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Ein weiterer Verdienst von Peseks Studie besteht in der Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg in Ostafrika

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in den britischen Kolonien im Zuge der Rekrutierung der afrikanischen Bevölke- rung für den Dienst als Träger.

Obwohl der Erste Weltkrieg kein Krieg um Kolonien gewesen sei, begreift Pe- sek die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkriegs im Osten Afrikas als Endphase des kolonialen Konkurrenzkampfs der europäischen Mächte. Die Sie- germächte des Ersten Weltkrieges schufen schließlich nach dem Ende des deut- schen Kolonialreiches in Ostafrika eine neue koloniale Ordnung.

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sich Pesek bei seiner Dar- stellung des Ersten Weltkrieges in Ostafrika nicht nur auf britisches und deutsches Quellenmaterial bezieht, sondern auch die gegenwärtig noch weitestgehend un- beachtet gebliebenen belgischen Quellen in seiner Analyse mit berücksichtigt. Hier- durch gelingt es dem Autor, die Interaktionen der gegnerischen Heere auf dem ostafrikanischen Kriegsschauplatz transparenter zu machen. Es werden aber auch die Probleme der Koalitionskriegführung zwischen der belgischen Force Publique und den unter britischem Kommando stehenden Kolonialtruppen deutlich aufge- zeigt. Vor dem Hintergrund der diversen Konflikte zwischen Belgiern und Briten erweitert sich die Geschichte des Ersten Weltkriegs in Ostafrika um eine weitere Dimension: Insbesondere die Kontroversen über die Frage der Rekrutierung von Trägern, die belgische Kriegführung sowie die Administration der besetzten Gebiete schufen einen Begegnungsraum der zu einem intensiven Austausch unter den bei- den Kolonialmächten führte und schließlich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Ausgestaltung einer neuen kolonialen Ordnung Ostafrikas mündete.

Ein weiterer Verdienst von Peseks Studie besteht in der Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg in Ostafrika. Trotz einer mehr als schwierigen Quellenlage gelingt es dem Autor, das Panorama des afrikanischen Kriegserlebnisses nachzuzeichnen. In Form von Liedern und Tänzen überlieferten die afrikanischen Kriegsveteranen ihre Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Ostafrika, der schließlich die kurze Epoche der deutschen Kolonialherrschaft be- endete.

Christian Senne

Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, 864 S., EUR 45,00 [ISBN 978-3-608-94308-5]

Nach längerer Zeit unterzieht sich eine Historikerin der Aufgabe, eine Überblicks- darstellung zur Weimarer Republik vorzulegen. Die jüngste Publikation dazu von Heinrich-August Winkler erschien immerhin 1994, als er sein dreibändiges Werk über die SPD zu einem Band kürzte.

Die Autorin weicht in ihrer Monografie von der weitläufig etablierten Zäsuren- setzung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland nicht ab: Der Phase der Revolution folgte nach dem Krisenjahr 1923 eine knapp sechsjährige Zeitspanne der Stabilisierung, die auch als »Goldene Zwanzigerjahre« verklärt wurden. Diese »guten Jahre« endeten mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Flucht der SPD aus der Großen Koalition 1930. Die Weichen für den »Untergang Weimars«, der in der Machtübernahme Hitlers mündete, schienen damit gestellt.

Diese Epocheneinteilung ist aus Sicht der Autorin fraglos immer noch angemes- sen, wie Büttner mit ihrer Einschätzung zum Forschungsstand untermauert (S. 18).

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Diesen bündelt sie auf rund sieben Seiten, wobei sie neuere Forschungen zur Er- innerungskultur, zum militärischen Komplex und zu transnationalen Perspekti- ven Weimars nur bedingt erfasst hat. Andererseits weist sie bereits hier auf zen- trale Desiderate der Weimar-Forschung hin. Die Rolle des Adels, des Bürgertums und der Bauern oder des protestantischen Milieus in der Weimarer Demokratie und ihr Einfluss auf politische Parteien sind bislang kaum untersucht worden.

Entlang der »klassischen« Epocheneinteilung zeichnet Büttner die wesentlichen Entwicklungslinien der Weimarer Republik nach. Dabei stehen weniger die Ereig- nisse als vielmehr diejenigen gesellschaftlichen Gruppen im Fokus der Darstel- lung, die sich mit der Republik eben nicht arrangieren wollten und sie ablehnten.

Den Reaktionären (Politiker der Rechten, Militärs, Wehrverbänden und »Wirt- schaftsführer«) auf der einen Seite standen »Vernunftrepublikaner« auf der ande- ren gegenüber, wobei sie jedoch keine Definition des überstrapazierten Begriffs des »Vernunftrepublikaners« bietet. Die Erblast des verlorenen Krieges, die wirt- schaftlichen und sozialen Verwerfungen infolge der Niederlage und vor allem die politische Zerklüftung in gesellschaftliche Gruppen und Parteien ließen einen Man- gel an politischen Pragmatikern und Republikanern offenbar werden. Gerade das Kapitel »Gesellschaftliche Entwicklungen« (S. 211–334) zeigt dabei auf, dass sich ein demokratisches Bewusstsein kaum gestalten oder prägen ließ und die Bevöl- kerung den demokratischen Geist, den die Verfassung forderte, angesichts der po- litischen und gesellschaftlichen Gräben nicht entwickeln konnte oder wollte. Da- bei weist die Autorin auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung gesellschaftlicher und religiöser Milieus hin, die langfristige politische Bindungen prägten, wie sich bei den Wahlen immer wieder bestätigte. Wohl aus diesem Grunde verharrten viele Gruppierungen und Parteien auf halber Strecke – so die Kapitelüberschrift – »zwi- schen Beharrung und Fortschritt«. Und einen Fortschritt schien es, so Büttner, al- lenfalls in den Jahren der Stabilität zwischen 1924 und 1930 zu geben. Allein der wirtschaftliche Aufschwung und selbst die in verschiedenen Plänen gestaltete Um- schuldung der Reparationen zeigt, dass es eine stabile Zeitspanne war, die Folge- wirkungen auf die Wirtschaft und damit auch die Bevölkerung haben konnte. Der außenpolitische (Wieder-)Aufstieg Deutschlands zu einer europäischen Großmacht zeugt von einem politischen Pragmatismus, der sich in den Führungsschichten teilweise durchsetzen konnte.

