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Archiv "Philosophie: Technischer Fortschritt und menschliche Würde" (20.04.2001)

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D

ie wissenschaftliche Ar- beit, so Max Weber 1918 in seinem berühmten Vor- trag „Wissenschaft als Beruf“

(1), ist eingespannt in den Ab- lauf des Fortschritts. Fortschritt ist das Signum neuzeitlichen Verständnisses von Wissen. Wis- senschaftliches Wissen konstitu- iert sich für die Neuzeit, späte- stens seit Galilei, durch eine Verbindung von Mathematik und kontrollierter beziehungs- weise experimenteller Erfah- rung und den Instrumenten, mit denen wir diese Erfahrung ma- chen. Der Bereich menschlicher Erfahrung hat über die Begren- zungen der Sinnesorganisation hinaus keine ersichtliche Gren- ze, und es gibt in ihm nichts, was der menschlichen Neugierde und dem Forschungsdrang ent- zogen wäre. Die Logik neuzeitli- cher Wissenschaft zielt dem- gemäß auf immer neue Ent- deckungen, auf das Erweitert-, Überboten-, und Widerlegtwerden, auf einen Progress des Wissens und Kön- nens ad infinitum.

Veränderte Einstellung zum Tod

Dieses erfahrungswissenschaftliche Ge- setzeswissen, sein Fortschritt und seine Umsetzung in Technik und immer neue technische Produkte und Verfahren ist im praktischen Handeln des Alltags be- zogen auf die Beseitigung von Not, Krankheit und Leid sowie auf die Er-

höhung der Mittel und Wege, das menschliche Leben erträglicher und an- genehmer zu machen. Das haben alle großen Theoretiker neuzeitlicher Na- turwissenschaft und ihrer Forschungs- logik mit Nachdruck betont. Die Erfol- ge moderner Wissenschaft und Technik sind in dieser Hinsicht eindeutig und unbestreitbar. Wir nehmen die durch sie vermittelten Güter weitgehend frag- los und gerne in Anspruch, wenn wir ih- rer bedürfen oder zu bedürfen meinen.

Aber das ist, wie bei allen ethisch neu- tralen Erkenntnissen und Erfindungen, nur die eine Seite der Medaille. Mit je-

der handlungsrelevanten wissen- schaftlichen Erkenntnis stellt sich die Frage ihres möglichen Missbrauchs;

mit jeder wissenschaftsgestützten Erfindung eröffnen sich auch Proble- me ihrer Verwendung, ihrer Kosten und Folgelasten. Weber macht in diesem Zusammenhang auf eine zen- trale Folge aufmerksam, die der Ra- tionalisierungsprozess der westli- chen Kultur, dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit an- gehört, nach sich zieht: auf die verän- derte Einstellung zum Tod.

Der Tod, so Weber, ist für den mo- dernen Kulturmenschen keine sinn- volle Erscheinung mehr. „Und zwar deshalb nicht, weil ja das zivilisierte, in den ,Fortschritt‘, in das Unendli- che hineingestellte einzelne Leben seinem eigenen immanenten Sinn nach kein Ende haben dürfte . . . Abraham oder irgendein Bauer der alten Zeit starb ,alt und lebensgesät- tigt‘, weil er im organischen Kreis- lauf des Lebens stand, weil sein Le- ben auch seinem Sinn nach ihm am Abend seiner Tage gebracht hatte, was es bieten konnte, weil für ihn keine Rät- sel, die er zu lösen wünschte, übrig blie- ben, und er deshalb ,genug‘ daran ha- ben konnte. Ein Kulturmensch aber, hineingestellt in die fortwährende An- reicherung der Zivilisation mit Gedan- ken, Wissen, Problemen, der kann ,le- bensmüde‘ werden, aber nicht: lebens- gesättigt. Denn er erhascht von dem, was das Leben des Geistes stets neu ge- biert, ja nur den winzigsten Teil, und im- mer nur etwas Vorläufiges, nichts End- gültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose Begebenheit.“ (2) ✁ T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001 AA1039

Philosophie

Technischer Fortschritt und menschliche Würde

Die Diskussion um die „Würde des Menschen“ muss unterscheiden zwischen einem engeren Rechtsbegriff von Würde, die jedem Menschen zukommt, und einem ethischen Begriff der Würde, der Idealvorstellungen über menschliches Handeln beinhaltet.

