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Archiv "Wenn Verse Augen öffnen" (20.03.1992)

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Wenn Verse Augen öffnen

Anmerkungen zum literarischen Forum Ost-West DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT KULTURNOTIZEN

W

er wie der Intellek- tuelle György Kon- räd noch vor weni- gen Jahren die Überwindung des Blockden- kens, eine kulturelle Synthese von Ost und West oder den Ab- schied vom Status quo er- wünschte, erntete Hohn. Seit- dem hat sich der Wind der Ge- schichte gewaltig gedreht, doch wohin er uns treibt, vermag nie- mand zu sagen. So unübersicht- lich ist der Prozeß der Zivilisa- tion. Wenn Konräd das mittel- europäische Zentrum von Deutschland nach Osten den- kend verlagerte, so zeugt dies von utopischer Vorsicht. Mit dem historischen Wegfall alter Feindbilder tritt auch die von der westeuropäischen Hybris übergangene Literatur des Ostens aus ihrem tristen Schat- tendasein.

Einen beachtlichen Beitrag zur veränderten Lage der Welt im Bezirk der Literatur leistet nunmehr im vierten Jahr das Düsseldorfer Haus des Deut- schen Ostens mit seinem Lite- raturforum Ost-West. Nach Polen (1989) und Ungarn (1990) waren Ende 1991 die Rumänen dazu eingeladen, sich in Düsseldorf an drei Ta- gen mit deutschen Kollegen und Wissenschaftlern auszu- tauschen über das, was die ru- mänische Literatur im Inner- sten zusammenhält, aber auch über den verlorenen Geist ei- ner multikulturellen Gesell- schaft. Mit der schönen Idee, Literaten aus dem Osten im Westen bekannter zu machen, tastet sich Walter Engel, der engagierte Leiter des Hauses in eine Zukunft der Vorurteilslo- sigkeit vor. Ihm liege die Ein- sicht ins „Wesen des Anderen"

am Herzen. Nicht die Vermi- schung der Kulturen, die ja nur zu deren Auflösung führe, son- dern die Bewahrung ihrer Dif- ferenzen sei Kern seiner Kul- turarbeit. Als er das Forum aus der Taufe hob, glaubte keiner so recht an den heute sichtbaren Erfolg eines so einsamen Ver- suchs. Die Verlage beschränk- ten sich auf den Druck osteuro- päischer Klassiker. Kaum einer erlaubte sich den Luxus der Neuentdeckung. Es war der Nullpunkt der Rezeption. We- der war der Fall der Berliner Mauer, noch der Sturz der Dik- tatoren in Sicht. Schlechte Per- spektiven, eisige Zeiten.

Nun ist alles ganz anders.

Der Blick hinter die zerfetzte Kulisse der alle Widersprüche zudeckenden Ideologien ist möglich, das Interesse an dem, was unter der Oberfläche ver- haßter Politik wuchs, gestiegen.

Geweckte Neugierde, angeneh- me Gefühle.

Daß mit diesem Forum Walter Engel nicht ans Ende regen Wünschens angelangt ist, betont er. Bewußt spricht er von einer „Zweibahnstraße", und tatsächlich wird sich auf Vorschlag des rumänischen Schriftstellerverbandes der be- gonnene Dialog mit einem deutsch-rumänischen Autoren- treffen 1992 im sommerlichen Bukarest fortsetzen. Anfang November dann, vom 4. bis zum 6., werden im Düsseldor-

fer Haus des Deutschen Ostens tschechiche und deutsche Au- toren zu Gast sein, darunter so prominente Wortführer wie Peter Härtling und Ota Filip.

Dr. Engel erwartet noch Rus- sen, vielleicht auch Bulgaren.

Den Abschluß der Reihe werde ein großes Festival fast aller osteuropäischer Literaturen bilden. So weit, so gut.

Nach dem Vorblick, nun der Rückblick auf den Besuch der Rumänen 1991. Mit dem Erscheinen von Ana Blandina am ersten Abend glückte der Vorstoß nicht nur in eine ande- re literarische Landschaft, son- dern auch in ein Land, dessen Bildrepertoire uns bis dahin kaum erreichte. Sie bezweifle, sagte sie bei ihrem autobiogra- phischen Entr6e, ob es möglich sei, objektiv zu sein. Als Lyrike- rin und Prosaistin, die auch im Essayistischen versiert ist, fühl- te sie sich durch die unglückli- che Geschichte ihrer Heimat dazu verdammt, sich zu politi- sieren. Hätte sie irgendwo ge- lebt, wo „die Geschichte nor- mal oder glücklich" verlaufen wäre, sie wäre Autorin ihrer Bücher geblieben. Die "Angst vor dem bösen Erwachen", aus der sie nicht mehr herausfand,

zwang sie zum Widerstand und trieb sie zur Politik. Sie, nicht nur Mitglied der oppositionel- len Gruppierung „Bürgerliche Allianz", sondern auch Symbol- figur, trug in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entschei- dend zur Erneuerung der ru- mänischen Literatur bei. Im Grunde schaffte sie damit eine Voraussetzung, den Anschluß an ein Europa wiederzufinden, das ihre Heimat „ein halbes Jahrhundert ausgeschlossen hatte".

