FRÜHE ERZÄHLUNGEN ZU MAÖNÜN
Magnün als Figur ohne Lebensgeschichte
Von Stefan Leder (Frankfurt/Main)
Wer mit Erzählliteratur befaßt ist, kann Magnün kaum entrinnen. Das hat,
der Haltung mancher Liebhaber zum Trotz, seinen guten Grund jenseits von
Romanze und Schwärmerei. In Werken der persischen Dichter hat die Gestalt
Magnüns ihre vielleicht vollendete Ausgestaltung zur Verkörperung absoluter,
selbstlos hingegebener Liebe gefunden. Die arabische Literatur, in der Mag¬
ün zuerst Gestalt gewann, bezeugt durch zahlreiche Erzählungen sehr unter¬
schiedlicher Qualität die beispiellose Beliebtheit dieser Figur schon in den älte¬
sten Zeugnissen.' Episodenhafte Erzählungen über Liebende in der Form von
ahbär, d. h. als Berichte von Augenzeugen oder Zeitgenossen unter Anfüh¬
rung der Tradenten überliefert, sind zahlreich und weit verbreitet; sie verbin¬
den die Darstellung von Einzelheiten aus dem Leben der Liebenden mit der
Überlieferung von Versgut. Zwei Kennzeichen aber unterscheiden Magnün
von allen anderen beduinischen Liebesdichtern der islamischen Frühzeit und
Helden entsprechender Erzählungen: Seine Besessenheit vom Weh um die ver¬
lorene geliebte Lailä und die Ungewißheit um seine Geschichte, die einerseits in
wildwucherndem Fabulieren zum Ausdruck kommt, andererseits zu Mei¬
nungsverschiedenheiten bezüglich seiner Identität^ und sogar zu Zweifeln an
der Existenz einer wirklichen Person dieses Namens geführt hat.^
' Ibn Qutaiba (st. 276/890): aS-Si'r waS-Su'arä'. Ed. Ahmad M. Säkir.
Kairo 1966 (mit Paginierung der Ausgabe De Goeje, Leiden 1904),
S. 563—573. Abü 1-Farag al-lsfahäni (st. 356/967): K. al-Agäni. Kairo
1345/1927—1394/1974, 2/1—96. as-Sarräg (st. 500/1106): Masäri' al-
'uSSäq. 1—2. Beirut 1378/1958, 1/33 f., 1/125 f.; vgl. 2/181, 2/32 f., 2/33 f., 2/46—48 (= 285—287), 2/52 f., 2/66 f., 2/75 f., 2/77 f., 2/86, 2/89 f., 2/90 f., 2/99 f., 2/287 f. as-Sarräg gibt diese Texte in der Über¬
lieferung von M. Ihn al-Marzubän (st. 309/921, vgl. 'Umar R.
Kahhäla: Mu'gam al-mu'allißn. Damaskus 1376—1381, 9/285 f.) wie¬
der; möglicherweise entnimmt er sie dessen Ahbär al-Magnün, welche
von al-Mäliki erwähnt werden (Tasmiyat mä warada bihl al-Hatib al-
Bagdädl DimaSq, Nr. 317. In: Yüsuf al-'USS: al-Hatib al-Bagdädl,
mu'arrih Bagdäd wa-muhaddituhü. Damaskus 1364/1945).
2 Er ist bekannt als Qais ibn Mu'äd oder ibn al-Mulauwah von den Banü
Ga'da ibn Ka'b oder'Uqail ibn Ka'b (S/V, 563).
3 Abü 1-Farag stellt in seiner Sammlung zu Magnün Aussagen früher
Autoritäten zusammen, die den Erzählungen jeden historischen Hinter¬
grund absprechen; vgl. Ignatij J. KraCkowskij: Die Frühgeschichte der Erzählung von Macnün und Lailä in der arabischen Literatur, über¬
setzt von Hellmut Ritter. In: Oriens 8 (1955), S. 1—50, S. 8—11. Zum Teil von denselben Autoritäten werden aber auch Aussagen und Berichte überliefert, die das Schicksal Magnüns bezeugen (vgl. ibd. S. 11).
Die Lösung von einem historischen Vorbild in der Erzählform des habar
ist kaum je so klar zu beobachten, wie in den Erzählungen zu Magnün. Diese
Entwicklung schließt nicht aus, daß sie ihren Ursprung im Geschick eines
wirklichen Magnün haben. Doch bieten die Texte ein vielfältiges Erzählgut,
welches ein wirkliches Geschehen in klaren Umrissen nicht zu erkennen gibt.
Die Erzählungen liefern zu einem beträchtlichen Teil unterschiedliche —
auch unvereinbare — Darstellungen gleicher Begebenheiten" oder verwenden
gleiche Motive in Erzählungen über unterschiedliche Ereignisse.' Auch bleibt
die Verbindung der in den a/iöär-Sammlungen genannten Autoritäten zum
Geschehen weitgehend unbestimmt, weil sich nur wenige genaue — und kei¬
ne glaubhaften — Angaben zu Augenzeugen oder ursprünglichen Berichter¬
stattern finden.* Die Texte vermitteln somit den Eindruck, daß zahlreiche
,,Logographen"7 an der Herausbildung eines in wesentlichen Umrissen weit¬
hin bekannten Erzählstoffes beteiligt waren, ohne über dessen Herkunft viel
in Erfahrung bringen zu können.
Vgl. z. B.: Si'r § 990, Masäri', 2/77 f (= Ibn al-GauzI: _Damm al-hawä.
Ed. Mustafä Abdaldwähid. Kairo 1381/1962, S. 387X S/'r §991;
Damm, 397; dazu auch Masäri', 2/66 f. (= Damm, 398 f.); Agäni,
2/44—46 (= Masäri', 2/46—48 = Damm, 381—383); vgl. auch Anm.