Maximilian Forschner

DHM-Bildarchiv

Max Weber beschrieb die Logik moderner Wissenschaft.

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Dem vom wissenschaftlich-techni- schen Fortschritt getragenen, auf ihn seine Freuden, Erwartungen und Hoff- nungen setzenden menschlichen Leben sind die Möglichkeiten eines kultivier- ten Einverständnisses mit dem Un- abänderlichen und Hinzunehmenden begrenzt, wenn nicht gar genommen.

Ein menschliches Leben in Würde hat ohne Zweifel, im Sinne einer Voraus- setzung, mit der Befriedigung elemen- tarer Bedürfnisse und Ansprüche zu tun. Wer hungert, wer dürstet, wer friert, wer ernsthaft krank ist, hat es ähnlich schwer, Würde zu entwickeln, Würde zu zeigen und zu bewahren wie jener, der von anderen Menschen be- vormundet, geknechtet oder gequält wird. Mit dem Ziel, der Behebung die- ser Not zu dienen, trat die neuzeitliche Wissenschaft an. Aber ein menschliches Leben in Würde hat ganz wesentlich auch mit einer kultivierten und gelasse- nen Einstellung zum Tod zu tun. Und dem dient sie keineswegs.

Das Lebensgesetz des Marktes ist aggressiv

Das Leben des modernen Kultur- menschen vollzieht sich in erheblichem Ausmaß unter dem Druck vielfältiger Formen von Konkurrenz und unter Ge- setzen des Marktes und des marktbe- stimmten Gelderwerbs. Wissenschaftli- cher und technischer Fortschritt bedarf heute enormer finanzieller Investitio- nen der Gesellschaft und ist an Interes- sen des nationalen und internationalen Marktes gebunden, der aus wissen- schaftlichen Erkenntnissen, aus techni- schem Können und seinen Produkten Güter macht, für die ein Bedarf besteht beziehungsweise geweckt werden kann und die sich entsprechend verkaufen lassen. Eine moderne Ökonomie steht unter dem Diktat Gewinn bringender Tätigkeit und, im Rahmen der Geld- wirtschaft, des (prinzipiell) unbegrenz- ten Gelderwerbs. Dies führt zum Ver- such einer grundsätzlich unbegrenzten Erweiterung der Bedürfnisse nach Gü- tern auf jenen Gebieten, die in den Markt hineingenommen werden und dort eine wichtige Rolle spielen. Das Lebensgesetz des Marktes ist aggressiv;

er nimmt immer mehr Güter des

menschlichen Lebens in sich auf. So verdankt sich der neuere medizinische Fortschritt und seine bemerkenswerte Beschleunigung nicht nur dem motivie- renden Druck von vorhandener Krank- heit und Not, sondern gewaltigen priva- ten und öffentlichen Investitionen, die auch auf die Weckung von Bedürfnis- sen zielen. Denn jede medizintechni- sche Möglichkeit führt bei entspre- chender sozialpsychologischer Aufbe- reitung zur gesellschaftlichen Nachfra- ge, die sich als Krankheit beschreiben lässt. (3)

Man sollte sich für unsere Gegen- wart nicht über etwas hinwegtäuschen, was bereits ein Aristoteles für die peri- kleische Zivilisation in aller Klarheit diagnostiziert hat: Unsere Form und Kultur des bedürfnissteigernden Wirt- schaftens, in die wir inzwischen in ei- nem weltweiten Netz eingebunden sind, wird zu einem erheblichen Teil von der Dynamik eines ziellosen Le- benshungers beziehungsweise eines geistlosen Hedonismus getragen, die die Kräfte der Politik, der Wissenschaft, der Kultur und Religion, nicht zuletzt über eine neue Vulgär- und Trivialitäts- Öffentlichkeit der Massenmedien, in ihre Dienste nimmt. Sie tut dies umso leichter, als die geistige Vitalität der überkommenen Hochreligionen mit ihrem Askesepotenzial schwindet und auch die Gegenwartsphilosophie keine bemerkenswert kritische Rolle spielt, ja in der mächtigen Fraktion eines Com- mon-sense-Utilitarismus dazu neigt, den absoluten Wert eines menschlichen Lebens nach der Summe seiner ange- nehmen Erlebnisse zu bemessen, ganz gleichgültig, was diese Erlebnisse zum Inhalt haben. (4)

