantem Niveau. Um die Neuinfektionen zu senken, müssten die Kontakte demnach um mehr als die Hälfte reduziert werden. Gezeigt sind Mittelwerte und Standard- abweichungen von 100 Simulationen mit je 100.000 Menschen. Die Übertragungswahrscheinlichkeit pro Kontakt wurde durch die gemessenen Fallzahlen in den ersten 2 Wochen des Oktobers 2020 be- stimmt

messene Maßnahmen zur Eindämmung von Infektionsausbrüchen zu empfehlen.

Quantifizierung von Eindämmungsmaßnahmen Abschätzung der Wirkung von Eindämmungsmaßnahmen

Solange nicht ausreichend Impfstoff oder effektive Behandlungen für COVID-19 bereitstehen, kann die Ausbreitung durch nichtpharmakologische Interventionen (NPI) verlangsamt werden. Die NPI richten ihre Wirkung darauf, die Über- tragung des Virus bei einem Kontakt weniger wahrscheinlich zu machen und insgesamt die Anzahl der Kontakte zu reduzieren (.Abb.4). Dazu gehören also auf der einen Seite die AHA + LA- GGG-Maßnahmen (Achten auf Ab- stand, Hygiene, Alltagsmaske + Lüften und Verwendung der App; Vermeiden von geschlossenen Räumen, Gruppen und Gedränge sowie lebhaften Gesprä- chen dicht an dicht) und auf der anderen Seite konkrete Verordnungen, wie das Schließen von Restaurants, Bildungsein- richtungen, Einzelhandel, Nutzen des Homeoffice, wo es möglich ist, sowie Kontaktbeschränkungen im Privaten.

Das Ziel ist, mit einer Kombination die-

ser NPI den effektivenR-Wert auf oder unter 1 zu bringen.

Wie schätzt man nun die Wirkung von NPI aus Daten? In einem kontrol- lierten Labor- oder Feldexperiment wür- de man eine NPI randomisiert anwen- den und die Wirkung mit Kontrollex- perimenten oder -gruppen vergleichen.

Aufgrund der Dringlichkeit bei COVID- 19 wurden solche Studien nicht realisiert.

Deswegen nutzen wissenschaftliche Ana- lysen den Vorteil sogenannter natürlicher Experimente, bei denen die Probanden aufgrund von ungeplanten, natürlichen Ereignissen in Experimentalgruppe und Kontrollgruppe eingeteilt werden: Ver- schiedene Länder weltweit haben ver- schiedene Kombinationen von NPI zu verschiedenen Zeiten eingesetzt [7,8,17, 18]. Welche Länder welche NPI genutzt haben, findet sich z. B. in [19,20].

Start und Ende dieser NPI setzt man dann zur Entwicklung der täglichen Fall- zahlen ins Verhältnis (Infektions-, Kran- kenhaus- oderSterbezahlen). In einersol- chen Analyse werden also die Zeitspanne der verschiedenen NPI sowie die Dy- namik der Ansteckung (Inkubationspe- riode, Meldeverzögerung etc.) berück- sichtigt. Um dann die Wirkung der NPI abzuschätzen, verwendet man Bayesia- nische Inferenzverfahren, die viele Vari-

anten eines SIR- oder SEIR-Modells und der NPI-Stärken durchspielen. Als Er- gebnis erhält man dann die Parameter, die die Daten am besten erklären, sowie deren Glaubwürdigkeitsintervalle. Man kann sich dieses Vorgehen als eine kom- plexe Erweiterung klassischer Regressi- onsmethoden vorstellen.

Anstatt die Wirkung der NPI aus den Fallzahlen abzuschätzen, können auch andere Daten, wie z. B. Bewegungsda- ten und Aufenthaltsorte, genutzt werden.

Die Mobiltelefonbewegungsdaten wur- den z. B. in einer US-amerikanischen Stu- die genutzt, um zu untersuchen, wann sich Personen wie lange an bestimm- ten Orten aufgehalten haben [21]. Als Ergebnis konnte man abschätzen, dass insbesondere Ansteckungen in Restau- rants, in Fitnessstudios, Cafés, Hotels und bei religiösen Veranstaltungen stattfan- den. Nimmt man den gesamten Einzel- handel zusammen, dann trug er eben- so viel bei. Schulen konnten in diesem Zusammenhang nicht explizit untersucht werden, da insbesondere jüngere Schüler nicht alle über Mobiltelefone verfügten.