Dennoch kann nicht übersehen werden, dass die Weimarer Republik ungeach- tet der steigenden außenpolitischen Anerkennung ab 1924 auf dem Weg zu einem konservativ-autoritären Regime war. Die Reichspräsidentenwahl, die den »greisen Generalfeldmarschall« von Hindenburg im Zuge einer »Weichenstellung« (S. 337) ins Amt führte, bewirkte einen Aufschwung der bürgerlichen Rechten, die zwar politisch dem Extremismus einer NSDAP fern standen, aber ebenso wenig zur Ko- operation mit der SPD bereit waren. Der Kompromiss der SPD, sich mit dem Zen- trum auf den gemeinsamen Kandidaten Wilhelm Marx für die Reichspräsidenten- wahl zu einigen, sorgte letztlich dafür, dass ein katholischer Politiker ohne Charisma gegen den Volkshelden antrat und verlor. Die knapp zwei Millionen Stimmen der KPD-Anhänger fielen – auch dies unterstreicht Büttner – in jedweder Hinsicht un- ter den Tisch: Keiner der beiden Kandidaten hätte mit deren Zustimmung rech- nen können.

Das Fazit Büttners ist nicht neu: »In den Krisen der Weimarer Republik stießen die unvereinbaren Staatsvorstellungen wie die politischen Konflikte überhaupt, die sozialen Gegensätze, die unterschiedlichen kulturellen Ansprüche und die Dis-

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krepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit besonders heftig aufeinander« (S. 505).

Dies war in Weimar vielmehr ein partieller Dauerzustand, den die Autorin auf rund 500 Seiten beschreibt. Ein voluminöser Anhang von mehr als dreihundert Sei- ten (!) erweitert diesen »Zwischenbericht der Forschung« (so ihre Selbstvorstel- lung, S. 17) – der wahrlich kein Handbuch ist. Vielmehr sollte man eine der knap- pen Darstellungen à la Kolb oder Dederke an der Hand haben, um die großen Linien der Weimarer Republik prägnanter nachlesen zu können.

Ein Manko des Buches ist die oftmals sehr einfache Darstellung der (partei-)po- litischen Zusammenhänge. Ein weiteres stellt die eklatant nachlässige Behandlung des militärischen Milieus – das die Reichswehr und die zahlreichen bewaffneten Organisationen und Bünde umspannte – dar. Gerade in diesem Themenfeld sind die Rahmenbedingungen und der Nährboden für den in Weimar parteipolitisch geförderten Paramilitarismus abzulesen. Eben dort bildete sich der staatlich unzu- reichend bekämpfte und oftmals gar geduldete (Rechts-)Terrorismus und das re- aktionäre Bestreben bei den Funktionseliten, die Demokratie abzuschaffen, deut- lich heraus. Der leichtfertige Rückgriff Büttners auf ältere Literatur führt zu sachlichen Fehlurteilen. Besonders augenfällig wird dies im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch (S. 127–143) und noch viel deutlicher bei der »Sowjet- granatenaffäre« des Jahres 1926: Ihre Fehlinterpretation der parlamentarischen Me- chanismen der quasi ständigen Koalitionskrisen und Minderheitenregierungen so- wie der Mitwirkung namhafter Länder des Reiches an der »Schwarzen Reichswehr«

ist die augenfällige Folge (S. 379–382).

Generaloberst Hans von Seeckt wird im Buch im Zuge der Prinzenaffäre »ver- abschiedet«, obwohl Reichswehrminister Otto Geßler und Reichskanzler Wilhelm Marx dem Reichspräsidenten den Rücktritt der Regierung androhten, falls er Seeckt nicht »entlassen« würde. Über diese Petitesse hinaus war die Drohung des Kanz- lers ein Beleg für die zu spät versuchte Emanzipation der zivilen Macht von den militärischen Repräsentanten und ihrer einflussreichen Souffleure (S. 377–382).

