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Folgen von Armut und Trauma im deutschen Gesundheitswesen

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von Hermann Elgeti

Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick zu den vielfältigen Folgen schwerer sozialer Notlagen und psychischer Verletzungen auf die Gesundheit der davon betroffenen Menschen. Zunächst wird die Geschichte der Armut gestreift, Begriff und Umfang des Armutsrisikos in Deutschland vorgestellt und einige Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheitsstörungen beleuchtet. Als Beispiele dienen Arbeitslosigkeit und Kinderarmut. Danach wird der Begriff der Traumafolgestörungen erläutert. Dabei werden literarische Vorlagen zu Hilfe genommen, historische Umstände der Traumaforschung erwähnt und aktuelle diagnostische Differenzierungen referiert.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung. Zum Schluss gibt es Hinweise, wie und wo uns traumatisierte Patienten im medizinischen Alltag begegnen können; die damit verbundenen emotionalen Herausforderungen für die Helfer sollten nicht geleugnet werden.

Armut macht krank

Lange Zeit galt den meisten Menschen Armut als ein Schicksal, das man nicht in Frage stellte.2 Extreme Armut war ein Massenphänomen, besonders bei Missernten und Teuerung. Witwen, Waisen, Kranke und alte Menschen hatten grundsätzlich ein hohes Risiko zu verarmen. Die Betreuung derjenigen, die nicht für sich selbst sorgen konnten, war hauptsächlich eine Aufgabe der Familie, doch deren Möglichkeiten waren begrenzt. Daneben bestand eine gewisse Fürsorgepflicht seitens der Grundherren und Herrscher. Das Mittelalter kannte auch bereits Hilfseinrichtungen der Gilden und Zünfte, Pfarreien und Klöster; vereinzelt unterhielten wohltätige Stiftungen Hospitäler für verarmte Mitbürger.

Meist wurden arme Menschen von den Mitmenschen verachtet und gedemütigt. Als eine Reaktion darauf kann man ab dem 11. Jahrhundert aber auch eine Idealisierung der Armut bemerken, formuliert durch religiöse Orden und Laienbewegungen. Für sie war Armut ein Weg zu Gott, das erforderte die Abwendung von der Welt und nahm so das Leben nach der Wiederkehr Christi auf Erden vorweg. In Europa spitzten sich die Probleme mit massenhafter und extremer Armut an der Wende zur Neuzeit zu, durch Bevölkerungsverschiebungen und Landflucht, verstärkte Arbeitsteilung und Verfall der Reallöhne. Umherziehende Bettlerscharen aus Tagelöhnern, Kranken, Siechen, Söldnern und Arbeitsscheuen bildeten vielerorts eine förmliche Landplage.

Parallel dazu wagte man im Zeitalter der Renaissance einen neuen Blick auf den Menschen und entwickelte dabei auch ein verändertes Verständnis der Armut, die nun eher als ein Ausdruck sozialer Ungleichheit angesehen wurde.

1schriftliche Fassung eines Vortrag auf dem Symposium „Gesundheitliche Folgen struktureller und militärischer Gewalt“ beim 9. Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin und Notfallmedizin vom 3.-6. Dezember 2008 in Hamburg