6.
' Von den wiederkehrenden Motiven seien hier nur z. B. die zur Mitgift be¬
stimmten Kamelinen (qalä'is), Masäri' , 2/58, 2/89 f., und Magnüns Mit¬
gefühl für Gazellen (siehe Anm. 45) genannt.
' Über Begegnungen Magnüns mit Naufal ibn Musähiq (st. nach 65/685;
Ibn Sa'd: at-Tabaqät. Ed. Eduard Sachau u. a., Leiden 1905—1918,
5/179 f.) sind unscharfe und widersprüchliche Darstellungen überliefert {Si'r, 565,8—566,2, Masäri', 2/90 f. = Damm, 390 ff., Masäri', 2/58).
Auch über Zusammentreffen Magnüns mit ' Umar bzw. Muhammad ibn
'Abdarrahmän ibn 'Auf (s. Ihn Qutaiba: K. al-Ma'ärif. Ed. Tarwat
'UkäSa. Kairo 1960, S. 237), Steuereinnehmer für Marwän ibn al-
Hakam, als dieser wä//des Higäz war, sind Erzählungen verbreitet, die in
Einzelheiten der Handlungsführung unvereinbar sind {Agäni, 2/16 f.,
Masäri', 2/89 f.).
' Regis Blachere führte den Begriff für die ahbärlyün der frühen Abba¬
sidenzeit ein: Histoire de la litterature arabe. Paris 1952—66, S. 117 ff.
und passim).
152 Stefan Leder
Aus diesem Grund ist das Bild vom literarischen Werden Magnüns bislang
sehr ungefähr.* Es läßt sich hier in zwei Richtungen präzisieren: Herkunft und
Entstehungszeit der Erzählungen in unserer ähesten Quelle zu Magnün, Ibn
Qutaibas as-Si'r was-su'arä, lassen sich genauer eingrenzen. Zudem ist schon
in diesen frühen Erzählungen eine Gestahung erkennbar, die einen bewußten
Umgang mit dem Problem der historischen Wirkhchkeit verrät. Die erzähleri¬
sche Formgebung scheint bemüht, der Lebensgeschichte Magnüns eine unter¬
geordnete Bedeutung zuzuweisen, und ermöghcht durch die geschickte Auflö¬
sung der direkten Berichtsform, eine Schilderung der tatsächlichen Begeben¬
heiten zu umgehen. Die wesentlichen Züge der Gestalt Magnüns zeigen hier
aber schon ihre auch späterhin kennzeichnende Prägung.
Ibn Qutaibas Darstellung umfaßt insgesamt sieben episodenhafte Erzäh¬
lungen, doch weist er auf die Herkunft nur eines dieser Texte hin' — auch
hier, ohne seine unmittelbare Quelle zu nennen:
1. Si'rS. 564,11 —14: Jugendliebe Magnüns; II. S. 565,1—7: Liebesbündnis und Liebeskrankheit; III. S. 565,8—566,2; Vermittlungsversuch durch Nau¬
fal (die drei Abschnitte wurden vom Herausgeber in mißlicher Einteilung mit
der Numerierung §§ 985—987 versehen); IV. § 988: Begegnung mit Lailä —
ihre Trauer um Magnüns Leid; V. § 989: Vergeblicher Versuch, Magnün
durch eine Wallfahrt zu läutern; VI. §990: Begegnung mit Magnün auf dem Wege nach Mekka — seine Krankheit, seine Verse (die Verse S. 569,7—10 sind in anderen Überlieferungen (s. u.) nicht Bestandteil der Erzählung); VIL
§ 991: Besucher bei den Banü "Ämir — Magnüns Geschichte, sein Leben in der Wildnis, sein Tod.
Aufschlüsse zu den Quellen Ibn Qutaibas bieten sich, wenn Paralleltexte in
Werken, welche mit ausführlichen Herkunftsangaben (Isnäden) versehen
sind, zu einer vorsichtigen Auswertung herangezogen werden. Wie die fol¬
genden, hier in gedrängter Form dargestellten Überlegungen verdeutlichen
* KraCkowskij sah ,,die quellen der entstehung der macnüngeschichte"
in der Omaiyadenzeit (S. 14). Nach seiner Auffassung stellen die Aussa¬
gen, welche die Figur Magnüns mit einem Omaiyaden-Jüngling in Ver¬
bindung bringen, bewußte Verfälschungen dar (Agäni, 2/8,6—8 von
'Awäna ibn al-Hakam, st. 147/764 vgl. EF 1/176, und Agäni, 2/2,
2/8,3—5 von Aiyüb ibn 'Abäya, zitiert nach Ibrähim ibn al-Mundir al- Hizäml, St. 230/844-5, vgl. al-Hatib al-Bagdädi: Ta'rih Bagdäd. Kairo 1349/1931, 6/179). ,,Der grundstock" des Schrifttums bildet sich seiner Ansicht nach aber erst ,, ungefähr in der 2. hälfte des 10. jahrhunderts"
aus (S. 3). Dagegen hat As'ad Khairallah zu Recht darauf hingewie¬
sen, daß nach Zeugnis Ibn Qutaibas die Figur Magnüns im letzten Viertel des 9. Jhs. schon feste Umrisse erhalten hatte (Love, Madnes and Poetry
— An Interpretation ofthe Magnün Legend. Wiesbaden 1980 (BTS 25),
S. 50).
9 Si'r § 990.
sollen, bietet Texticritik im Verein mit /s«äc^-Kritik die Möglichkeit, Einsich¬
ten in die Literaturgeschichte, die vor der Entstehung der ältesten uns erhal¬
tenen Quellen liegt, zu gewinnen. Dabei können Isnäde als Anhaltspunkte
dienlich sein. Voraussetzung dafür ist aber, daß die vorgefundenen Her¬
kunftsangaben nicht nur auf der Grundlage einer allgemeinen Einschätzung
Glauben finden, sondern durch den Vergleich paralleler Texte überprüft wer¬
den. Ich möchte zudem behaupten, daß dieser Weg auch für andere isnäd-
gebundene Textbereiche vor trügerischen Schlüssen bewahrt, die sich aus rein
„/5nM-technischen" Überlegungen ergeben können.