Auch die Staatskrise 1923 gerät bei der Autorin in den Sog vereinfachter Darstel- lung, wenn sie übersieht, dass z.B. der bayerische Separatismus im November 1923 dazu führte, dass die Reichsregierung gegenüber dem Freistaat vollkommen hand- lungsunfähig war (ganz knapp auf S. 204–208). Dass in dieser Krise General Hans von Seeckt im Oktober 1923 Reichskanzler Stresemann die Gefolgschaft aufkün- digte (S. 203 f.), ist bislang nur durch Legenden überliefert, weshalb die Autorin auf Belege verzichten muss. Die Rückgabe der »vollziehenden Gewalt« durch Seeckt im März 1924 an Ebert war im engen Vertrauensverhältnis zwischen dem Reichspräsidenten und dem Chef der Heeresleitung als dem faktischen Oberbe- fehlshaber der Reichswehr begründet. Deswegen stand er auch für einen Putsch gegen diesen Präsidenten nicht zur Verfügung. Die Autorin verkürzt diese kom- plexe Situation: »An den entscheidenden Stellen standen mit Ebert und Stresemann Persönlichkeiten, die alle Vorkehrungen der Verfassung für den Staatsnotstand im Sinne ihrer eigentlichen Intention handhabten und mit ihrer Hilfe die Staatskrise und nicht die Verfassung überwinden wollten« (S. 208). Dabei konnten sie von Glück sagen, dass es für Seeckt unvorstellbar war, zu putschen. Ab dem 9. Novem- ber 1923 hatte das Militär alle notwendigen Mittel dazu in der Hand, und die poli- tische Rechte hat auf eine solche Chance nur gewartet. Ebert konnte sich aber si- cher sein, dass dieser General nicht gegen den Präsidenten agieren würde, sowohl politisch, als auch persönlich. Einschlägige Schriften der Reichspräsident-Fried- rich-Ebert-Gedenkstätte können dieses nachweisen.

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Kurzum: Büttner hat ein brauchbares Buch zu Weimar, aber keineswegs für dessen Militärgeschichte veröffentlicht. Es ist vielmehr an der Zeit, die Militärge- schichte der Weimarer Republik erneut genauer zu betrachten. Das jüngste grund- legende Buch dazu wurde 1967 von Francis L. Carsten veröffentlicht!

Heiner Möllers

Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg. Hrsg. von Gerd Krumeich in Verb.

mit Anke Hoffstadt und Arndt Weinrich, Essen: Klartext 2010, 416 S.

(= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N.F., 24), EUR 29,95 [ISBN 978-3-8375-0195-7]

Joachim Riecker, Hitlers 9. November. Wie der Erste Weltkrieg zum Holocaust führte, Berlin: wjs 2009, 295 S., EUR 22,00 [ISBN 978-3-937989-57-0]

Ian Kershaw erinnert in seinem Vorwort zum vorliegenden Sammelband »Natio- nalsozialismus und Erster Weltkrieg« daran, dass Timothy W. Mason »bereits vor vielen Jahren darauf hingewiesen [hat], dass die Politik des Nationalsozialismus zumindest teilweise als ein Versuch angesehen werden kann, ›die Erfahrungen vom August 1914 als permanenten Zustand zu reproduzieren‹« (S. 10) – und, so möchte man ergänzen, dies für die Erfahrungen vom Herbst 1918 auf jeden Fall auszuschließen. Der Zusammenhang zwischen Erstem Weltkrieg und nationalso- zialistischer Politik ist in den letzten Jahren gelegentlich thematisiert worden, nicht zuletzt in dem von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann im Auftrag des MGFA edierten Sammelband »Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg« (Schöningh 2002).

Vor diesem Hintergrund ist die Bemerkung von Gerd Krumeich, die Geschichte des Nationalsozialismus sei »bislang kaum oder gar nicht mit Blick auf den Ersten Weltkrieg geschrieben« worden (S. 11), zunächst etwas überraschend. Dass aller- dings in diesem Feld erheblicher Forschungsbedarf besteht, aber auch bedeutende Forschungserträge zu erzielen sind, dokumentiert das von ihm herausgegebene Werk. Die 21 Aufsätze in den drei Kapiteln »Mentale Mobilmachung«, »Tradition und Generation« sowie »Lektionen des Krieges«, die auf eine Tagung in Düssel- dorf im März 2009 zurückgehen, sind durchweg von hohem Niveau und Erkennt- niswert. Mehrere Beiträge gehen Spuren des Ersten Weltkrieges in der nationalso- zialistischen Propaganda nach, so in den Reden Hitlers (Gerhard Hirschfeld), im Kalkül Goebbels‘ (Bernd Sösemann) und der Friedenspropaganda der frühen Jahre (Holger Skor), sowie in Medien wie Kriegsausstellungen (Christine Beil), Malerei (Stefan Schweizer) und Film (Rainer Rother, Florian Kotscha). Diskutiert werden ein- zelne vom Krieg besonders betroffene Gruppen der deutschen Gesellschaft, wie die Kriegsinvaliden (Nils Löffelbein) und Soldatenmütter (Silke Fehlemann), oder Or- ganisationen und Verbände wie der Stahlhelm (Anke Hoffstadt), die SA (Sven Reich- ardt) und die HJ (Arndt Weinrich), sowie die militärische Planungs- und Führungs- elite (Johannes Hürter, Markus Pöhlmann), aber auch funktionale Bereiche der Gesellschaft bzw. Politikfelder wie Medizin (Cay-Rüdiger Prüll) und Wirtschafts- politik (Kim Christian Priemel). Auch findet die Erörterung populärer Motive statt, die mit der Erinnerung an den Weltkrieg verbunden sind, wie etwa die »Mann- schaft« und ihr »Frontdichter« (Nicolas Beaupré) oder der »jüdische Bolschewis- mus« (Joachim Schröder). Am Beispiel »ethnischer Säuberungen« (Alan Kramer) und des Fremdarbeitereinsatzes (Jochen Oltmer) werden auch zwei Verbrechenskom-

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plexe behandelt, in denen sich Kontinuitätslinien zwischen Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus aufweisen lassen – ein Aspekt, den Volker R. Berghahn in einem quasi bündelnden Beitrag unter dem Titel »Gewalt von Krieg zu Krieg« aufgreift und teilweise für die Zeit nach 1945 fortschreibt.