Schulen sind allerdings in einem anderen Kontext aufgefallen: Im Vereinigten Kö- nigreich gab es im November 2020 einen umfassenden Lockdown, jedoch blieben die Schulen offen. Gleichzeitig wurden im Land jede Woche rund 100.000 Zufalls- tests durchgeführt, sodass ein objektiver Datensatz zur Krankheitsausbreitung in allen Altersgruppen vorlag. Dabei zeigte sich, dass der Anteil positiver Tests in der gesamten Bevölkerung bei rund 1 % lag, während er bei Schülern 2 % und sogar höher war [22]. Nach der Schulschlie- ßung hat sich dieser Anteil an den der anderen Altersklassen wieder angepasst [23]. Das ist ein klarer Hinweis auf An- steckungen in den Schulen und darauf, dass Schulen die Treiber der Ausbreitung werden, wenn alle anderen Bereiche ge- schlossen sind. Sind andere Bereiche je- doch offen, dann scheinen Schulen etwa ebenso viel wie andere Bereiche zur Aus- breitung beizutragen [24].

Speziell für Deutschland berichtet das Robert Koch-Institut, in welchem Kontext Ansteckungen vermutlich statt- gefunden haben. Solche Datensätze sind ebenfalls informativ, jedoch muss man beachten, dass diese auf subjektiven

(7)

Leitthema

Interventionsbeginn Interventionsbeginn

Interventionsbeginn Interventionsbeginn

Erfasste Fälle Erfasste Fälle Erfasste Fälle

Keine Kontaktreduktion Schwache Kontaktreduktion

Täglicherfasste NeuinfektionenGesamtzahlder erfasstenNeuinfektionen

Tage seit Interventionsbeginn Tage seit Interventionsbeginn Tage seit Interventionsbeginn

rateAusbreitungs-

Starke Kontaktreduktion

ab Tag 0 mit langsamem Übergang

ab Tag 5 mit gemäßigtem Übergang

ab Tag -5 mit schnellem Übergang

Starke Kontaktreduktion: Schwache Kontaktreduktion:

a b c

Abb. 58Der Verlauf der täglichen Neuinfektionen hängt vonader Stärke der Intervention,bvom genauen Zeitpunkt und cvon der Geschwindigkeit der Umsetzung ab. Die blauen Rauten stellen exemplarisch die Fallzahlen von März 2020 dar.aMit einer starken Kontaktreduktion (grün) gehen die Neuinfektionen bald zurück. Eine geringere Kontaktreduktion (orange) kann das exponentielle Wachstum nur bremsen, nicht umkehren.bWird die Kontaktreduktion fünf Tage früher oder später durch- geführt, vervielfacht sich die Anzahl der Neuinfektionen drastisch, bevor die Ausbreitung gedämpft wird.cOb die Kontakt- reduktion schnell (braun) oder langsam (blau) umgesetzt wird, beeinflusst die Ausbreitung kaum – solange der Mittelpunkt der Intervention derselbe ist. (Abbildung modifiziert von Dehning et al. [7], veröffentlicht unter der CC-BY 4.0 Lizenz: https://

creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

Berichten beruhen und nur begrenzt verallgemeinert werden können.

Wie wirksam ist nun jede einzelne Maßnahme? Nimmt man viele Studien zusammen, dann zeigt sich, dass jedes der größeren Maßnahmenpakete (Verbot von größeren Treffen und Veranstaltun- gen, Schließen von Schulen, Univer- sitäten und Betreuungseinrichtungen, Homeoffice, Schließen von Restaurants und Einzelhandel, Kontaktbeschränkun- gen, AHA + LA-GGG-Maßnahmen und effizientes Testen) jeweils zwischen 10 % und 40 % Reduktion desR-Wertes bringt;

bei strikter Umsetzung der Maßnahmen kann eine größere Reduktion erreicht werden. Doch selbst wenn die Wirkung aus vergangenen Daten recht gut ge- schätzt werden kann, wird sie bei einer zukünftigen Implementierung immer von der genauen Umsetzung abhängen sowie von der Motivation der Bevölke- rung und den konkreten Hygienemaß- nahmen. Um das Beispiel „Schulen“ zu nennen: Werden Masken getragen und wird regelmäßig gelüftet? Gibt es kleine,

feste Gruppen oder wechselnde Kontak- te? Bleiben Schüler und Lehrkräfte bei Erkältungssymptomen oder COVID- 19-Verdacht zu Hause? Wird präventiv getestet und werden Kontakte effektiv nachverfolgt? All das beeinflusst die An- steckungswahrscheinlichkeiten, sodass die genaue Auswirkung eines Maßnah- menpakets nur schwer vorherzusagen ist.

