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ereits Eugen Bleuler (1) hat darauf hingewiesen, daß Al- koholismus als Symptom ei- ner schizophrenen Psychose auftreten kann. Daß sich in den letz- ten zwei Dekaden zunehmend Hin- weise auf eine hohe und steigende Komorbidität von Schizophrenie und Substanzmißbrauch ergeben, ist mutmaßlich auf die wachsende Ver- breitung des Stoffkonsums sowie auf die gewandelten psychiatrischen Versorgungsstrukturen zurückzu- führen. Die Entwicklung der Neu- roleptika und die Schaffung diffe- renzierter ambulant-komplementä- rer Einrichtungen ermöglichen den Kranken heutzutage weitgehend ein selbständiges Leben. Allerdings sind sie zugleich den Risiken einer kom- plexen, technisierten Umwelt ausge- setzt. Zumal Patienten, die über keine schützenden Wohn- und Ar- beitsmöglichkeiten verfügen, stehen in Gefahr, durch autotherapeuti- sche „Medikation“ Linderung ihrer Beschwerden zu suchen. Niedriger Preis, freie Erhältlichkeit und sozia- le Akzeptanz machen Alkohol zur wichtigsten psychotropen Substanz für schizophren Kranke.Nur wenige methodisch befrie- digende epidemiologische Studien zur Komorbidität von Substanzmiß- brauch und Schizophrenie liegen bislang vor. Die Lebenszeitpräva- lenz eines Substanzmißbrauches Schizophrener lag in einer US-ame- rikanischen Studie mit knapp 50 Prozent deutlich höher als in der All- gemeinbevölkerung (5). Die Punkt- prävalenz beträgt in verschiedenen Untersuchungen 20 bis 40 Prozent.
Am häufigsten findet sich ein Alko- holismus (3). Bei ambulant behan- delten Patienten ergeben sich Präva- lenzraten von 20 bis 30 Prozent (2).
Dabei handelt es sich in der Re- gel um einen Alkoholmißbrauch („schädlichen Gebrauch“ im Sinn von ICD-10), nur selten um eine Al- koholabhängigkeit. Die Instabilität schizophrener Verläufe, die gewöhn- lich fehlende Integration in eine
„Trinker-Kultur“, die wiederkehren- den Hospitalisierungen und die auti- stisch-weltabgewandte Haltung vie- ler Patienten sind vermutlich als ab- hängigkeitsprotektive Faktoren an- zusprechen.
Pathogenese
Die Pathogenese des Alkoholis- mus Schizophrener und seine Bezie- hungen zur psychotischen Erkran- kung sind komplex (Übersichten bei:
6, 9, 10). Häufig ist der Alkoholismus bereits Merkmal der präpsychoti- schen Persönlichkeit. Genetische Belastung und soziales Lernen in der Herkunftsfamilie sind hierbei von Bedeutung (4).
Der Alkoholkonsum wird in die- sem Falle als habitualisierte Entla- stungs- und Problemlösestrategie in der Psychose beibehalten. Tritt er hingegen erst im Verlauf der schizo- phrenen Erkrankung in Erschei- nung, so sind tiefgreifende Desorga- nisation des Persönlichkeitsgefüges – mit Störung der Impulskontrolle und Stimmungsregulation – oder soziale Deprivation – häufig verbunden mit speziellen Risikolagen wie der Part- nerschaft mit einem Alkoholkranken – ursächlich von Bedeutung. Vor al- lem in den akuten produktiven Früh- stadien bildet der Alkoholkonsum ein klinisches Problem. Schwere For- men des Alkoholismus zeigen stets einen ungünstigen Verlauf der Psy- chose an.
Risikofaktoren, die zu einer Ab- hängigkeitsbildung führen können, sind: männliches Geschlecht, prä- schizophren habitualisierter Miß- brauch, ausgeprägter schizophrener Persönlichkeitswandel mit miß- trauisch-expansiver, impulsiv-sozio- pathischer oder auch ängstlich-sensi- tiver Charakteristik, fehlende Ak- zeptanz neuroleptischer Prophylaxe,
affektive Instabilität, chronische Wahnbildung mit starker Angstkom- ponente, soziale Isolation und kon- flikthafte intrafamiliäre Beziehun- gen sowie stoffabhängige Familien- angehörige.