Eingerahmt werden diese Einzelstudien durch einen einführenden Beitrag von Ulrich Herbert und resümierende Überlegungen von Dirk Blasius. Ein Motiv Hit- lers aufgreifend, beschäftigt sich Herbert mit den »inneren Gründen«, die aufsei- ten des radikalen Nationalismus für die Niederlage verantwortlich gemacht wur- den – eine Niederlage, die, so Hitler, »mehr als verdient« (S. 24) gewesen sei.

Propagandistisch geschürter »Wehrwille«, Euthanasie, Diktatur und Unterdrü- ckung der Arbeiterbewegung, gipfelnd in der Volksgemeinschaftsideologie be- schreibt Herbert als »Lehren« im Inneren. Im außenpolitischen und militärischen Bereich benennt er u.a. die Forderung nach Vermeidung eines Zweifrontenkrieges, technischer ebenso wie taktischer und strategischer und nicht zuletzt auch willens- mäßiger Überlegenheit, Erweiterung der Wirtschafts- und Ernährungsbasis im Sinne eines kontinentalen Kolonialreichs sowie Mobilisierung ausländischer Arbeitskräfte (Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter). Herbert scheint hier tatsäch- lich ein »Lernen« (z.B. S. 24, 30) vorauszusetzen, etwa wenn er formuliert: »Der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, dass man sich als strukturell Unterlegener Rücksicht- nahmen etwa in Form von Kriegsgesetzen nicht leisten konnte« (S. 28). Ist das so?

Hatte der Weltkrieg dies gezeigt? Noch irritierender ist es, dass ausgerechnet der Antisemitismus als Verknüpfung der »verschiedenen Ebenen des Lernens aus dem Krieg« referiert wird: »In den Juden verbanden sich all diese Elemente, die zur deutschen Niederlage geführt hatten« (S. 30) – das ist semantisch eine Tatsachen- aussage, auch wenn es als Paraphrase gemeint ist.

Die Formulierung vom »Lernen« findet sich auch in einigen anderen Aufsät- zen, und in der Tat wäre zu fragen, inwieweit die »Lehren« der nationalsozialis- tischen wie der militärischen Eliten tatsächlich auch als »Lernen« verstanden wer- den können. Manche Autoren melden hier Skepsis an: Kim Christian Priemel etwa fasst die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs gleich in der Überschrift als »Lernversagen«, eine Formulierung, die sich wohl auf manchen Bereich des Gegenstands anwenden ließe. Dies zeigt Johan- nes Hürter im Zusammenhang mit den gegensätzlichen Perspektiven des einfachen Frontsoldaten Hitler und der professionellen Wehrmachtelite: Diese habe sich näm- lich »am Ende nicht als weniger illusionär, eng und kriegsverlängernd« erwiesen als jene. Zwei Erkenntnisse hält Hürter überdies fest: Dass zumindest in der »Hee- resgeneralität der Wehrmacht« (aber nicht in gleichem Maße auch in der Luftwaffe, geschweige denn der Waffen-SS) »eindeutig der Typus des eher ›frontfernen‹ Ge- neralstabsoffiziers den Ton angab«, und dass aber zugleich unter der »Vielzahl ge- meinsamer, vor allem professioneller Erfahrungen [...] die Erfahrung des Ersten Weltkriegs heraus[ragt], sodass die Militärelite [...] sich von anderen gedachten und gefühlten Gemeinschaften wie vor allem den ›Frontkämpfern‹ und der ›Kriegs- jugend‹ unterschied«. Konsequenter Weise spricht Hürter daher auch nicht von ei- ner generationellen, sondern von einer »Erfahrungsgemeinschaft« (S. 268). Ein Teil der Widersprüche zwischen Hitler und der Generalität erklärt sich aus diesen un- terschiedlichen Erlebnissen, Erfahrungen und Deutungen.

Ähnlich skeptisch gegenüber einem »Lernen« im eigentlichen Sinne resümiert auch Markus Pöhlmann in seinem thematisch und sachlich verwandten Beitrag die Kriegslehren und Planungen von Reichswehr und Wehrmacht. Zwar sei der ge-

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samtgesellschaftliche Charakter eines Zukunftskrieges gerade durch den Blick auf den Ersten Weltkrieg erkannt, Lehren aus dieser Erkenntnis aber gerade nicht kon- sequent umgesetzt worden. Vielmehr hätten die Streitkräfte es tendenziell ver- säumt, den bekannten Gefahren »durch eine [...] darauf abgestellte Gesamtstrate- gie zu begegnen«, und versucht, sie auf der »operativen Ebene zu unterlaufen. Die radikalisierende Dynamik des Zweiten Weltkriegs selbst und seine weltanschau- liche Ausrichtung schufen [...] eine eigene Lernwelt, in der militärische Lehren [des Ersten Weltkriegs] allenfalls noch als individuelle Déjà-vu-Erlebnisse wahrgenom- men wurden« (S. 296 f.).

In den Reden Hitlers, so zeigt Gerhard Hirschfeld, findet sich insbesondere in fünf Feldern ein expliziter Bezug auf den Ersten Weltkrieg: Kriegsziele, Militärstra- tegie, Kriegswirtschaft, Propaganda und Partisanenkrieg. Hirschfeld spricht ins- gesamt ebenfalls nicht von einem Lernprozess, sondern einer fortgesetzten »Instru- mentalisierung und Funktionalisierung« des Ersten Weltkriegs, »je nach politischen Absichten und Notwendigkeiten« (S. 51). Dass »etliche von Hitlers politischen und militärischen Entscheidungen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs unmittelbar mit seinen Wahrnehmungen und Erfahrungen als Frontsoldat des Ersten Weltkriegs korrespondieren«, erscheine zwar naheliegend, bedürfe jedoch immer noch der näheren Überprüfung (S. 51).