2 Ritter GA (1991): Der Sozialstaat – Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München:

Oldenbourg Verlag

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Die materielle Armut wird heutzutage nach komplizierten statistischen Verfahren berechnet.3 Für die Bestimmung der Armutsrisikoquote wird in Deutschland der Anteil der Personen ermittelt, die in Haushalten mit einem „bedarfsgewichteten Nettoäquivalenzeinkommen“ leben, das unter 60% des Mittelwerts (Median) aller Personen liegt. Die so genannte Armutsrisikogrenze lag nach den Daten des Sozio- oekonomischen Panels (SOEP) von 2006 bei einem Nettoäquivalenzeinkommen von monatlich 880 Euro. Nach diesen Daten wurde die Armutsquote in Deutschland durch öffentliche Transfers im Rahmen der Steuer-, Vermögens- und Sozialpolitik von 26% auf 18% gesenkt. In der Wirkung dieser Transfers auf die Armutsquote belegt Deutschland im europäischen Vergleich nach den letzten verfügbaren Daten der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen „Leben in Europa“ (EU-SILC 2006) einen Mittelplatz. Laut dieser Statistik sank die Armutsquote in Deutschland 2006 durch öffentliche Transfers sogar von 26% auf 13%. Eine prozentual stärkere Senkung gelang fünf der übrigen 24 Staaten der Europäischen Union, eine niedrigere Quote hatten sechs Staaten. In den letzten Jahren stieg das Armutsrisiko in Deutschland an, und die Wirksamkeit der öffentlichen Transfers nahm ab (Abbildung 1).

Abbildung 1: Armutsrisiko in Deutschland (SOEP)

0%

10%

20%

30%

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

<60% des Medianeinkommens vor Sozialtransfers i. e. Sinne

Das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen von Armut unterscheidet sich je nach der Krankheit, die man untersucht. Ermittelt man das Vorkommen einer Krankheit (Prävalenz) getrennt bei Personen der Oberschicht (OS) und der Unterschicht (US) und setzt diese Werte dann miteinander in Beziehung (US:OS), erhält man die relative Häufigkeit (Odds Ratio). Werte über 1 signalisieren ein erhöhtes Risiko bei Unterschicht-Angehörigen. Dies gilt nach den Daten des telefonischen Gesundheitssurvey 2003 in Bezug auf beide Geschlechter in signifikantem Ausmaß für die chronische Bronchitis und die Depression, nicht aber für Asthma bronchiale und Herzinfarkt (Tabelle 1).4 Männer aus der Unterschicht haben ein deutlich erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, Frauen aber nicht. Das Risiko für

3 Deutscher Bundestag (2008): Lebenslagen in Deutschland Dritter Armuts- und Reichtumsbericht. BT- Drucksache 16/9915

4 Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2006): Gesundheit in Deutschland. Berlin: Verlag Robert-Koch- Institut; S. 84

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Diabetes mellitus erscheint in der Befragung bei Männern der Unterschicht im Gegensatz zu den Frauen vermindert, was allerdings vermutlich darauf beruht, dass diese Männer ihre Krankheit häufig gar nicht kennen, weil sie seltener den Arzt aufsuchen.

Tabelle 1: relative Häufigkeit chronischer Krankheiten

Männer Frauen

Prävalenz (alle)

Odds Ratio

(US:OS) Prävalenz (alle) Odds Ratio (US:OS)

Herzinfarkt 3,3% 1,56 1,9% 2,15

Schlaganfall 1,6% 2,56** 1,7% 2,01

Diabetes mellitus 3,8% 0,39** 4,1% 2,02**

chronische Bronchitis 6,7% 1,51* 9,6% 1,52*

Asthma bronchiale 5,2% 1,33 6,1% 1,09

Depression 12,5% 2,01*** 20,8% 1,58***

Signifikanzniveaus: * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001

Ein wichtiger Indikator für Armut bei Studien zum Zusammenhang von Armut und Gesundheit ist die Arbeitslosigkeit. Man unterscheidet Selektionseffekte (kranke Menschen werden eher arbeitslos) und Kausaleffekte (arbeitslose Menschen werden eher krank). Folgende Kausaleffekte sind nachgewiesen: Arbeitslose haben ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko, und sie nehmen das Gesundheitssystem stärker in Anspruch. Arbeitslose Männer zeigen auch gehäuft ein riskantes Gesundheitsverhalten. Als Beispiel sollen hier Auswertungen aus dem Bundes- Gesundheitssurvey 1998 erwähnt werden, die die Verbreitung gesundheitsbedingter Einschränkungen im Alltagsleben im Hinblick auf die Dauer der Arbeitslosigkeit untersuchten5. Im Vergleich zu Vergleichspersonen mit mindestens 15 Wochenstunden Erwerbstätigkeit sind diejenigen Männer häufiger chronisch krank, die innerhalb eines Fünfjahreszeitraums früher einmal oder zum Zeitpunkt der Befragung aktuell mindestens ein Jahr lang arbeitslos waren (Tabelle 2). Bei den Frauen waren chronische Krankheiten vor allem dann erhöht, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht so lange andauerte; eine frühere Arbeitslosigkeit hatte dagegen keine entsprechenden Auswirkungen.