Einen deutlichen Hinweis auf Ibn Qutaibas Quelle hefert (Erzählung IV)
die Schilderung eines Reisenden der bei Lailä einkehrt und ihr Kunde über
den unglücklichen Magnün bringt. In übereinstimmender Form ist diese Er¬
zählung auch in der Sammlung von as-Sarräg enthaken,'" der sie nach
einem al-'Umari zitiert. Mit geringfügigen Differenzen findet sich diese Epi¬
sode auch im Kitäb al-Agäni^\ wo unter Angabe eines anderen Überliefe¬
rungsweges, also von anderen Mittelsmännern als bei as-Sarräg, ebenfalls al-
'Umari zitiert wird. Über diesen, Hafs ibn 'Umar al-'Umarl, einen oft ge¬
nannten Überlieferer und, der Angabe Ibn an-Nadims zufolge, Autoren,ist
wenig in Erfahrung zu bringen. Möglicherweise handelt es sich bei ihm um
den in der schütischen r/gaZ-Literatur erwähnten wakil des 11. Imams der
späteren Zwölfer-Schia, al-Hasan al-'Askaris (st. im Jahre 873). Diese
Chronologie würde jedenfalls erlauben, in al-'Umarl auch die Quelle Ibn
Qutaibas zu vermuten.
Wichtig ist al-'Umari, weil für fast alle Abschnitte bei Ibn Qutaiba der
Vergleich mit anderen Werken auf seine Spur führt: Ibn Qutaiba eröffnet
seine Darstellung mit einer äußerst knapp gehaltenen aitiologischen Erzäh¬
lung (I) über die Jugendliebe zwischen Magnün und Lailä, auf welche be¬
rühmte Verse Magnüns anspielen. Unter allen Parallelen, die diese Verse in
ähnlichem Rahmen bieten, zeigt nur die Version, die Ibn al-Gauzi von al-
'Umarl zitiert, mit Ibn Qutaibas Text identische Ausdrucksweisen.'"
Masäri' , 1/33 f; zitiert über Ibn al-Marzubän / al-Qäsim ibn al-Hasan / al-'Umarl / al Haitam ibn 'Adi / 'Utman ibn 'Umära.
" Agäni, 2/86 f; zitiert über al-Kuränl / al-'Umari / al Haitam ibn ' Adi / 'Utman ibn 'Umära.
'2 Ihn an-Nadim: al-Fihrist. Ed. RiDÄ TaGaddud. Teheran 1391/1971,
S. 113.
'3 Al-Amin AL-HuSAiNi: A'yän aS-SVa. Damaskus 1353/1935 etc.,
27/419—21. Bei diesem Hafs ibn 'Umar handelt es sich nicht um die in
der biographischen Literatur wohlbekannten Namensvettern ad-Darir, al-Haudl und ad-Düri.
'" Damm, 383; zitiert über ibn al-Marzubän / al-'Umari / Laqit ibn Bu¬
kair.
154 Stefan Leder
Eine weitere Spur zu al-'Umari bietet sich mit der Erzählung (VI) über die
Begegnung mit Magnün auf dem Wege nach Mekka. Ibn Qutaiba beruft sich
hier auf (hakä) al-Haitam ibn 'Adi," der als ein früher Autor und Überliefe¬
rer bekannt ist und auch in anderen Quellen mehrfach mit Materialien zu
Magnün angeführt wird.'* Ibn Qutaiba hat aber nicht etwa eine ,, Monogra¬
phie" des Genannten benutzt;'^ vielmehr erweisen im Vergleich zu anderen
Parallelen bemerkenswerte Übereinstimmungen in Wortlaut und Hand¬
lungsverlauf, daß wiederum eine Verwandtschaft zu einem von al-'Umarl zi¬
tierten Haitam-Text vorliegt, den Abü 1-Farag wiedergibt. Dieser beruft sich
aber hier, wie so oft in seinem Werk, nicht nur auf eine Überlieferung, son¬
dern führt in einem zweiten Isnäd 'Umar ibn Sabba'^, den bekannten Ver¬
fasser von a^Mr-Sammlungen, an." Doch ist al-'Umarl als die Quelle zu be¬
trachten, die Abü 1-Farag und, wie zu folgern ist, Ibn Qutaiba wiedergeben,
weil die Annahme naheliegt, daß die Schlußfolgerung, welche sich aus der
Beobachtung an einem ähnlichen Fall ergibt, auch hier Gültigkeit hat: Die
Erzählung eines Besuchers bei den Banü 'Ämir, der Zeuge des Todes von
Magnün wird, gibt Abü 1-Farag parallel zu Ibn Qutaiba (VII) wieder. Er be¬
ruft sich dafür auf insgesamt fünf Quellen, unter ihnen 'Umar ibn Sabba
und al-'Umari.20 Einige Seiten zuvor^' gibt Abü 1-Farag den ersten Teil die¬
ser Erzählung nach 'Umar ibn Sabba wieder; keine der dort erscheinenden,
zur zweiten Wiedergabe unterschiedlichen Formulierungen sind aber bei Ibn
Qutaiba wiederzufinden. Wir dürfen folgern, daß 'Umar ibn Sabba für die
zu Ibn Qutaiba parallele Erzählung zwar als eine Quelle von Abü 1-Farag an-
" Gestorben 207/822; vgl. EF s. n. Haitam und die von ihm zitierten Texte
sind Gegenstand meiner Studie Das Korpus al-Haitam ibn 'Adi — Her¬
kunft, Überlieferung, Ceslah früher ahbär-Texte (Habil. Schrift, Frank¬
furt 1988).