Den 9. November nimmt Joachim Riecker als Ausgangspunkt seines Buches über die Entwicklung vom Ersten Weltkrieg zum Holocaust, die sich an den biogra- fischen Stationen Hitlers orientiert. Der Historiker und Journalist ist darum be- müht, seine Erzählung von einer rein auf die Person Hitlers zentrierten Sicht ab- zusetzen, besonders, indem er etliche andere zeitgenössische oder retrospektive Texte mit dessen Aussagen montiert. So soll die gesellschaftliche Verbreitung der von Hitler geteilten Ansichten über den Krieg, den Zusammenbruch und die ver- meintliche Rolle der Juden aufgezeigt werden. Leider neigt der Autor zu psycholo- gisierenden Betrachtungen, welche die Darstellung doch der Gefahr aussetzen, sich zu sehr auf die Person des »Führers« zu orientieren. Die angeführten Texte sind in der Regel bekannt und bereits publiziert worden; ihre Zusammenstellung ist aber gelungen, mitunter originell und teilweise erhellend. So entdeckt Riecker auffallende, bis in die Formulierungen gehende Ähnlichkeiten zwischen Hitlers Bericht über die ersten Kriegswochen und der Autobiografie Ernst Tollers. Die in dem o.a. Sammelband skizzierte Beziehung des Ersten Weltkriegs zum National- sozialismus und zum Zweiten Weltkrieg erfahren bei Riecker eine Engführung auf den Judenhass. Die antisemitische Ausdeutung der Erfahrung des Kriegsendes wird als gesellschaftlich verbreitetes Phänomen geschildert, das doch in der per- sönlichen Erfahrung Hitlers eine spezifische Form gewann. Riecker beschäftigt sich dabei auch mit Zitaten, in denen Hitler ein schädliches Wirken der Juden auf den deutschen Volkskörper mit Krankheitssymptomen beschreibt, die an den Krebs- tod seiner Mutter erinnern. Die Gefahr einer zu weitgehenden Interpretation ver- meidet Riecker, indem er korrekt darauf hinweist, dass Hitler keine persönlichen Rachegefühle gegen den behandelnden Arzt, einen Juden, hegte und zugleich da- ran erinnert, dass derartige Krankheitsmetaphern im rassenantisemitischen Dis- kurs üblich waren.

Als zentrales Motiv, das Hitlers Judenpolitik mit dem 9. November 1918 in Be- ziehung setzt, scheint immer wieder die Unterstellung auf, die Juden seien an die- sem »Verrat« schuld. Daher die bei Hitler vorzufindende Drohung, sie im Zuge der kommenden kriegerischen Auseinandersetzung beizeiten unschädlich zu ma-

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chen, die schließlich in der Anweisung an Himmler im Dezember 1941 gipfelte, man müsse sie »als Partisanen ausrotten«. Dass der Weg zum »Holocaust« kom- plexer und komplizierter war, dass zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und ein- zelne Institutionen in ihrem Zusammenwirken eine »kumulative Radikalisierung«

(Christopher R. Browning) erzeugten, in deren Rahmen Hitler eine wichtige, aber nicht die beherrschende Rolle spielte, gerät dann mitunter etwas aus dem Blick.

Auch wird die wissenschaftliche Forschung in »Hitlers 9. November« wenig Neues entdecken können. Es ist dennoch ein flüssig geschriebenes und gut lesbares Buch, dessen Autor sich bemüht, die groben Versuchungen einer rein personenfixierten Hitlerliteratur zu vermeiden.

Gideon Botsch Ludolf Herbst, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a.M.: Fischer 2010, 330 S., EUR 22,95 [ISBN 978-3-10-033186-1]

Besaß Adolf Hitler Charisma? Diese Frage stellt Ludolf Herbst, emeritierter Pro- fessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und lange Jahre stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Er kommt zu dem Schluss, dass Hitler »gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Gefolgsleuten die Legende des charismatischen Führers erfand, um die messianischen Erwartungen der Menschen im Deutschland der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit für die NSDAP nutzbar zu machen« (S. 14). Herbst erkennt so- mit in der NS-Propaganda den entscheidenden Baustein von »Hitlers Charisma«.

Damit unterscheidet sich seine Antwort von anderen gewichtigen NS-Interpreta- tionen. Herbst grenzt sich in erster Linie von Ian Kershaw und Hans-Ulrich Wehler ab, die ebenfalls mit der Herrschaftssoziologie Max Webers operiert haben – oder, um es mit Herbst zu sagen, dies zumindest versucht haben.

Doch was macht Herbst nun anders als Kershaw oder Wehler? Kershaw be- nutzte in seiner zweibändigen Hitler-Biografie den Weberschen Charisma-Begriff und machte eine charismatische Sozialbeziehung zwischen dem »Führer« und einem Großteil der deutschen Gesellschaft aus, die Hitler und dessen Zielen ent- gegengearbeitet habe. In anderer Weise habe Wehler – so Herbst – in seinem vierten Band der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« das Bild über das »Dritte Reich«

überzeichnet, indem er Hitler in eine (zu) zentrale Position zurückschob und so- mit die »ganz normalen Männer« (Browning) außer Acht ließ, die Hitler erst er- möglichten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Herbst sich in zwei Re- zensionen bei hsozkult sowohl mit Kershaws als auch mit Wehlers Positionen und dem Charisma-Konzept kritisch auseinandersetzte und es nun mit Blick auf die Webersche Herrschaftssoziologie besser machen will als all diejenigen Historiker, die Weber »nur wenig gründlich studiert haben« (S. 39).