Tabelle 2: Verbreitung gesundheitsbedingter Einschränkungen im Alltagsleben 20-59jährige Männer 20-59jährige Frauen Anteil Odds Ratio Anteil Odds Ratio erwerbstätig (≥15 h/Wo.) 24,7% Referenzkategorie 26,5% Referenzkategorie früher arbeitslos (≤5 Jahre) 31,0% 1,52*** 28,3% 1,17

aktuell arbeitslos (<12 Monate) 23,1% 1,04 51,6% 3,08***

aktuell arbeitslos (≥12 Monate) 51,9% 3,19*** 40,2% 1,67*

Signifikanzniveaus: * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001

5 Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2006): Gesundheit in Deutschland. Berlin: Verlag Robert-Koch- Institut; S. 86

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Ein erweitertes Verständnis von Armut findet insbesondere bei der Beurteilung der Situation von Kindern Anwendung. Neben der materiellen Armut (Nahrung, Kleidung, Wohnung) ist auch eine psychophysische (Gesundheitszustand, körperliche Entwicklung), soziale (Kontakte, Kompetenzen) und kulturelle (Bildung, sprachlich- kognitive Entwicklung) Armut von Bedeutung. Armut wird bei Kindern dann angenommen, wenn eine Hilfsbedürftigkeit im Sinne des Sozialgesetzbuchs II vorliegt. Nach dieser Definition lebten im Juni 2007 in Niedersachsen 16% aller Kinder in Armut, je nach Wohnort schwankte der Wert zwischen 10% und 30%.6 Die diesbezüglichen Regelsätze sehen z.B. für das Essen zurzeit einen täglichen Geldbetrag von 2,51 € vor.

Der Einfluss materieller Armut auf die Gesundheit und die Bildung von Kindern lässt sich in dem kurzen Satz zusammenfassen: „Armut macht Kinder krank und dumm.“

Ein gut untersuchtes Beispiel ist der von Micheelis und Bauch (1991) dargestellte Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Zahngesundheit, erhoben 1989 an einer Stichprobe von 895 Schulkindern in Westdeutschland (Tabelle 3).7 Danach finden sich bei den Schülern umso mehr kariöse Zähne bzw. Zahnlücken, je schlechter die soziale Lage der Kinder ist.

Tabelle 3: Soziale Schicht und Zahngesundheit bei Schulkindern (1989) kariöse Zähne, ggf. entfernt/gefüllt Unterschicht Mittelschicht Oberschicht

8-9 Jahre (Milchzähne) 5,0 3,4 2,2

8-9 Jahre 2,1 1,3 1,0

13-14 Jahre 6,1 5,1 2,9

Die Belastbarkeit der Seele ist begrenzt

Seelische Traumatisierungen und Traumafolgestörungen sind keine „neuen“

Krankheiten, auch wenn sie in den letzten Jahren in der Fachöffentlichkeit und in den Massenmedien verstärkt thematisiert werden.8 Die Literatur kennt seit langem schwere seelische Verletzungen in extremen Belastungssituationen, nach denen die Betroffenen nicht mehr sie selbst waren. In dem Homer zugeschriebenen antiken Epos Ilias (~700 v. Chr.) wird beschrieben, wie der griechische Held Achill vor Wut außer sich gerät.9 Eigentlich hatte er sich, von Agamemnon beleidigt, aus dem Kampf vor Troja herausgehalten, stürzte sich dann aber doch hinein, als sein Geliebter Patroklos im Kampf von Hektor getötet worden war. In unersättlichem Rachedurst machte er viele Trojaner nieder, schändete den Leichnam des von ihm getöteten Hektor und opferte auf Patroklos’ Scheiterhaufen noch 12 junge Trojaner.