Diagnose
Die Diagnose eines Alkoholis- mus ist bei schizophren Erkrankten zumeist schwierig. Der Alkoholkon- sum kann vom Patienten und seinen Angehörigen bagatellisiert oder – zur „Erklärung“ des psychotisch ab- normen Verhaltens – akzentuiert dargestellt werden. Eine differen- zierte verstehend-psychologische Rekonstruktion von Trinkmotiven gelingt nur selten. Idiosynkratische, nicht selten wahnunterlegte Motive erschweren die Beurteilung. Eine zutreffende Einschätzung läßt sich daher gewöhnlich erst nach länge- rer Kenntnis des Patienten gewin- nen. Insbesondere der Mißbrauch („schädliche Gebrauch“) wird häu- fig übersehen. Bei Alkoholabhän- gigkeit ist nur selten ein typisches Delirium tremens zu beobachten.
Milder ausgestaltete Entzugssyndro- me entgehen meist der Diagnose, zu- mal wenn ihre vegetative Sympto- matik durch Gabe von Neuroleptika kupiert wird.
Alkoholwirkungen und Trinkmotivation
Die Wirkung der Alkoholein- nahme bei Schizophrenen unter- scheidet sich nicht grundsätzlich von Alkoholeffekten beim Gesunden.
Ängstlichkeit, Depressivität und Mißtrauenshaltung werden abge- schwächt. Da sich – insbesondere bei niedriger „Dosierung“ – Kontakt- fähigkeit und Antrieb verbessern, findet sich gerade bei Patienten mit ausgeprägter Minus-Symptomatik ein (niedrig dosierter) Alkohol- mißbrauch. Eine höhere „Dosie- A-596
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(48) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 10, 7. März 1997
KURZBERICHT
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie (Leiter: Prof. Dr. med. Joachim Zeiler) des Au- guste-Viktoria-Krankenhauses Berlin
Alkoholismus bei
schizophrenen Patienten
Joachim Zeiler
rung“ ist speziell bei produktiven Psychosen mit Antriebssteigerung zu beobachten. Dabei stellen sich häu- fig vom Patienten selbst nicht inten- dierte Effekte ein, die als abnorme Rauschzustände, meist mit paranoi- der Symptomatik, häufig mit Ge- walttätigkeit (8), imponieren.
Wenn sozialer Rückzug, Verwei- gerung neuroleptischer Medikation und autotherapeutischer Alkohol- konsum zusammentreffen, etabliert sich ein Circulus vitiosus, der in die akute psychotische Exazerbation einzumünden vermag. Vom Kranken selbst werden gewöhnlich die beruhi- genden, entängstigenden und schlaf- fördernden Alkoholwirkungen her- ausgestellt. Komplexere Motivierun- gen beziehen sich auf die Übernah- me einer vermeintlich höherwertigen Krankenrolle (als „Alkoholiker“) oder eine rauschhafte Vitalitätsstei- gerung, die unter Alkoholeinfluß als Bestätigung wahnhaft imaginierter Rollen erfahren wird. Der langfristi- ge klinische Verlauf ist fast stets durch die Dynamik der psychoti- schen Erkrankung bestimmt. Aller- dings können alkoholbedingte kör- perliche Komplikationen und malad- aptive Bewältigungsstrategien, die sich im Alkoholkonsum perpetu- ieren, den schizophrenen Verlauf ungünstig beeinflussen.
Therapeutische Aspekte
Eine isolierte Therapie des Al- koholismus Schizophrener ist nicht möglich. Priorität hat die mehrdi- mensionale Behandlung der psycho- tischen Störung. Demgemäß können traditionelle Prinzipien der Abhän- gigentherapie nur begrenzt über- nommen werden.
Das Abstinenzprinzip ist weder durchsetzbar noch sinnvoll. Suppor- tive und edukativ-strukturierende Behandlungselemente stehen im Vordergrund. Zwar sind freundlich- bestimmte Überwachung sowie Auf- klärung über die ungünstigen Alko- holwirkungen sinnvoll.
Keinesfalls sollte aber Alkoho- lisierung zu sogenannter disziplina- rischer Entlassung (bei einem hospi- talisierten Kranken) führen. Gefahr- voll ist ein moralisierender Appell
an den Kranken, da hierdurch seine mißtrauisch-abwehrende Haltung verstärkt wird. Stets ist die neurolep- tische Medikation zu überprüfen.