" Belegstellennachweis siehe ibd.
'7 Fuat Sezgin schlägt aufgrund der häufigen Zitierungen im K. al-Agäni
eine ahbär-Sammlung von Haitam als mögliche Quelle Abü 1-Fara|s vor
(Gesciiichte des arabischen Schrifttums |GAS|. Bd. 2, Leiden 1975, S.
392). Haitam wird von Ibn an-Nadim auch unter den Verfassern von Lie¬
besgeschichten genannt (Fihrist, S. 365).
I« Gestorben um 262/873; vgl. GAS, Bd. 1, Leiden 1%7, S. 345 f.
" Agäni, 2/22 ff. Abü 1-Fara| zitiert (1) über al-Kuräni / al-'Umarl / al-
Haitam ibn 'Adi und (2) über al-Gauhari / 'Umar ibn Sabba / dakara
1-Haitam / Abü Miskin.
20 Agäni, 2/87 ff. Abü 1-Farag zitiert (1) über al-Gauhari / 'Umar ibn
Sabba / dakara 1-Haitam ibn 'Adi / 'Utmän ibn 'Umära; (2) über al-
Kuräni / al-'Umari / Laqit ibn Bukair; (3) über 'Abdallah ibn Muslim /
dakara 1-Haitam ibn 'Adi / 'Utmän ibn 'Umära; (4) Ahmad ibn Hätim /
von al-Asma'i (?) / 'Utmän ibn 'Umära; (5) Ibn al-A'räbi / 'Utmän ibn 'Umära.
21 Agäni, 2/15 f.
geführt, nicht aber zitiert wird.
Auch die verbleibenden Erzählungen bei Ibn Qutaiba lassen sich — mit
einer Ausnahme^- — mit Überlieferungen von al-'Umari in Zusammenhang
bringen. ^3 in ihm zeichnet sich die Quelle ab, aus der Ibn Qutaiba seine Ma¬
terialien zu Magnün bezieht.
Unter den Erzählungen zu Magnün hat sich, wie auch im Zusammenhang
anderer bekannter Erzählstoffe häufig zu beobachten ist, eine bemerkens¬
werte Anzahl von parallelen Fassungen herausgebildet, die, z. T. unter An¬
führung verschiedener Gewährsleute, mehr oder weniger übereinstimmend
von gleichen Begebenheiten erzählen. Differierende, aber mit den genannten
Erzählungen verwandte Versionen, die von verschiedenen ahbärlyün überlie¬
fert werden, müssen hier unberücksichtigt bleiben; in vielen Fällen, den Be¬
weis kann ich hier nur ankündigen, lassen sich unter ihnen falsche Zuschrei¬
bungen in Form von Plagiaten, bzw. ungelenke Nacherzählungen gewiß spä¬
ter Entstehung erkennen.
22 Naufals Vermittlung (III), Si'r, 565,8—566,2.
23 Die Überlegungen, welche die Quellen der Erzählungen II und V betref¬
fen, können hier nur angedeutet werden. Mit den von Ihn Qutaiba wie¬
dergegebenen Überlieferungen sind zwei parallele Erzählungen bei Abü 1- Farag in Verbindung zu bringen. II: Agäni, 1/15 f. (die Parallele Agäni,
2/30 f. gehört dagegen in den Zusammenhang einer ganz anderen Ver¬
sion der ,, Jugendliebe Magnüns", nämlich Agäni, 2/44 ff. u. a., vgl.
Anm. 4); V: Agäni, 2/21 f. Abü 1-Farag gibt beide Texte nach ' Umar ibn
Sabba wieder, der sich auf al-Haitam ibn 'Adi (dakara) und Ibn al-
Kalbi (dakara) beruft. Aus der Verwendung des Terminus dakara (vgl.
auch Anm. 19 u. 20) ist nicht einfach zu folgern, 'Umar ibn Sabba habe sich Schriften der Genannten bedient. Eher ist anzunehmen, daß eine un- eingestandene Verbindung zwischen ' Umar ibn Sabba und al-' Umari be¬
steht; siehe dazu Korpus Haitam (wie Anm. 15) Kap. 5.1.3.
2'' Zum Beispiel gibt al-Mas'üdi (Murüg ad-dahab; ed. Charles Pellat.
Beirut 1965—79, 5/71) den Bericht eines Abü 1-Haiyä| ibn Säbiq wieder,
der die Banü 'Ämir besucht haben will, um Magnün zu begegnen. Die
Erzählung gleicht bis in die Einzelheiten der Erzählung Vll bei Ibn
Qutaiba. Hier hat wohl der von al-Mas'üdi zitierte Ibn Salläm al-
Gumahl (st. um 231/845; EF s. n.) sein Plagiat durch einen , .eigenen Ge¬
währsmann" zu tarnen versucht. Späterer Entstehung sind auch die Er¬
zählungen im Diwän al-Magnün, der al-Wälibl zugeschrieben wird. Auch wenn es sich bei den von Ishäq ibn Ibrähim al-Mausih (st. 235/850) und
Abü 'Amr a§-Saibäni (st. 206/821) zitierten Stellen (ed. §evkiye
Inalcik. Ankara 1967, S. 68, 58) um Glossen handeln solhe, darf der
Verfasser wohl nicht mit dem bei al-Qäh (al-Amäli. [Kairo 1344/1926]
Beirut o. J., 2/126 und in den Masäri' (2/78) genannten Abü Bakr al- Wälibl, einem älteren Zeitgenossen des Abü 'Amr as-Saibäni identifi¬
ziert werden; die schon von KraCkowskij (S. 7) zu Recht herausgestellte ,,nachlässigkeit" in der Darstellung Magnüns läßt darauf schließen, daß es sich um eine Nacherzählung und Zusammenfassung älteren Erzählgu¬
tes handelt, zu dem ein ahbäri namens al-Wälibi beigetragen haben mag.
