Die Information:
Bericht und Meinung
NACHRICHTEN
In mehreren Westberliner Kranken- häusern wurden am 10. Dezember 1974 Flugblätter verteilt, die angeb- lich ein Rundschreiben des Präsi- denten der Ärztekammer Berlin, Dr.
Wolfgang Schmidt, zum Thema der ärztlichen Versorgung von Häftlin- gen in Haftanstalten der Bundesre- publik darstellten. Die Pressestelle der Ärztekammer Berlin stellte noch am selben Tag in einer Pres- semitteilung fest, daß es sich hier um eine grobe Fälschung handelt.
Präsident Dr. Schmidt hat dieses
„Rundschreiben" weder verfaßt noch unterzeichnet; der verwende- te Briefkopf der Ärztekammer und die Faksimile-Unterschrift von Dr.
Schmidt sind für diese Fälschung angefertigte Photokopien aus an- deren Schriftstücken.
Durch den Vorgang in Berlin hat die Stellungnahme des Präsidiums des Deutschen Ärztetages zur so- genannten Zwangsernährung von Häftlingen vom 7. Dezember 1974 noch zusätzlich aktuelles politi- sches Gewicht erhalten (siehe den Bericht darüber auf den vorherge- henden Seiten).
Hier der Wortlaut des gefälschten
„Rundschreibens" (in der Wieder- gabe sind die in der Vorlage ent- haltenen Fehler nicht korrigiert):
„Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!
Mit Erschüttern verfolge ich seit Wo- chen die Vorgänge in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten. Die Vorwürfe von allen Seiten haben mich bewogen, mich an Sie zu wenden, und ich glaube und hoffe, damit einen Schritt zu tun, der von Ihnen begrüßt wird.
Es ist Ihnen bekannt, daß unser Ge- sundheitswesen schon lange nicht mehr dem heutigen Stand der medizini- schen Wissenschaft entspricht. Die fi- nanziellen Kürzungen in allen Berei- chen des Gesundheitssektors führen zu immer unüberwindlicheren Engpässen.
Was sich aber schon seit Jahren in den Haftanstalten abspielt, ist nun in den Brennpunkt des Interesses gerückt;
hier wird eine Medizin betrieben, die nichts mehr zu tun hat, wozu uns der hippokratische Eid verpflichtet.
Der Hungerstreik der politischen Ge- fangenen hat gerade eine Problematik erneut aufgeworfen, die wir vernachläs- sigt haben. Die Gefangenen lehnen die Untersuchungen von den zuständigen Kollegen ab. Es ist hier nicht meine Sa- che, über Kollegen den Stab zu bre- chen, jedoch will ich einige Beispiele aufführen, die diese Ablehnung begrün- den:
— Der Kollege Degenhardt und Sei- bold entzogen Herrn Andreas Baader während des Hungerstreiks das Trink- wasser, mit der Begründung, „er sei zur Besinnung zu bringen"; dasselbe wurde schon bei Frau Ulrike Meinhof praktiziert. Im Oktober diesen Jahres war es Kollege Kolluschek, der bei Herrn Ronald Augustin diesen unerklär- lichen Schritt tat.
— Kollege Weilacher führte bei Frau Carmen Roll eine Äthertropfnarkose ge- gen ihren Willen zwecks Abnahme von Fingerabdrücken durch.
— Kollegen verzögerten die Behand- lung eines Mediastinaltumors bei Frau Katharina Hammerschmidt. (Kollege Meitzner und Husen)
— Der Kollege Freitag hiel es für aus- reichend, den Untersuchungsgefange- nen Holger Meins mit täglich 400 kal künstlich zu ernähren, was seinen si- cheren Tod bedeutete.
Es ist uns allen klar, daß dies nur eini- ge wenige markante Punkte sind, und eine Aufzählung grob fahrlässiger Handlungsweisen von seiten unserer Kollegen würde den hier gegebenen Rahmen sprengen.
Entsetzt bin ich ebenso über die Durch- führung der sogenannten Zwangser- nährung. Es ist mir unverständlich, wie über Wochen die Hungerstreikenden, in Westberlin z. B., mit einer Nahrungs- menge von 1000 Milliliter ernährt werden konnten, diese Menge dann auch noch in einem Zeitraum von 5 bis 10 Min.
eingeführt wurde. Wer hier sagt, daß das auch nur im entferntesten etwas mit Medizin zu tun hat, stellt sich auf eine Stufe mit denjenigen, die jegliche Achtung vor dem menschlichen Leben verloren haben.
Es kann nicht meine Sache sein, den Strafvollzug in der BRD und Westberlin zu kritisieren, aber ich halte die Maß- nahmen der totalen Isolation, wie sie in verschiedenen Haftanstalten praktiziert wird, für unbegreiflich. Als Arzt kann
ich es nicht vertreten, daß Menschen unter Bedingungen gehalten werden, die fast jegliche Sinneswahrnehmungen einschränken und nachgewiesener Ma- ßen zu schweren körperlichen Schäden geführt haben, ganz zu schweigen von der seelischen Zerstörung dieser Men- schen. Hier wird auch in ganz eklatan- ter Weise gegen das Grundgesetz ver- stoßen, was zu erhalten uns allen wert sein sollte.
Dies sind nur einige Gründe, die mich veranlaßt haben, mich mit den Forde- rungen der Hungerstreikenden ausein- anderzusetzen. Und ich meine, daß nur durch die Aufhebung von jeglicher Iso- lation in den Haftanstalten, durch die freie Arztwahl aller Gefangenen ein Ende des Hungerstreiks abzusehen ist.
Wir dürfen keinesfalls zulassen, daß entweder durch Isolation oder durch den Hungerstreik weitere Menschenle- ben gefährdet werden. Deshalb rufe ich Sie auf, die Forderungen — sofortige Aufhebung der Isolationshaft, freie Arztwahl für alle Gefangenen — zu un- terstützen!
Mit kollegialer Hochachtung Dr. Schmidt Präsident"