Unterdosierung kann eine ängsti- gende Wahnsymptomatik, Überdo- sierung Adynamie und Depressivität verstärken. In beiden Fällen mag der Patient in autotherapeutischer In- tention einen verstärkten Alkohol- konsum entwickeln. Bei Minus-Sym- ptomatik kommt unter Umständen die zusätzliche Gabe eines Anti- depressivums (7) in Betracht. Der Einsatz von Disulfiram oder Metha- don hat sich nicht bewährt. Der Ge- brauch von Anticraving-Substanzen kann noch nicht abschließend beur- teilt werden.
Da der Alkoholgebrauch häufig als Indikator unzulänglicher sozialer Integration fungiert, ist gleichfalls nach einer Optimierung psychoso- ziotherapeutischer und rehabilitati- ver Maßnahmen zu fragen. Die Ent- lastung einer konfliktträchtigen Fa- miliensituation durch Angehörigen- arbeit, die Schaffung einer wohnli- chen Unterkunft und das Angebot einer sinnvollen Beschäftigung wir- ken sich günstig auf die schizophre- ne Erkrankung wie auch auf den komplizierenden Alkoholgebrauch aus. Träger betreuter Wohneinrich- tungen sollten angehalten werden, auch Schizophrene mit begleiten- dem Substanzgebrauch zu akzeptie- ren.
Der Besuch von Alkoholiker- selbsthilfegruppen ist nicht anzura- ten. Mitmenschliche Nähesituation, interaktioneller Konfliktdruck und ablehnende Einstellung der Grup- pen gegenüber medikamentösen Therapiestrategien wirken sich bela- stend aus. Empfehlenswert ist hinge- gen der Einsatz psychoedukativer Techniken, welche den Patienten zu angemessener Krankheitsbewälti- gung, zur Früherkennung von Sym- ptomen, zu rechtzeitiger Inan- spruchnahme von Hilfe und adäqua- tem selbständigen Gebrauch neuro- leptischer Medikation befähigen sol- len.
Auf diese Weise entgeht man der Gefahr, den Alkoholgebrauch als „Fehlverhalten“ zu stigmatisie- ren, und eröffnet dem Kranken die Möglichkeit, seine risikohaften Pro-
blemlösestrategien durch alternati- ves Bewältigungsverhalten zu erset- zen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-596–597 [Heft 10]
Literatur
1. Bleuler E: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Wien: Deuticke 2. Drake RE, Osher FC, Wallach MA: Alco-
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3. Mueser KT, Yarnold PR, Levinson DF et al.: Prevalence of substance abuse in schi- zophrenia: demographic and clinical corre- lates. Schizophr Bull 1990; 16: 31–56 4. Pulver AE, Wolyniec PS, Wager MG,
Noormann CC, McGrath JA: An epide- miological investigation of alcohol-depen- dent schizophrenics. Acata psychiatr scand 1989; 79: 603–612
5. Regier DA, Farmer ME, Rae DS et al.: Co- morbidity of mental disorders with alcohol and other drug abuses. JAMA 1990; 264:
2511–2518
6. Schwoon DR, Krausz M (Hrsg.): Psychose und Sucht: Krankheitsmodelle, Verbrei- tung, therapeutische Ansätze. Freiburg:
Lambertus
7. Siris SG: Pharmacological treatment of substance-abusing schizophrenic patients.
Schizophr. Bull 1990; 16: 111–122 8. Smith J, Hucker S: Schizophrenia and sub-
stance abuse. Br J Psychiat 1994; 165: 13–21 9. Soyka M: Sucht und Schizophrenie. Noso- logische, klinische und therapeutische Fra- gestellungen. 1. Alkoholismus und Schizo- phrenie. Fortschr Neurol Psychiat 1994; 62:
71–87
10. Zeiler J: Schizophrenie und Alkohol. Zur Psychopathologie schizophrener Bewälti- gungsstile. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong, Barce- lona: Springer
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Joachim Zeiler Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
Auguste-Viktoria-Krankenhaus Berlin
Rubensstraße 125 12157 Berlin
A-597
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