6 Arbeitskreis Armut und Gesundheit Niedersachsen (2008): Strategien gegen Kinderarmut. Hannover:

Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.; S. 3

7 Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 03/01 (2001): Armut bei Kindern und Jugendlichen. Berlin:

Verlag Robert-Koch-Institut; S. 4

8 Bode S (2004): Die vergessene Generation. Stuttgart: Klett-Cotta

9 Homer (2003): Ilias Odyssee. Deutsch von Johann Heinrich Voss. Köln: Parkland Verlag

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Weitere bekannte literarische Beispiele für die Folgen seelischer Traumatisierungen lieferten William Shakespeare in seiner Tragödie Hamlet (~1603)10 und Philip Roth in dem Roman Der menschliche Makel11. Ophelia, die Geliebte von Hamlet, verliert den Verstand, nachdem sie nacheinander mehrere schwere Verluste erleiden musste:

Erst geht ihr Bruder auf unbestimmte Zeit fort, dann tötet Hamlet versehentlich ihren Vater Polonius, verleugnet anschließend seine Liebe zu ihr und schickt sie ins Kloster. Ophelia wird wahnsinnig und ertränkt sich in einem Bach. Roth stellt in seinem Buch den Vietnam-Veteranen Les Farley vor, der durch Kampfeinsätze eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hatte. Er war in einer Spezialklinik zur Behandlung und erhielt Unterstützung von Mitgliedern einer Selbsthilfegruppe. Dann hat er aber doch seine Ex-Frau Faunia samt ihrem Liebhaber Coleman Silk umgebracht, und der Ich-Erzähler trifft ihn am Ende zufällig beim Eisfischen auf einem zugefrorenen einsam gelegenen Bergsee.

Die wissenschaftliche Erforschung von Traumafolgestörungen begann in England während der Industrialisierung, nachdem es durch den Eisenbahnbau und die Fabrikarbeit zu ersten Massenunfällen gekommen war. Diese galten nicht mehr als ein einfach hinzunehmendes Schicksal. Angehörige der Toten, verkrüppelte Opfer, aber auch körperlich unversehrte, arbeitsunfähig gewordene Unfallopfer stellten Regressforderungen und wurden in diesem Zusammenhang medizinisch begutachtet. Später erzeugte der Massentod in den Schützengräben im 1. Weltkrieg viele traumatische Neurosen („Kriegszitterer“). Die Rentenanträge von Opfern wurden später in Deutschland allerdings mit Hinweisen auf eine angebliche

„Rentenneurose“ und den damit ersehnten „sekundären Krankheitsgewinn“

abgelehnt. Im 2. Weltkrieg verwandte man gelegentlich zur Vorbeugung von Traumafolgestörungen psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Koffein und Pervitin;

Briten und US-Amerikaner entwickelten damals auch bereits Gruppentherapien.

Traumatische Ereignisse sind nicht außergewöhnlich, weil sie selten sind, sondern weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern.12 Die traumatisierte Psyche wird überwältigt von Gefühlen intensiver Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust, drohender Vernichtung. Als Notreaktion folgt dann eine Art Lähmung von Denken, Fühlen und Handeln; Veränderungen der Wahrnehmung führen zum Erleben von Leichtigkeit, Schmerz- und Furchtlosigkeit (Endorphinwirkung). Die Erlebnisfragmente werden isoliert im Gedächtnis sozusagen eingefroren, verlieren den Zusammenhang und werden so nicht verdaut. Sie überfluten, durch Trigger ausgelöst, immer wieder das Bewusstsein. Trauma-assoziierte Störungsbilder sind vor allem posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), dissoziative und artifizielle Störungen. Aber auch viele andere psychiatrische Krankheitsbilder haben eine traumatische Genese. Eventuell erscheint die Störung erst im Alter, nachdem sich

10 Shakespeare W (2006): Hamlet. Englisch-Deutsche Studienausgabe. Deutsche Prosafassung und Anmerkungen von Norbert Greiner, Einleitung und Kommentar von Wolfgang G. Müller. Tübingen:

Stauffenburg

11 Roth P (2002): Der menschliche Makel. München und Wien: Carl Hanser

12 Herman J (2003):Die Narben der Gewalt – Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden.Paderborn:

Junfermann Verlag

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die psychischen Abwehrkräfte erschöpft haben, wie es so viele Überlebende des Holocaust erleben mussten.