Herbst nähert sich Hitlers Charisma in zwei Schritten. So ist nicht zuletzt der aus vier Kapiteln bestehende erste Teil seines Buches eine ausführliche Auseinan- dersetzung mit der Weberschen Herrschaftssoziologie. Hierin widmet sich der Au- tor den drei Idealtypen von traditionaler, legaler und charismatischer Herrschaft.

Im folgenden Forschungsbericht setzt er sich mit denjenigen NS-Interpretationen auseinander, die sich der Konzepte Max Webers bislang (gemäß Herbst nur unzu- reichend) bedient haben. Abschließend erläutert Herbst die eigene Herangehens- weise an den Forschungsgegenstand mithilfe Webers. Die folgenden acht Kapitel

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des zweiten Abschnitts beschäftigen sich schließlich mit der Entstehung, Durch- setzung und Herrschaft des Charismas bis Mitte 1934. Herbsts Analyse endet zu dem Zeitpunkt, als Hitler die Befugnisse des verstorbenen Reichspräsidenten Hin- denburg übernahm. Dabei spürt er der Frage nach, wie es überhaupt zur Geburt der Legende des charismatischen Hitlers gekommen sei. Demnach lagen die ersten drei Lebensjahrzehnte Hitlers zwar »außerhalb der Reichweite von Max Webers Begriff der charismatischen Herrschaft« (S. 77). Allerdings vermag Herbst nachzu- zeichnen, dass Hitler in seiner Zeit in Linz, Wien, München und nicht zuletzt als Soldat im Ersten Weltkrieg Fähigkeiten ausbildete, die ihm »charismatische Wir- kungsmöglichkeiten« (S. 80) eröffneten. Anschließend gerät der noch junge Red- ner Hitler in den Fokus, der bereits während seiner Zeit in der Reichswehr politi- sche Reden hielt und beispielsweise zurückkehrende Kriegsgefangene »im antisemitisch-nationalistischen Sinn zu indoktrinieren« hatte. Mithilfe von Arthur Schweitzers Studie »The Age of Charisma« legt Herbst dar, wie sich die charisma- tische Herrscherfigur (Hitler) in ein institutionelles System einfügte. Mehrfach ver- weist der Autor darauf, dass es sich bei den Weberschen Herrschaftsformen um Idealtypen handelt. In der Realität treffe man natürlich auf Mischformen. Die Ein- bettung der charismatischen Herrscherfigur in einen bürokratischen (Partei-)Ap- parat ist eine solche Mischform, die Herbst mit Schweitzers Begriff des »synerge- tischen Charismas« (S. 42), einem gleichsam gestärkten Charisma, analysiert. Diese Transformation setzte laut Herbst in Hitlers Reichswehrzeit ein und führte dazu, dass sich mit dem Eintritt Hitlers in die im Januar 1919 gegründete DAP/NSDAP nun allmählich eine Gefolgschaft aus NSDAP, Reichswehr und Münchener Gesell- schaft formierte. Bereits hier stößt man auf Namen wie Röhm, Rosenberg, Heß, Streicher und andere. Herbst datiert das Anwachsen einer kleinen Schar ins Früh- jahr 1923 (S. 144), ein halbes Jahr vor den »Novemberputsch«, der allerdings kei- nen »Mussolini Deutschlands« aus Hitler machte. Vielmehr attestierte der »Novem- berputsch« Hitlers »geringen Realitätssinn«, andererseits erhöhte sich dadurch jedoch Hitlers Bekanntheit und zeitigte durchaus »charismatische Wirkungen«

(S. 177). Das »Charisma als Werbestrategie« deutet Herbst im folgenden Kapitel, in dem er nachzeichnet, wie Hitler in seiner einjährigen Landsberger Haft in »Mein Kampf« den Nationalsozialismus als politische Religion inszenierte. Die Umset- zung dessen begann ab dem Jahr 1925 und drängte den organisatorischen Aufbau der NSDAP in den Hintergrund. Eben jener Struktur widmet sich Herbst im vorletz- ten Abschnitt, bezieht die parteiinternen Machtkämpfe zwischen Gregor Strasser und Hitler ein und betont die Bedeutung der Organisation NSDAP für Hitlers Cha- risma, das »vor diesem Hintergrund deutlich« verblasst (S. 249). Im Falle Hitler – so das Fazit – handele es sich um ein »synergetisches Charisma«, das sich nur durch einen modernen bürokratischen Apparat entfalten konnte.

Welcher Eindruck bleibt? Die kenntnisreiche und ausführliche Auseinander- setzung mit der Weberschen Herrschaftssoziologie sowie der stetige Rückbezug auf sie im Verlaufe des Buches sind Stärke und Schwäche zugleich. Denn einer- seits ist es ja wünschenswert, dass Fragestellung und Untersuchungsgegenstand an Theorie und Methode rückgekoppelt werden. Andererseits ist es jene Theorie- fülle, die den Lesefluss dieses Buches nicht fördert: weniger ist eben doch manch- mal mehr. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Herbst dem Charisma Hitlers nicht auf den Leim geht, sondern es überzeugend widerlegt. Hitlers Cha- risma war eine Konstruktion, die propagandistisch durch die Nationalsozialisten inszeniert wurde (S. 274). Trotzdem bleibt der Leser nur mit einer – wenn auch

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überzeugenden – Teilantwort zurück. Denn wie ließe sich Herbsts Analyse für die Zeit nach 1934 fortsetzen, nachdem die »Führerdiktatur« (S. 274) etabliert war?