Die Warnung vor einer zu rücksichts- losen Betreibung wissenschaftlichen Fortschritts, die Mahnung zur Absti- nenz von bestimmten Experimenten, die Kritik am Einsatz bestimmter Tech- nologien artikuliert sich gegenwärtig bevorzugt in Begriffen der Respektie- rung der Menschenwürde und der Ach- tung vor der Würde der Person. Wenn es etwa um den Sachverhalt der künstli- chen Fortsetzung der Schwangerschaft einer Hirntoten geht, wenn die Mög- lichkeit des Klonens von Menschen zur Debatte steht, wenn der Austausch ge- netischen Materials in der menschli-

chen Keimbahn diskutiert wird, wenn experimentelle Forschung an menschli- chen Stammzellen erwogen wird, stets lautet die kritische Frage, ob dieses oder jenes wissenschaftsgestützte Ver- fahren mit der Würde der menschlichen Person vereinbar ist. Diese Frage hat in Deutschland besonderes Gewicht, da Artikel 1 des Grundgesetzes vor dem Hintergrund der nicht zuletzt von Deutschland verschuldeten politisch- rechtlichen und moralischen Katastro- phen dieses Jahrhunderts das politische Gemeinwesen allem voran auf die Ach- tung und den Schutz der Würde des Menschen verpflichtet. Nun ist der Be- griff der Würde höchst interpretations- bedürftig; er ist im gegenwärtigen Ge- brauch mehrdeutig, mit viel Pathos be- laden, und hat eine lange, verzweigte, noch dazu ideologisch umstrittene Ge- schichte. (5) Hier tut philosophische Klärung Not.

Ein erster Klärungsschritt sollte ein engeres rechtliches von einem weiteren ethischen Verständnis unterscheiden.

Der juridische Begriff der Menschen- würde geht vom Eigenwert aus, „der dem Menschen um seiner selbst und nicht um anderer Güter und Zwecke willen zukommt“ (6), und findet im Sy- stem der Grundrechte seine verbindli- che Interpretation. (7) Hier handelt es sich um Würde als ein Attribut, das je- dem einzelnen Menschen als Menschen zukommt und das von anderen Men- schen eine Respektierung seines Trä- gers verlangt, die von seinem Persön- lichkeitsprofil, von seinem Charakter und Verhalten unabhängig ist. Ange- sprochen ist ein Minimalbestand von elementaren Rechten des Einzelnen, der über keinerlei staatliche oder ge- sellschaftliche Nutzen- oder Schadener- wägungen zur Disposition gestellt wer- den darf.

Idealvorstellungen bezüglich menschlicher Einstellungen

Der ethische Begriff der Würde des Menschen ist ungleich weiter und damit auch schillernder und diffuser. Er bein- haltet Idealvorstellungen bezüglich menschlicher Einstellungen, Haltungen und Handlungen, Idealvorstellungen, die im Allgemeinen besagen, was sich T H E M E N D E R Z E I T

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A1040 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001

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für einen Menschen aufgrund der ihm von Natur eigenen, ihn auszeichnenden Möglichkeiten im Umgang mit sich, mit anderen, mit nichtmenschlicher Natur im Sinne einer Vollendung seines Seins zu tun und zu lassen gebührt. In

diesem Sinn sprechen wir einem Menschen nur dann Würde zu, wenn er sein Mensch- und Personsein in Ein- stellung, Habitus und Verhalten auf eine näher zu be- stimmende, jeden- falls großartige und eindrucksvol- le Weise aktuali- siert und bekundet.