1S6 Stefan Leder
Wenn wir uns nun den Quellen al-'Umarls zuwenden, haben wir ein Ver¬
wirrspiel anderer Art, nämlich Unstimmigkeiten in den Herkunftsangaben,
zu lösen, doch dringen wir dabei zur Entstehungszeit der bisher genannten
Erzählungen vor. Ibn Qutaiba zitiert selbst einmal (Erzählung VI) al-Haitam
ibn 'Adl, der auch in dem von al-'Umarl und 'Umar ibn Sabba zitierten Pa¬
ralleltext angeführt wird.^' Haitam erscheint zudem auch als Gewährsmann
al-'Umaris in den Paralleltexten zu der Erzählung (IV) über die Begegnung
eines Reisenden mit Lailä.^* Für die kurze Erzählung (II bei Ibn Qutaiba) zu
Magnüns Jugendliebe beruft sich al-'Umari aber nach Ausweis von Ibn al-
GauzP'^ auf Laqit ibn Bukair al-Muhäribi,^* einen Zeitgenossen Haitams.
Laqit erscheint als Quelle al-'Umaris auch unter den Herkunftsangaben, mit
denen Abü 1-Farag den Bericht eines Besuchers beim Stamme der 'Ämir (pa¬
rallel zu Erzählung VII bei Ibn Qutaiba) versieht.^' Beide Angaben, zu Hai¬
tam und Laqit, können zunächst als glaubwürdig gelten; denn Ibn an-Nadlm
verzeichnet al-'Umarl als einen Schüler Haitams.^" und einer Notiz Yäqüts
ist zu entnehmen, daß er auch ein Schüler von Laqit war, von dem er ein
Werk mit dem Titel an-Nisä' überlieferte.^' Doch dürften für die hier ge¬
nannten Erzählungen zu Magnün nicht beide als Quellen al-'Umaris gedient
haben; die betreffenden Angaben, wie auch andere Isnäde in diesem Zusam¬
menhang, halten einer kritischen Überprüfung nicht stand.
Haitam und Laqit erscheinen im K. al-Agäni unter den insgesamt fünf
angeführten Herkunftsangaben als Gewährsleute für die Erzählung des Be¬
suchers bei den Banü 'Ämir.^^ Beide Angaben können nur dann zutreffen,
wenn Haitam und Laqit wiederum einen gemeinsamen Informanten haben,
dessen Worte sie getreulich wiedergeben; denn die — wie unten ausführhch
dargesteUt wird — geschickt ausgestaltete Erzählung (VII) kann nur von
einem Erzähler stammen. Ein solcher wird tatsächlich — als Gewährsmann
Haitams in zweien der Isnäde — genannt: 'Utmän ibn 'Umära, vom Stam¬
ms Siehe Anm. 19.
2^ Siehe Anm. 10, 11.
2' Siehe Anm. 14.
28 Gestorben 190/806; GAS (wie Anm. 17) 1/267.
29 Siehe Anm. 20,(2).
30 Siehe Fihrist 113.
3' Yäqüt: Mu'gam, al-udabä'. Ed. Ahmad F. RiFÄ'i. Kairo 1355/1936—
1357/1938, 17/37; Yäqüt gibt die Aussage von 'Abdalläh ibn Ga'far ibn Durustawaih wieder. Im K. al-Agäni erscheinen Haitam und Laqit mehr¬
fach zusammen als Gewährsmänner al-'Umarls (6/70, 218; 14/299;
16/378; 19/10).
32 Siehe Anm. 20.
me der Murra, der zur Gefolgschaft des Kalifen al-Mansür gehörte. '3 Doch
gibt es Anzeichen dafür, daß die Erzählung nicht, wie es dieser Angabe ent¬
sprechen würde, von 'Utmän, sondern von einem Erzähler stammt, der sich
auf 'Utmän beruft, um seine eigene Schöpfung als Wiedergabe eines älteren
Berichts auszugeben. Diese Einschätzung gründet auf der Beobachtung, daß
mehrere der mit 'Utmän und anderen in Verbindung gebrachten Erzählun¬
gen im Handlungsschema und in der inneren Bauform so bedeutende Über¬
einstimmungen aufweisen, daß sie gemeinsamen Ursprungs sein müssen.
'Utmän erscheint als Gewährsmann Haitams auch in der Episode (IV), die
über eine Begegnung mit Lailä berichtet. 3" In beiden auf 'Utmän zurückge¬
führten Erzählungen (IV, VII) wird der ungenannt bleibende Berichterstatter
als ein Mann von seinem Stamme, also der Murra, zu erkennen gegeben. ^5
Dieser trifft dann auf die Helden der Geschichte und wird so zum Augenzeu¬
gen des Geschehens. Dasselbe Handlungsschema kommt auch in der Erzäh¬
lung (VI) über den auf der Wallfahrt befindlichen Magnün zur Ausführung.
Haitam erscheint hier allerdings^* als Überlieferer von Abü Miskin.Der Be¬
richterstatter wird wie in den beiden oben genannten Erzählungen als ,, einer
von uns", d. h. zum Stamme des Erzählers gehörig, eingeführt.In allen
drei Erzählungen ordnet sich die Identität des Berichterstatters also dem je¬
weiligen Gewährsmann zu.
Auch abgesehen von dieser Übereinstimmung weist der Aufbau aller drei
Texte^' weitere, und wie gleich gezeigt wird, auffällige Entsprechungen auf.