Spielte die Propaganda dann wirklich die zentrale Rolle, die Herbst ihr beimisst?

Wie passte sich das »synergetische Charisma« Hitlers in die bürokratischen Struk- turen ein, ohne die keine Herrschaft auskommt, wie Herbst selbst meint (S. 283).

Auf diese Folgefragen würde man sich von Herbst auch Antworten wünschen.

Alexander Kranz

Matthias Strohn, The German Army and the Defence of the Reich. Military Doctrine and the Conduct of the Defensive Battle 1918–1939, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 2011, XIII, 277 S. (= Cambridge Military Histories), ₤ 55.00 [ISBN 978-0-521-19199-9]

Zahlreiche Studien haben sich mit der deutschen Reichswehr, die 1919 aus der ge- schlagenen kaiserlichen Armee hervorging und 1935 in »Wehrmacht« umbenannt wurde, beschäftigt. Bei der Befassung mit dieser nach den Bestimmungen des Ver- sailler Vertrages auf 100 000 Mann ohne schwere Waffen und Flugzeuge be- schränkten Berufsarmee interessierte zum einen deren innenpolitische Rolle, für die eine mentale Distanz der Offiziere gegenüber der Demokratie im Allgemeinen und gegenüber der Weimarer Republik im Besonderen bestimmend gewesen sein soll, weshalb die Reichswehr, von Politik und Gesellschaft abgekapselt, einen Staat im Staate gebildet habe. Die Armee habe daher dem Übergang zur Herrschaft Hit- lers und deren nachfolgendem Ausbau zur Führer-Diktatur nicht nur keinen Wi- derstand entgegengesetzt, sondern diesen Wandel zu einer autoritären Staatsform mit Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und forcierter Aufrüstung ex- plizit begrüßt. Daraus ergab sich ein zweiter Forschungsstrang, der die Reichswehr als Vorläufer der Wehrmacht und damit eines Instruments aggressiver Eroberungs- politik in den Blick nahm und untersuchte, in welcher Weise der 1933 einsetzende Ausbau der Wehrmacht mit ihrer in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkrieges er- folgreichen Konzeption des Blitzkrieges durch die Vorgänger-Armee vorbereitet worden war.

Die nunmehr gedruckte Oxforder Dissertation Matthias Strohns, der an der Royal Military Academy Militärgeschichte lehrt, rückt schon in ihren einleitenden Bemerkungen vieles an diesem einseitigen Bild zurecht. Strohn erläutert, warum er eine klassische, auf den ersten Blick nicht zeitgemäße militärgeschichtliche Stu- die vorlegt, indem er auf die Tatsache verweist, dass modische kulturwissenschaft- liche Studien zu Krieg und Militär oft vergessen lassen, wozu Armeen unterhalten werden: zum Kriegführen. Darüber hinaus konstatiert er, dass die Fixierung der Forschung auf die scheinbar nahtlos in Hitlers Blitzkriege mündenden Offensiv- Konzeptionen von Reichswehr und Wehrmacht ignorieren, dass die Reichswehr schon wegen ihrer numerischen und materiellen Schwäche, umgeben von als feind- lich wahrgenommenen, haushoch überlegenen Nachbarstaaten, auf die Reichsver- teidigung konzentriert sein musste.

Strohn greift weit aus, indem er darlegt, dass bereits die kaiserlichen Landstreit- kräfte, ungeachtet der Erfahrungen der erfolgreichen Offensiven der Einigungs- kriege 1864–1870/71, der Defensive mehr Aufmerksamkeit schenkten als angenom- men. Darüber könne, so Strohn, auch der Schlieffen-Plan mit seinem angriffsweisen Vorgehen gegen Belgien und Frankreich nicht hinwegtäuschen. Nachdem dieses

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Konzept im September 1914 gescheitert war, wandte die deutsche militärische Füh- rung erhebliche Mühen auf, um an der Westfront die Defensive vis-a-vis einem überlegenen Gegner durch immer ausgefeiltere, tiefgestaffelte Verteidigungsanla- gen zu stärken und gleichzeitig die eigene Truppe zu schonen. Die zu diesem Zweck von Experten des Stellungskrieges verfassten, minutiösen Vorschriften sollten noch in der Zwischenkriegszeit von Relevanz sein.

Unter Beachtung der außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen skiz- ziert Strohn sodann die Transformation der kaiserlichen Armee zur wesentlich kleineren Reichswehr. Die war in ihren ersten Jahren durch den Chef der Heeres- leitung, General Hans Seeckt, geprägt. Seeckt favorisierte ein kleines, elitäres und flexibles Operationsheer, das im Verteidigungsfall an einzelnen Stellen offensiv vorgehen sollte, dabei an den übrigen Frontabschnitten von einer Miliz mit defen- siven Aufgaben gedeckt. Mit diesem Konzept glaubte Seeckt den erneut drohenden Zweifrontenkrieg gegen Frankreich, Polen und die Tschechoslowakei meistern zu können, wobei ihm klar war, dass angesichts der eigenen Schwäche ein Abnut- zungskrieg ebenso vermieden werden musste wie die Entstehung starrer Fronten.