Generell gilt gerade für das steile Wachstum einer Welle: Je früher man eine Maßnahme umsetzt, desto (deut- lich) mehr Infektionen und Todesfälle werden vermieden. Am Beispiel der ers- ten Welle zeigt sich klar, dass schon fünf Tage einen immensen Einfluss haben können (.Abb.4und5). Ebenso wichtig ist es, dass die Maßnahmen ausreichend wirksam sind. Ansonsten verlangsamen sie den Anstieg nur, können ihn aber nicht zu einem Rückgang umkehren (.Abb.5).

Abschätzung der Wirkung von Maßnahmen mit agentenbasierten Modellen

Will man die Wirkung von Maßnahmen mit einem ABM abschätzen, so muss man gewisse Parameter, die nicht aus den realen Kontaktdaten und demogra- fischen Daten abzulesen sind, an die rea- le Entwicklung der Pandemie anpassen.

Entscheidend ist die Übertragungswahr- scheinlichkeit bei einem Kontakt zwi- schen einem gesunden und einem kran- ken Agenten in einem Knoten. Diese Wahrscheinlichkeit hängt direkt mit der Reproduktionszahl zusammen und wird an Daten aus einer Phase einer relativ ungestörten exponentiellen Ausbreitung des Infektionsgeschehens angepasst (wie in.Abb.4geschehen). Damit ist ein gut definierter Ausgangspunkt des ABM er- stellt, der es erlaubt, die Auswirkung ver- schiedener Maßnahmen abzuschätzen.

So ist es etwa möglich, eine Schul- schließung zu simulieren, wodurch die Kontakte in dem Knoten „Schule“ auf

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null gesetzt werden. Durch Wiederho- lung von Simulationen mit und ohne Schulschließung kann man so deren Aus- wirkung auf das epidemiologische Ge- schehen abschätzen [25]. Beide Szena- rien müssen hinreichend oft simuliert werden, um einen Mittelwert des zu er- wartenden Verlaufs mit und ohne Schul- schließung sowie eine Fehlerbreite zu er- halten, die als Konfidenz in die Vorher- sage interpretiert werden kann.

Es ist bei der Bewertung solcher Vor- hersagen immer zu beachten, dass die Annahmen über die Kontakte in den verschiedenen Knoten sowie die Über- tragungswahrscheinlichkeit pro Kontakt entscheidenden Einfluss auf die Vorher- sage haben. So macht die Unsicherheit über die tatsächliche Infektiosität von kleinen Kindern auch die Vorhersage über den Effekt von Schul- und Kita- schließungen unsicher. Die Vorhersagen aus dem ABM sind einerseits extrem verlässlich, weil sie die Prozesse in der Gesellschaft sehr gut abbilden können.

Sie können andererseits aber nie sicherer werden als das Wissen über Übertra- gungswege und Kontakte, das in die ABM eingeht.

Quantifizierung des Effekts der Test-Trace-Isolate-Strategie

Ein effektiver Beitrag zur Eindämmung einer Pandemie sind (i) das Testen, (ii) das Isolieren infizierter Personen und (iii) die Kontaktnachverfolgung und Quarantäne, um Infektionsketten zu stoppen [26,27]. Diese Maßnahmen sind besonders dann effektiv, wenn die Kontaktpersonen identifiziert werden, bevor sie weitere Personen angesteckt ha- ben. Damit die Kontaktnachverfolgung schnell genug sein kann, dürfen die Gesundheitsämter nicht überlastet sein.

Sind diese erst einmal überlastet, dann werden Kontaktpersonen nicht schnell genug quarantänisiert und haben bereits weitere Personen angesteckt. Je niedriger die Fallzahlen sind, desto effektiver kann diese Eindämmungsstrategie umgesetzt werden. Mathematisch führt die limi- tierte Kapazität zu einem Kipppunkt:

Werden die Fallzahlen zu hoch, kommt es zu einer sich selbst verstärkenden Ausbreitung [13, 26]. Sind hingegen

die Fallzahlen niedrig, dann bringt die Kontaktnachverfolgung zusätzliche Sta- bilisierung. Aus epidemiologischer Sicht ist es also unstrittig: Eine Pandemie lässt sich rein technisch bei niedriger Inzidenz leichter eindämmen und jede Person hat mehr Freiheiten [28].