„Je schwieriger die Lage und je größer der Druck wurde, um so hartnäckiger mußte man sein," so das Bekenntnis einer ungebrochenen Frau, die als Mitglied der nationalen Ret- tung vorübergehend das Land leiten sollte. Doch „es zeigte

sich bald, daß die, die im Na- men der Jugendlichen auf der Straße vorgaben, die Freiheit einzufordern, ihre Macht nicht mehr abgeben wollten".

Ihr Gleichnis von einem an Land geschwemmten Delphin, der nicht wagt, die Augen für immer zu schließen, versteht sich als Reaktion auf unsere Epoche, die die Ästhetik des Industriellen so blind ideali- siert, daß ihre Menschen den Tierkörper mit der Geometrie eines Flugzeugrumpfes, seine Haut mit Kunststoff verwech- seln. So fortgeschritten ist die Verdrängung des Tieres.

Mit Sarah Kirsch kam eine Autorin zu Wort, die, mit völlig anderen Dingen beschäftigt, ihr eigenes Land beleuchtet, in- dem sie den Radius ihrer Wahrnehmung auf ein vertrau- tes Terrain beschränkt. In

„Schwingrasen", ihrem neue- sten, in seinem Rhythmus un- einheitlichen Buch, dringt sie wieder einmal tief in die grüne Alltäglichkeit ihres Lebensor- tes in Schleswig-Holstein ein.

Von der vom „Meer der Schwermut" umgebenden Insel oder von einem in der Frühe dem Deich zugeführten Esel, der staunt, daß sein Begleiter

in den Schlamm stürzt, ist da die Rede. Ebenso von einem, der durch die ungeheure Natur unterwegs zum Dichter sei, oder vom „Baumstandpunkt".

Befremdend klingt die vorge- schlagene Sehweise.

Der Auftritt des scheuen Stefan Banulescu steigerte sich zu einem Höhepunkt der un- vermuteten Art. Er stellte die Frage aller Fragen, als er auf die Rolle des Schriftstellers im schnellen Wechsel der Ge- schichte mit ihren wöchentli- chen Friedensverhandlungen und ihren Konferenzen zur Konfliktbeseitigung einging:

„Wie schafft es der Schriftstel- ler da in einsamer Haltung zu verharren?" Die Frage, die sich heute stelle, sei längst nicht mehr, wann der Dritte Welt- krieg ausbreche, sondern wann er aufhöre, denn „zwischen den Nationen" sei er im vollen Gang.

Eine provozierende Ein- sicht, die er seiner Erzählung

„Schneesturm aus anderer Zeit" voranstellte. Eine Ästhe- tik des Phantastischen, die so schöne Sätze wie den über die Langweile enthält, wonach al- les nichtig wird, wenn „dich die gewöhnlichen Dinge, die eben- so zum Salz der Erde gehören, nicht interessieren". Welch Lob des Alltäglichen!

Einer, auf dessen Literatur man gespannt sein durfte, war Mircea Dinescu.Der junge Ly- riker, der als Redakteur der Li- teraturzeitschrift „Romania li- terara" arbeitete, bis er im März 1989 Publikationsverbot und Hausarrest erhielt, war es, der im rumänischen Fernsehen den Sturz des Diktators Ceaus- escu verkündete. Er ist ein un- bekümmerter Humorist wider die Ungerechtigkeit, ein Satiri- ker, ein Rebell, zudem ein wan- delbarer Sprachartist der Dif- ferenz. Sich mokierend über den Schriftsteller, der in Euro- pa nur als „Kannibale" zu Ruhm komme, bedauert er, daß „Gewehrkugeln mehr von sich reden machen als Bücher".

Den Tod, der „verführerisch riecht, wenn die Asche von ihm fällt," lobt er. Mit diesen Ge- dichten setzt Mircea Dinescu Maßstäbe. Seine Verse lesen sich nicht wohlig, dazu sind sie zu aufmüpfig. Wenn Verse noch helfen, die Augen aufzu- reißen, dann sicherlich seine.

Heinz-Norbert Jocks A1-980 (16) Dt. Ärztebi. 89, Heft 12, 20. März 1992

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