Diese entkräften die Angaben verschiedener Gewährsleute Haitams, weil
kaum vorstellbar ist, daß sie nicht durch ein und denselben Erzähler Gestalt
angenommen haben, und stellen damit die Existenz einer für Haitam und
Laqit gemeinsamen Quelle in Frage. Die Angabe zu Laqit gerät ins Abseits,
" at-Tabari: Ta'rTh ar-rusul wal-mulük. Ed. M. J. De Goeje. Leiden
11879—19011 1964, 111/281; al-Baläduri: Ansäb al-asräf. Bd. 3, ed.
'ABDAL'Aziz AD-DÜRi. Wiesbaden 1978, S. 266; Ihn al-Atir: al-Kämilß
t-ta'rih. I Ed. C. J. Tornberg. Leiden 1851—71 1 Beirut 1965—67,
6/124.
3'' In der Überlieferung von Abü 1-Farag und as-Sarräg, siehe Anm. 10, 11.
3' Agäni, 2/88: .. .anna Saihan min Bani Murra haddatahü, haraga ilä ard Bant 'Ämir. Agäni 2/9,6: haraga minnä ragulun. Masäri', 1/33: rahala ragulun minnä.
3* In der Angabe Abü 1-Farags, siehe Anm. 19.
" Siehe Ihn Ab! Hätim ar-Räzi: K. al-Öarh wal-ta'dil. Haiderabad 1371 — 72, 1,2/277; et! al.
3* haraga minnä fatan, Agäni, 2/22.
39 Auch die von Ihn Qutaiba eingangs wiedergegebenen Erzählungen (1, II) können aufgrund der Parallelität zu einer Überlieferung Abü 1-Farags
(Agäni, 2/15 f.; von 'Umar ibn Sabba / dakara 1-Haitam ibn 'Adi /
'Utmän ibn 'Umära) in die Betrachtung einbezogen werden.
158 Stefan Leder
weil Haitam außerdem in einer bisher noch nicht erwähnten Parallele zur
„Begegnung mit Lailä" (Erzählung IV) durch die Angabe al-Marzubänis
auch unabhängig von al-'Umari als Quelle verbürgt ist.""
Auch ungeachtet dieser Entscheidung in der Alternative Laqit — Haitam
läßt sich festhaken, daß ein kleiner Zyklus aus mehreren Erzählungen, ver¬
mittelt durch al-'Umari, in die älteste uns bekannte Quelle eingegangen ist.
Damit läßt sich auf textkritischer Basis, ohne sekundäre Angaben — wie et¬
wa die Titellisten Ibn an-Nadlms — heranzuziehen, die Fixierung einer mehr¬
teiligen und umfassenden Geschichte Magnüns auf die frühe Abbasidenzeit
verlegen.
Die Erzählungen IV, VI und VII bei Ibn Qutaiba bieten zusammen nicht
nur eine voUständige Geschichte Magnüns, welche die Anfänge seiner Liebe,
das Verbleiben Lailäs und schließlich sein tragisches Ende schildern. Sie sind
zudem durch ein gemeinsames Merkmal verbunden: Die Geschichte Magnüns-
kommt immer in Binnenerzählungen zur Sprache. Das gegenwärtige Gesche¬
hen, welches die Berichterstatter bezeugen, besteht im wesentlichen aus den
Augenblicken, in denen Magnün aus seinem Wahn erwacht und zum Dichter
wird. Dies geschieht nicht ohne Anlaß; es ist die von den Berichterstattern je¬
weils angeregte Erinnerung an Lailä, die ihn zu Versen inspiriert. Dieser
Grundriß der Handlungsführung erlaubt, das unmittelbar erzählte Gesche¬
hen durch Rückblicke mit einem ,, historischen" Hintergrund zu verbinden;
gleichzeitig gelingt es dem Erzähler, die für ahbär typischen Darstellungsfor¬
men so einzusetzen, daß sich zur Wirklichkeit der Person Magnüns und der
Wahrhaftigkeit der Aussagen über ihn Distanz herstellt, ohne daß der An¬
schein der Wirklichkeitsnähe aufgegeben wird. Magnüns Geschichte er¬
scheint in diesen Texten nicht als Geschehen, sondern als Erzählung. Diese
indirekte Vermittlung seiner Geschichte bestimmt die Sinngebung der Erzäh¬
lung mit: Der fiktive Berichterstatter, der nicht mehr von der Vergangenheit
des Helden weiß, als das, was die Figuren der Erzählung ihm berichten, hat
eine analytische Rolle inne. In ihr kommt das Ringen um einen historischen Gehalt der Gestalt Magnüns selbst zur Darstellung.
Am Beispiel der Erzählung (VII) eines Besuchers bei den Banü 'Ämir"' läßt sich diese Gestaltung verdeutlichen und zugleich die vorherrschende Aussage¬
ebene und zentrale Thematik vorführen. Es handelt sich um die Ich-Erzählung
^ al-Marzubäni: AS'är an-nisä'. Ed. Sämi al-MakkI al-'AnI, Hiläl
NÄCi. Bagdad 1396/1976, S. 134—136. Er zitiert nach A. ibn Abi
Haitama / 'Umar ibn Bukair / al-Haitam ibn 'Ad! / 'Utmän ibn
'"Umära.
Übersetzungen aus dem K. al-Agäni siehe Oskar Rescher: Abriss der
arabischen LUteraturgeschichle [Stuttgart 1925—33 1. In: Gesammelte
Werke. Abteilung 1. Osnabrück 1983, 1/210—212 und KraCkowskij
(wie Anm. 3), S. 28—30.
eines Mannes, der die Banü 'Ämir aufsucht, um mit Magnün zusammenzu¬
treffen. Er berichtet, wie er zu den trauernden Angehörigen Magnüns gelangt
und gibt wieder, was sie ihm von der Geschichte des Unglücklichen erzählen.