Die posttraumatische Belastungsstörung ist inzwischen eine international anerkannte und in den Diagnoseklassifikationen berücksichtigte Krankheit13. Man unterscheidet in der Fachliteratur zwei Typen von Traumatisierungen, ein Typ-I- und ein Typ-II- Trauma. Das Typ-I-Trauma ist schwer und kurz andauernd, wie es z.B. bei einem Unfall, einer Vergewaltigung oder einer Naturkatastrophe auftritt. Die Symptome bestehen im Wesentlichen in so genannten Nachhallerlebnissen (flash back), einem Vermeidungsverhalten und einer anhaltenden vegetativen Übererregbarkeit.

Anhaltspunkte für die Häufigkeit des Auftretens einer PTBS nach einem Typ-I- Trauma bieten die Ergebnisse von Nachuntersuchungen bei den Geiseln der im Herbst 1977 nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“: Nach einer Woche hatten 25% der Passagiere das Trauma verarbeitet, weitere 50%

entwickelten für die Dauer eines halben Jahres eine typische PTBS; die übrigen 25%

erlitten schwere chronische Beschwerden mit bleibender Beeinträchtigung.

Als Typ-II-Trauma werden multiple, chronisch rezidivierende Traumatisierungen in Kindheit und Jugend bezeichnet. Sie können auftreten in Form einer emotionalen Vernachlässigung oder als körperliche und sexuelle Misshandlungen. Zusätzlich zu den beim Typ-I-Trauma genannten Symptomen sieht man bei davon betroffenen Menschen sehr schwere Selbstwertprobleme, häufig auch dissoziative Zustände und selbst- bzw. fremdaggressive Impulsdurchbrüche. Nach einer US-amerikanischen Studie entwickeln 24,6% der Typ-I- und Typ-II-traumatisierten Kinder eine PTBS.

Physische Misshandlungen erleiden in der Normalbevölkerung 10,6% aller Mädchen und Jungen unter 16 Jahren, einem mehrfachen sexuellen Missbrauch (exklusive Exhibitionismus) sind 1,4% aller Jungen und 3,9% aller Mädchen ausgesetzt.14 Bei der Kindesmisshandlung wird unterschieden zwischen Vernachlässigung, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt. Als Vernachlässigung wird die Verweigerung von Liebe, Betreuung, Schutz und Förderung bezeichnet, die über mangelnde Ernährung und Pflege bis zur Verwahrlosung reichen kann. Häufige Formen körperlicher Gewalt sind Schütteln, Kneifen, Prügeln, Treten oder Würgen des Kindes. Seelische Gewalt kann sich äußern in einer Überforderung des Kindes oder seiner Instrumentalisierung in Eltern-Konflikten, im Miterleben von Gewalt, in harter Bestrafung oder übertriebener Fürsorge. Als sexuelle Gewalt gilt z.B.

Exhibitionismus, die Berührung der Geschlechtsteile, eine Penetration mit Gegenständen und Geschlechtsverkehr aller Art. Sexuelle Gewalt wird von den meist männlichen (evt. jungen) Tätern in der Regel geplant und nimmt über Jahre hin zu.