Während die Würde im ersten, im rechtli- chen Sinn nur konkret verletzt werden kann, in- dem man handelnd oder un- terlassend das unantastbare Recht eines einzelnen Men-

schen verletzt, verletzt man im zweiten Sinn, wenn man „würdelos“ handelt, durch sein Verhalten nicht notwendiger- weise das unantastbare Recht eines Ein- zelnen, stets aber Abstraktes, nämlich Normen eines Ethos, das sich an Ziel- vorstellungen orientiert, wie Menschen als Menschen und Individuen ihre na- turgegebene Anlage zur Persönlichkeit verwirklichen sollten. (8)

Wenn nach einer möglichen Verlet- zung der Menschenwürde durch ein neues medizinisch-technisches Verfah- ren gefragt wird, dann ist die Frage zunächst so zu lesen, ob und inwiefern durch dieses Verfahren das unantastba- re Recht eines Einzelnen verletzt wird.

Das mag etwa bei der experimentellen Embryonenforschung zutreffen, wenn das Gesetz dem Embryo selbst bereits Personenrechte zuschreibt oder wenn man ein Recht der Mutter verletzt.

Wenn durch das in Rede stehende Ver- fahren kein unantastbares Recht einzel- ner Menschen verletzt wird, dann mag man sich gleichwohl noch fragen, ob mit der rechtlichen Freigabe eines solchen Verfahrens einem Ethos Abbruch ge- schieht, das wir auf strenge oder locke- re Weise mit der „Würde des Men- schen“ im genannten idealen Sinn ver- binden.

Natürlich lässt sich, weil sich mit dem Würdebegriff im zweiten Sinn sehr viel Subjektives und geschichtlich-kulturell Bedingtes verbindet, über Fragen die- ser Art trefflich streiten. Gleichwohl

hängen beide Würdebegriffe zusam- men. Dem ersten liegt der Gedanke der Anlage zur Vernunft und Persönlich- keit zugrunde, die von Natur jedem Menschen eignet, und die wir im neu- zeitlichen Rechts- und Verfassungsstaat grundrechtlich geschützt wissen wollen.

Im zweiten Würdebegriff haben wir Formen der gelungenen Verwirkli- chung dieser Anlage im Auge. Die ent- scheidende Frage in diesem Zusam- menhang lautet, ob und inwiefern durch Verletzungen der Würdevorstel- lungen im ethischen Sinn die Sicherung der Würde im rechtlichen Sinn gefähr- det ist. Diese Frage ist nicht leicht zu be- antworten.

Dem Menschen droht der Verlust seiner sittlichen Würde

Die moderne Technik beruht auf der neuzeitlichen exakten Naturwissen- schaft. Umgekehrt gilt, dass die neuzeit- liche Naturwissenschaft als experimen- telle unlösbar auf technische Apparatu- ren verwiesen ist. Die moderne Natur- wissenschaft behandelt Wirklichkeit, das, was ist, unter dem Gesichtspunkt seiner Analysierbarkeit, Berechenbar- keit, Steuerbarkeit und Machbarkeit.

Das ist völlig unbestritten. Damit ist ei- ne Gefahr verbunden; eine Gefahr, die bereits schicksalhafte Züge angenom- men hat, die jedenfalls nicht von Einzel- nen durch moralische Entscheidungen zu bannen ist und der man gesellschaft- lich nicht mit Ethikkommissionen bei- kommen kann. Es ist eine Gefahr, die man gewiss nicht mit romanti- scher Technikfeindschaft im Leib beurteilen sollte. Es ist die Gefahr der Verkehrung der Rolle von Wissenschaft und Technik von einer ehemals dienenden, heute gewiss un- verzichtbaren, in eine unser Leben und Zusammenleben mehr und mehr beherrschen- de. Mit der immer dominante- ren lebensweltlichen Rolle tech- nischer Apparaturen, Systeme und Verfahren und dem immer be- herrschenderen gesellschaftlichen Gewicht naturwissenschaftlich-tech- nischer Einstellungen und Kom- petenzen droht der Mensch seine sittliche Würde zu verlieren. Ist doch mit dieser Würde unlösbar verbunden, sich als Bedürfnis- und Interessenwesen zu übersteigen, zur Welt in ein freies Verhältnis zu treten, Wirklichkeit als sie selbst zu vernehmen, Natürliches natür- lich sein zu lassen, zu respektieren, zu schützen, zu kultivieren und nicht nur oder dominant unter Gesichtspunkten seiner Analysierbarkeit, Berechenbar- keit, Manipulierbarkeit, Machbarkeit und Verwertbarkeit zu betrachten und zu behandeln.