Dabei ist der Anlaß für Magnüns Unglück, sein unerfüUt bleibender Heirats¬
wunsch, ein unwesentliches Nebenthema. Seine Zuneigung für Lailä, ihre Ab¬
lehnung und die Weigerung ihres Vaters, nach Bekanntwerden der Angelegen¬
heit einer Ehe zuzustimmen."^ werden nur ganz kurz angesprochen. Ausführ¬
lich dagegen kommt zur Darstellung, wie Magnün, der ein Leben in der Wild¬
nis erzwang, von den Seinen mit Speise und — nach Ibn Qutaiba'*^ — Kleidung
versorgt wird. Anschließend schildert der Berichterstatter eingehend — durch
zwei Dialoge —, wie er den räwi Magnüns dazu veranlaßt, ihm zu verraten,
auf welche Weise er zu Magnün gelangen kann. Damit erhält das Handlungs¬
motiv der Erzählung, der Erkenntniswille des Besuchers, eine anschauliche
Ausgestaltung; gleichzeitig wird der Hauptteil vorbereitet, der die Thematik ,, Verbindung zu Magnün in der Wildnis" fortführt und im Höhepunkt der Er¬
zählung zur Entfaltung bringt. Im einzelnen wird beschrieben, wie es dem Be¬
sucher gelingt, Magnün ausfindig zu machen und das Vertrauen des immer zur
Flucht Bereiten zu gewinnen, um ihm durch eine Art ,, Zähmung" Verse zu
entlocken. Wie ihm geraten wurde, trägt er Magnün mehrfach Verse von Qais
ibn Darih vor, die Magnün erschüttern und dazu reizen, mit besseren ,, eige¬
nen" Versen — deren Zuschreibung an Magnün durchaus nicht eindeutig isf*"
— zu entgegnen. Daim entschwindet Magnün in Verfolgung einer Gazelle —
ein mehrfach verwendetes Motiv"' — und wird später tot in einem Tale liegend aufgefunden.
Die Erzählung entbehrt nicht realistischer Züge, wie z. B. den Unwillen des
räwi, dem Besucher eine direkte Bekanntschaft mit Magnün zu vermitteln.
Auch ist hinter dem merkwürdigen ,, Dichterwettstreit" eher eine harmlose
poetologische Beurteilung zu suchen, als mit der entlegeneren Deutung
KraCkowskus eine Aufwertung des nordarabischen Stammes zu sehen."*
Von entscheidender Bedeutung aber ist, daß der eindringlichste und eigentüm¬
lichste Teil der Erzählung der Verwandlung Magnüns in einen Dichter gewid¬
met ist. Die vom Berichterstatter angestrebte Erkundung seines poetischen
Vermögens bildet den Kristallisationspunkt der Erzählung.
"2 Vgl. auch Masäri', f. Dieses wohl nicht unrealistische Motiv ist
auch im Zusammenhang anderer Liebesgeschichten zu finden, wie bei
Camil al-'Udri (Agäni, 8/108) und anderen (Masäri', 2/148, 1/213).
"3 Si'r, 570,6.
^ Diwän Magnün Lailä. öam' wa-tahqiq wa-sarh. 'Abdassattär A.
FarräC. Kairo o. J. (um 1960). Nr. 69, S. 94; Nr. 64, S. 90.
"5 Vgl. Agäni, im f., 2/81 f.; Masäri', 2/18 f. (auch 2/65).
"6 Siehe (wie Anm. 3) S. 41 ff., bes. S. 48.
160 Stefan Leder
Eine von Verzweiflung beherrschte Gemütsverfassung ist der — oftmals als
schon bekannt vorausgesetzte — Grundzug für viele Erzählungen, in denen
Magnün in verschiedenen Situationen zu klaren Versen findet. Die Wandlung
des Verwirrten zum Dichter findet aber nur in den hier vorgestellten Texten
eine thematische Ausgestaltung. Im Bericht eines Reisenden an Lailä (Erzäh¬
lung IV) bildet dieser Vorgang, in knappen Worten auf seine Formel gebracht,
den Kern der Aussage.''^ Auch die Schilderung einer Begegnung mit Magnün
auf der Wallfahrt (Erzählung VI) beschreibt eine solche Wandlung; denn Wor¬
te seiner Reisegefährten beschreiben zunächst Magnüns schreckliche Verfas¬
sung: Seine Bitte, in frischer Luft eine Brise aus Nagd, der Stätte einstigen
Glücks, atmen zu dürfen — ein auch in berühmten Versen Gamlls verwendetes
Motiv"^ — können sie nur erfüllen, indem sie ihn zum Schutze vor sich selbst
gefesselt herausführen. Der Berichterstatter wird gebeten, das Interesse des
Kranken zu erwecken, indem er angibt, von den Höhen des Nagd zu kommen.
Magnün nimmt die im Besucher gegenständlich gewordene Erinnerung begie¬
rig auf und bringt Verse"' vor, welche den Nagd — ohne Bezug zu seinem Lie¬
bessehnen — nach Art von Heimwehversen al-hanin ilä l-autän^° beschreiben.
Überlieferungsgeschichte, innere Bauform und thematische Gestaltung
weisen diese Texte als das Werk ein und desselben Erzählers aus. Doch ist
nicht anzunehmen, daß sie der Einbildungskraft ihres Autors entspringen.
Vielmehr ist davon auszugehen, daß Thematik und einzelne Motive eines
volkstümlichen, im einzelnen auch unter Heranziehung anderer Paralleltexte nicht rekonstruierbaren Erzählstoffes aufgegriffen und ausgestaltet wurden.