Diskussion

Die oben vorgestellten Modelle waren zum Teil in geradezu beeindruckender Weise in der Lage, das Infektionsgesche- hen vorherzusagen. Allerdings sind sie auch des Öfteren an ihre Grenzen ge- stoßen. So kann der Wert vonRzu ei- nem bestimmten Zeitpunkt erst nach ei- ner Verzögerung von 2–3 Wochen mit einer angemessenen Sicherheit geschätzt werden. Diese Verzögerung ergibt sich u. a. aus einer Kombination verschiede- ner Faktoren wie Inkubationszeit, Zeit bis zur Testung, Auswertung und Veröffent- lichung des Testresultats sowie notwendi- ge Zeitspanne zur Ansammlung von Evi- denz aus den beobachteten Daten. We- gen dieser Verzögerung können sich auch die Auswirkungen von verordneten Ein- dämmungsmaßnahmen oder von Locke- rungen erst mit beträchtlicher Verspä- tung in den gemeldeten Fallzahlen zei- gen, was z. B. bei der Modellierung und der Bewertung der Wirksamkeit eines jeden Maßnahmenpakets berücksichtigt werden muss.

Zudem ist die Datenlage weiterhin un- zureichend: Um die Wirksamkeit der ver- schiedenen Maßnahmen adäquat in Mo- dellen abbilden zu können, hätte ein flä- chendeckendes Surveillance-System auf- gesetzt werden müssen, mit dem gemäß klarer Vorgaben Daten zur Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen erhoben wor- den wären. Auf diese Weise hätte man z. B. aus dem natürlichen Experiment der Schulöffnungen Evidenz bzgl. der best- möglichen Strategie generieren können.

Noch zielführender wäre es gewesen, eine kontrollierte randomisierte Studie auf- zusetzen, bei der zufällig ausgewählte Schulen verschiedene Strategien der Öff- nung umgesetzt und so die für eine Ent- scheidungsfindung notwendige Datenla- ge erzeugt hätten. Ein ähnliches Vorgehen – sei es als geplantes oder als natürliches Experiment – wäre auch in anderen Be-

reichen womöglich sinnvoll umsetzbar gewesen. So hätte man sogar den Födera- lismus aktiv nutzen können, um verschie- dene Strategien zur COVID-19-Eindäm- mung zu erproben. Zumindest in der 2.

oder 3. Welle hätten sorgfältig geplan- te Fallkontrollstudien aufgesetzt werden sollen, um einerseits die Ätiologie und den Verlauf der Erkrankung sowie an- dererseits deren Verbreitungswege bes- ser verstehen zu können [1]. Ein solches Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft hätte helfen können, Maß- nahmen dort einzusetzen, wo sie eine besonders hohe Wirksamkeit entfalten.

Letztendlich ist damit auch klar, dass die vorgestellten Modelle nicht in der Lage sind, spezifische, kurzfristige Än- derungen abzubilden und daraus Vor- hersagen abzuleiten. Dies betrifft etwa das Auftreten von neuen Varianten des Virus mit höheren Infektionsraten, aber auch das menschliche Verhalten, das den Grad der Umsetzung von Maßnahmen bestimmt. Ebenso schwierig ist es, lang- fristige Perspektiven verlässlich zu be- schreiben. Im Gegensatz dazu sind kon- tinuierliche Änderungen der zentralen Parameter des Infektionsgeschehens sehr gut in solchen Modellen abbildbar, so- lange ein Vergleich mit den tatsächlichen Daten möglich ist.

Trotz dieser Einschränkungen helfen die vorgestellten Modelle, die Auswir- kungen von Maßnahmenpaketen oder Lockerungen vorauszusagen. Sie er- lauben zudem, durch unterschiedliche Herangehensweisen verschiedene Per- spektiven zu beleuchten und dadurch zu einer besseren Gesamteinschätzung zu gelangen [3, 29–31]. Sie zwingen Wissenschaftler:innen, die relevanten Faktoren und Kenngrößen sowie die Unsicherheiten genau zu formulieren, und tragen dadurch zu einem stringen- ten Durchdenken eines Sachverhalts bei.

Dadurch können idealerweise quanti- tative Aussagen über die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen erzielt werden.

Auf jeden Fall kann aber die zukünftige Entwicklung der Fallzahlen in alternati- ven Szenarien abgeschätzt werden. Damit liefern die Modelle einen wichtigen Bau- stein für die Entscheidungsfindung der Politik.

(9)

Leitthema

Fazit

Mathematisch-statistische Modelle sind ein wichtiges Instrument, um in Krisen- situationen die erforderliche politische Entscheidungsfindung zu unterstützen.

Allerdings hängt ihre Aussagekraft stark von der Qualität der zur Verfügung ste- henden Daten ab.

Korrespondenzadresse

Dr. Viola Priesemann

Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Am Faßberg 17, 37077 Göttingen, Deutschland viola.priesemann@ds.mpg.de

Funding.Open Access funding enabled and organi- zed by Projekt DEAL.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.V. Priesemann, M. Meyer-Her- mann, I. Pigeot und A. Schöbel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.

Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Open Access.Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli- chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge- mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom- men wurden.

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licenses/by/4.0/deed.de.

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