Kindesmisshandlungen erfolgen meistens dort, wo die Kinder leben, d. h. im familiären Umfeld. Täter sind in der Regel die Eltern, wobei misshandelnde Väter oder Mütter vielfach als Kind selbst Opfer von Gewalt waren. Die Ursachen von

13 Driessen M et al (2002): Ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine komplexe posttraumatische Störung? Zum Stand der Forschung. Nervenarzt 73 (9); 820-829

14 Wetzels P (1997): Zur Epidemiologie physischer und sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit – Ergebnisse einer repräsentativen Prävalenzstudie für die BRD. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen Forschungsberichte Nr. 59; S. 13-15

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Kindesmisshandlungen sind vielschichtig in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden; übersehen werden häufig besondere Belastungen und soziale Benachteiligungen, materielle Armut und psychisches Elend.

Soziale und seelische Notlagen fordern die Medizin heraus

Zum Abschluss dieses Überblicks soll kurz angedeutet werden, wie die Folgen von Armut und Trauma im medizinischen Alltag in Erscheinung treten. Akut traumatisierte Patienten suchen häufig zuerst den Hausarzt auf, schildern das auslösende Ereignis und wirken meist emotional belastet; flash backs sprechen sie kaum spontan an.

Liegt das Trauma schon lange zurück, wird eher fachärztliche Hilfe gesucht wegen Ängsten, Depressionen, Körperbeschwerden oder Suchtproblemen; die Zusammenhänge sind in der Regel erstmal nicht erkennbar. Ist es zu einer körperlichen Verletzung gekommen, sollten die hier behandelnden Fachärzte wissen, dass sich psychische Symptome noch verstärken können, und spezifische Psychotherapie anraten.

Grundsätzlich gilt, dass die mit seelisch traumatisierten Personen konfrontierten Helfer die Problematik weder bagatellisieren noch dramatisieren dürfen. Auf gar keinen Fall sollte man sich dazu hinreißen lassen, den Betroffenen ungelöste intrapsychische Konflikte zu unterstellen oder ihnen Schuldgefühle zu machen.

Dagegen ist Aufmerksamkeit für den leidenden Menschen und Behutsamkeit bei der Erkundung möglicher Ursachen gefragt. Eine spezielle Traumatherapie ist den dafür geschulten Fachleuten zu überlassen, wobei erst nach einer gelungenen Stabilisierung daran gegangen werden kann, eine Verarbeitung der traumatischen Erinnerungen zu fördern, unter Umständen mit Hilfe besonderer Verfahren wie EMDR. Eine dritte Phase der Traumatherapie dient abschließend der Integration der erlittenen Traumata in die Lebensgeschichte und das Selbstgefühl der Patienten sowie ihrer Neuorientierung mit Blick auf die Zukunft. Häufig fehlt es allerdings an geeigneter professioneller Hilfe und ausreichender sozialer Unterstützung im Lebensumfeld; doch selbst bei guten Voraussetzungen gelingt oft nicht alles.

Die Menschen träumen seit uralten Zeiten ebenso von einem Leben in Gesundheit wie auch von einer Freiheit von Angst und Not. Der Mensch ist zerbrechlich an Körper und Seele, er kann auch krank werden durch dauerhafte Notlagen (z.B.

Armut), durch Gewalt und überwältigende Angst (Trauma). Die Medizin kann bei vielen Krankheiten helfen, dank somatischer, psychiatrischer und zuletzt psychosomatischer Spezialisierungen. Die Folgen von Armut und Trauma für die Gesundheit der Menschen mahnen uns, auch das Soziale im Blickfeld der Medizin zu behalten. Angesichts des dann in unseren Arbeitsbereich eindringenden Elends der Welt überkommen auch uns leicht Gefühle der Ohnmacht, Wut und Trauer, wie wir sie von Patienten mit Traumafolgestörungen kennen. Doch wir sollten deshalb nicht die Augen vor diesem Elend verschließen; denn wir brauchen diese Blickerweiterung, um im Einzelfall die gegebenen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ausschöpfen zu können.

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Kontaktadresse Dr. Hermann Elgeti

Medizinische Hochschule Hannover

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Sozialpsychiatrische Poliklinik

Podbielskistraße 158 30177 Hannover

elgeti.hermann@mh-hannover.de

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