Die mathematisch-naturwissen- schaftliche Betrachtungsweise hat längst auch den Menschen erfasst und zum Objekt quantifizierbarer Begriffe, kontrollierter Beobachtung und experi- menteller Forschung gemacht. Gegen- wärtig dringen Genforschung, Gen- technik und Reproduktionsmedizin in einer Weise in den Humanbereich vor, die vielen die Würde des Menschen un- mittelbar und substanziell zu betreffen scheint. Doch die Problematik stellt sich hier grundsätzlich nicht anders als in anderen Bereichen des Lebens auch.

Die Entwicklung ist mit positiven Per- spektiven der Diagnose, der Vorbeu- gung und Heilung von eindeutigen Krankheiten verbunden. Mit der Sache selbst ist keine unabwendbare substan- T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001 AA1041

Zeichnung: Ralf Brunner

Der Mensch wird zum Objekt quantifizierbarer Begriffe, kontrollierter Beobachtung und experimenteller Forschung.

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zielle Gefahr auf der Ebene der grund- rechtlich gesicherten Würde verknüpft.

Es lassen sich doch auf nationaler und internationaler Ebene Regelungen denken und treffen, die den elementa- ren Rechtsschutz der Einzelnen sicher- stellen und die Anwendung bestimmter wissenschaftlich-technischer Verfahren auf Menschen nach Gesichtspunkten möglicher Schädigung oder Heilung eng begrenzen oder ächten.

Die Gefahr betrifft vielmehr auch hier, und in einem solch sensiblen Be- reich wie dem der Entstehung des Men- schen ganz besonders, primär den ethi- schen Würdebegriff. Sie besteht darin, dass wir nun auch das, was wir ehedem selbst von Natur aus waren, immer stär- ker unter Gesichtspunkten des Analy- sierens, Berechnens, Planens, Steuerns und Machens betrachten und beurtei- len werden und dass es bald nicht mehr als abwegig gilt, wenn Kinder ihre El- tern wegen irgendeines genetisch be- dingten und behebbaren Defekts auf Schadenersatz verklagen werden.

Mehr als ein reines Interessen- und Bedürfniswesen

Es ist eine umstrittene Frage, wie stark und ob überhaupt der moderne Grund- rechtsgedanke und seine politisch-juri- dische Durchsetzung von einem Ethos der Würde abhängig ist, das im Men- schen mehr als ein komplexes Interes- sen- und Bedürfniswesen sieht, einem Ethos, dem durch die Voraussetzungen, Ziele und Zwänge globaler Marktme- chanismen und durch den selbsttätigen Imperialismus eines wissenschaftlich- technischen Progresses der Boden eng gemacht oder gar entzogen wird. Die moderne Kultur wissenschaftlichen Forschens, wissenschaftsgestützten In- formierens und Machens bedient Inter- essen, darunter auch elementare Be- dürfnisse, ohne deren Befriedigung wir nicht mehr überleben, geschweige denn angenehm leben könnten.

Doch unübersehbar ist, dass sie auch einen (standesunabhängigen) Vulgär- hedonismus bedient und Infantilisie- rungstendenzen fördert. Unübersehbar scheint auch, dass dieser gewaltigen Mittel-Kultur des Informierens, Steu- erns und Machens keine vergleichbare

Kraft einer öffentlichen Kultur von überzeugenden selbstwerthaften Zie- len des Informierens und Machens ent- spricht, die die natürliche oder künst- lich erweiterte Bedürfnisebene über- steigen.

Es mag sein, dass der Grundrechts- gedanke realisierbar bleibt, auch wenn die Welt weitgehend von Menschen er- füllt ist und beherrscht wird, die sich na- turalistisch verstehen, die in ihren Zie- len sich vom Tier nur dem Grad oder Raffinement nach unterscheiden und unterscheiden wollen. Solange dabei noch Raum bleibt für eine Lebenskul- tur jener, die der alten Idee der Würde anhängen, könnten diese der Möglich- keit mit Gelassenheit ins Auge sehen.