Ob und inwieweit sich in ihnen ein realer Kern verbirgt, läßt sich nicht aus¬
machen. Bemerkenswert ist, daß das Handlungsgerüst der Liebesgeschichte
so gut wie keine Rolle in diesen Texten spielt. Dies ist einerseits dadurch be¬
dingt, daß der Erzähler zu den geschehensorientierten, ,, historischen" Teilen
eine — sagen wir: kritische — Distanz behält. Zum anderen liegt hier eine
thematische Profiherung vor, welche die Ausbildung und Bekanntheit von
Liebesgeschichten voraussetzt.
"7 Si'r, 567,5: yahimuß tilka l-fayäß wa-yakünu ma'a l-wahsi lä ya'qulu wa-lä yafhamu illä an ludkara lahü Lailä fa-yabki wa-yunsidu as'äran yaqüluhä ßhä.
"* Gustav von Grunebaum: Kritik und Dichtkunst. Wiesbaden 1955,
S. 36 f; Gregor Schoeler: Arabische Nalurdichlung. Die Zahriyät,
RabTiyät und Raudiyät von ihren Anfängen bis as-Sanaubari. Wiesba¬
den 1974 (BTS 15), S. 226.
"9 Vgl. Diwän (wie Anm. 44), Nr. 94, S. 113 f.
'0 Grunebaum, ibd. 39; Ewald Wagner: Grundzüge der klassischen ara¬
bischen Dichtung. Bd. 1. Darmstadt 1987, S. 186.
Es bleibt eine Aufgabe, das Verhältnis anderer, angeblich aus der gleichen
Zeit stammenden Episoden zu diesem erzählerischen Entwurf zu erkunden.
Seine Bedeutung ist jedoch schon ersichtlich: Mit der Herausbildung des hier
vorgestellten Magnün ist eine wesentliche Voraussetzung für seine große
Wirkung geschaffen. Im Unterschied zu anderen Gestalten der Epoche ent¬
faltet nicht nur seine Poesie eine über das einzelne Ereignis hinausgehende
eigene dichte Bedeutung; vielmehr ersteht in der Erzählung selbst eine span¬
nungsreiche Gestalt, die grenzüberschreitend Wahn und dichterische Einge¬
bung verbindet. Die Deutung dieses Themas ist hier nicht unsere Aufgabe.
Es soll genügen aufzuzeigen, daß die frühe Erzählkunst hier zu einer Form
fand, welche sich über den historischen und ereignislogischen Hintergrund
seiner Geschichte erhebt und sich bemüht, Lebensgrundlagen und Inspira¬
tion eines Magnün wirklich erscheinen zu lassen. Diese Gestaltgebung hat
sich schon in dem Maße von einem möglichen beduinischen Ursprung des
Erzählguts entfernt, wie das konkrete Ereignis hinter einer allgemeingültigen
Sinngebung zurücktritt. Durch die thematische und erzählerische Gestaltung
geben sich die Texte, obgleich den Grundsätzen des habar treu, als Dichtung zu erkennen.
IMITATIONS OF ARABIC
IN HEBREW ANDALUSIAN POETRY
By Arie Schippers, Amsterdam
A large Jewish community has Hved in Spain since pre-Christian times.
After the defeat of the Christian Visigoths in Spain by the Arabs in 711 CE, a
large Jewish colony remained in Muslim territory. The Jews lived in the
countryside as well as in the towns. Some of the latter were even inhabited
exclusively by Jews. They were members of all classes of society and practi¬
sed a very wide range of professions. They even took part in warfare, a pos¬
sible consequence of their attachment to the land.'
Their social position in Andalusia probably accounts for the exceptional
development of a secular Hebrew literature in Spain which was totally dif¬
ferent from Jewish literature in Hebrew elsewhere. The Andalusian literature flowered at the end of the eleventh and the beginning of the twelfth century
and is generally known as the Golden Period of Hebrew literature^. During
the eleventh century, in particular, secular Hebrew Andalusian poetry was in
full bloom. This century was a period characterized by the disintegration of
the Western caliphate and the rivalry between the courts of the petty kings
(the so-called mulük at-tawä'ijy.
Arabic poetic conventions were adopted in Hebrew Andalusian poetry,
and the style of Arabic poets was imitated; only the language differed. There is a suggestion of the influence of Biblical writing on this poetry", through
' E. Ashtor: Qorol ha-Yehudim bi-Sfarad ("The Jews of Mushm
Spain"). 1. Jerusalem 1966, p. 15; S. D. Goitein: A Mediterranean So¬
ciety. 1. Berkeley 1967, p. 79.
2 E. g. Masha Itzhaki: .4/1/ /iß5-5ßr ("I am the Poet"). Tel Aviv 1986, co¬
ver text: "Secular Hebrew poetry in Spain belongs to the central chapters in Hebrew literature during its generations and many studiosi occupied themselves with it. This book (Ani has-Sar) deals with capita selecta from the works of the great Hebrew poets of the Golden Age in Spain: Semuel
han-Nagid, Selomo ibn Gabirol, Mose ibn 'Ezra and Yehudah
hal-Lewl."
3 Cf. David Wasserstein: The Rise and Fall of the Party-Kings. Politics
and Society in Islamic Spain, 1002—1086. Princeton 1985. Cf. the
anthologies of Ibn Bassäm (d. 1148), Ibn Häqän (d. 1141) and ibn Sa'id (d. 1274), subdivided according to regions, see A. R. Nykl: Hispano- Arabic Poetry and its relations with the old Provencal Troubadours. Bal¬
timore 1946, pp. 219—227, 361; Henri Peres: La poesie andalouse en
arabe classique au XF siecle. Paris 1953, pp. 40 sqq. and 88 sqq.
" Cf. Dan Pagis: HidduS u-masoret be-sirat ha-hol: Sefarad we-Italyah ("Change and Tradition in the Secular Poetry: Spain and Italy"). Jeru¬
salem 1976, pp. 62—64.