Aber es könnte auch sein, dass durch das globale Zusammenspiel von wissen- schaftlich-technischem Progress und verbrauchsintensivem massenhaften Banalhedonismus unsere schöne kleine Welt auf Dauer aus den Fugen gerät und weder würdigem noch weniger würdigem menschlichen Leben Platz gewährt.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 1039–1042 [Heft 16]

Literatur

1. In: M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissen- schaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 21951, 566–597.

2. Ebd. 578 f.

3. Vgl. H. Hepp: Die extrakorporale Befruchtung – Fort- schritt oder Bedrohung des Menschen?, in: G. W.

Hunold und W. Korff (Hrsg.): Die Welt für morgen.

Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zu- kunft, München 1986, 259 f.

4. Vgl. dazu W. Lenzen: Liebe, Leben, Tod. Eine moral- philosophische Studie, Stuttgart 1999, 136–148.

5. Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Ver- ständigung, Darmstadt 1998, 91–119.

6. R. Zippelius: Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, München 2 1996, 246.

7. Zippelius, a. a. 0. 248; vgl. Bonner Kommentar. Kom- mentar zum Bonner Grundgesetz, 57. Lfg. Dez. 1989 (Drittbearb. Zippelius), 12 ff.

8. Zu dieser Unterscheidung im Gebrauch des Würde- begriffs vgl. D. Birnbacher: Gefährdet die moderne Re- produktionsmedizin die menschliche Würde?, in: Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord.

Hg. v. A. Leist, Frankfurt 1990, 266–281.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. phil. Maximilian Forschner Institut für Philosophie der

Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1

91054 Erlangen

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A

A1042 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 16½½½½20. April 2001

S

eit Oktober letzten Jahres sind in tür- kischen Gefängnissen Hunderte von Häftlingen im Hungerstreik, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren.

Im Zuge einer Gefängnisreform waren zahlreiche Gefangene aus den üblichen Massenunterkünften in kleinere Zellen für bis zu drei Häftlinge verlegt worden.

Menschenrechtsorganisationen befürch- ten, dass den Gefangenen dort die Isola- tion droht und sie leichter von Auf-

sehern misshandelt werden könnten.

Sechs Menschen haben sich bereits zu Tode gehungert. Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsorganisation (HRA) beteiligen sich derzeit rund 1 600 Häftlinge an Hungerstreiks, 120 von ih- nen seien inzwischen in einem kritischen Zustand.

Die Türkische Ärztekammer hatte sich bereits zu Beginn des Hungerstreiks um Vermittlung zwischen den Häftlin- gen und dem Justizministerium bemüht – ohne Erfolg, wie Prof. Dr. Veli Lök, Orthopäde und Mitbegründer der türki- schen Menschenrechtsstiftung, in einem Brief an den Weltärztebund berichtete.

Stattdessen seien Ärzte verstärkt unter Druck gesetzt worden, hungerstreiken- de Gefangene zwangsweise zu ernähren.

Denjenigen, die sich weigerten, drohten juristische Konsequenzen. Auch der Ge- neralsekretär des Weltärztebundes, Dr.

Delon Human, hatte die türkische Re- gierung aufgefordert, Gewalt und Folter in den Gefängnissen zu beenden sowie alle Angriffe gegen Ärzte und Heilbe- rufler zu stoppen. Er verlangte zudem, die Zwangsernährung der Hungerstrei- kenden zu beenden, um die Patientenau- tonomie sicherzustellen.

Der Europäischen Kommission zu- folge hat zumindest der Druck der tür- kischen Regierung auf die Ärzte nach- gelassen. Die Regierung in Ankara hat jedoch klargestellt, dass sie an dem Ge- fängniskonzept festhalte. Die neuen Haftanstalten entsprächen den Richtli- nien des Europarats zum humanen

Strafvollzug. HK

Türkische Gefängnisse

Todesopfer unter

Hungerstreikenden

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