Laut Strohn demonstrierte der Anfang 1923 erfolgte belgische und französische Einmarsch ins Ruhrgebiet, dem die Reichswehr tatenlos zusehen musste, den illu- sionären Charakter der bisherigen Planungen, weshalb die Ruhrbesetzung als Wen- depunkt interpretiert wird. Das A und O des planerischen Dilemmas der Reichs- wehr war ihre Schwäche, denn mit 100 000 noch so gut ausgebildeten Soldaten ließ sich den um ein Vielfaches überlegenen Gegnern einfach nichts entgegensetzen.

Kein Wunder, dass sich ab 1923 Kritik an Seeckts Modell einer Elitetruppe regte.

Die Kritiker konnten darauf verweisen, dass auch diese bescheidene, aber bestens ausgerüstete, hochmobile Eingreiftruppe nur auf dem Papier existierte. Vor und nach Seeckts Ablösung 1926 wurden Pläne ventiliert, die Reichswehr durch Mili- zen, Grenz- und Selbstschutzverbände zu verstärken. Wenngleich hierbei eine Ein- beziehung der Zivilbevölkerung vorgesehen war, würde es nach Strohn zu weit führen, von Konzepten eines Volkskrieges zu sprechen – den übrigens die deut- schen Militärs im Weltkrieg als völkerrechtswidrig gebrandmarkt hatten.

Die unzähligen Konzepte, welche die Planungsabteilungen der Reichswehr, aufgrund alliierter Vorgaben teilweise im Verborgenen und an der politischen Füh- rung des Reiches vorbei, entwarfen, können hier nicht im Einzelnen referiert wer- den. Nicht allein aufgrund personeller Kontinuitäten – nahezu alle höheren Reichs- wehroffiziere waren weltkriegsgedient – standen einschlägige Erfahrungen bei allen Planungen der Zwischenkriegszeit Pate, was sowohl für den Stellungskrieg im Westen als auch für die mobil geführten Operationen im Osten gilt. Man kann sagen, dass drei Überlegungen sämtliche Gedankenspiele bestimmten: die kurz- fristig nicht zu ändernde materielle und personelle Beschränkung der Reichswehr;

die als extrem ungünstig eingeschätzte außenpolitische Situation, die einer erneu- ten Einkreisung gleichkam; sowie drittens die Prämisse, eine Neuauflage des Welt- kriegs zu vermeiden. Wenig verwunderlich, fanden weder Seeckt noch seine Nach- folger einen Ausweg aus diesem unlösbaren Dilemma. Die Generalstabsreisen und Planspiele führten immer wieder zu dem Resultat, dass eine Reichsverteidigung nach Ost und West unter den gegebenen Umständen aussichtslos war, selbst wenn den Manövern mitunter für Deutschland positive, aus heutiger Sicht illusionäre Annahmen zugrunde lagen. Derlei Frustrationen mögen erklären, warum das Of- fizierkorps Hitlers außenpolitische Erfolge zustimmend aufnahm. Die letzten Ab- schnitte des Buches legen dar, dass der Übergang von defensiven zu offensiven

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Planungen der nunmehrigen Wehrmacht Schritt für Schritt, mithin keineswegs über Nacht erfolgte und dass die Erwartung, das Reich gegen feindliche Angriffe verteidigen zu müssen, während der ersten Jahre des NS-Regimes bestimmend war.Strohns Studie deckt weit mehr ab als die zwei Jahrzehnte, die der Untertitel anführt. Ohne modischem Schnickschnack Tribut zu zollen, ruht die Arbeit auf ge- nuin militärischen Quellen wie Befehlen, Dienstvorschriften, Auswertungen von Manövern und Generalstabsreisen sowie dem militärwissenschaftlichen Schrift- tum der Zeit. In Ergänzung zu älteren Arbeiten wird der Stellenwert der Defen- sive ins Rampenlicht zurückgeholt. Über rein Militärisches hinaus bietet Strohn Einblicke in die zeitgenössische Wahrnehmung der außen- und sicherheitspoli- tischen Situation des Reiches sowie in die Mentalität des Führungspersonals der Reichswehr, dem insgesamt – trotz mancherlei Indizien für Wunschdenken und Tagträumerei – ein erhebliches Maß an Realismus zugebilligt werden muss. Diese mustergültige, auf erschöpfender und subtiler Auswertung der Primärquellen be- ruhende Studie bringt ihre Analysen präzise auf den Punkt. Bücher wie dieses ver- anschaulichen, dass die klassische Militärgeschichte auch im Zeitalter des kultur- wissenschaftlichen Mainstreams keineswegs obsolet ist.

Martin Moll

Peter Steinbach und Johannes Tuchel, Georg Elser. Der Hitler-Attentäter, Ber- lin: be.bra 2010, 368 S., EUR 16,95 [ISBN 978-3-89809-088-9]

Peter Steinbach und Johannes Tuchel belegen, wie verzerrt das Bild des Hitler- Attentäters Georg Elser nicht nur in der NS-Propaganda, sondern auch in den Jah- ren danach gewesen ist. Daraus leiten sie überzeugend die Notwendigkeit einer solide belegten Biografie ab, und diese legen sie mit dem hier vorzustellenden Band vor.Elser wächst in einer ärmlichen, teilweise zerrütteten Familie auf der schwä- bischen Alb auf. Er lernt Schreiner und hat in seinem Beruf auch einigen Erfolg.

Allerdings leidet er wie viele andere unter den Auswirkungen der wiederkehren- den Wirtschaftskrisen, wird immer wieder arbeitslos, findet dann nur mit Mühe unterbezahlte Stellen. Wohl als Konsequenz daraus nähert er sich kommunisti- schem Gedankengut an, hat zeitweise auch Verbindungen zu marxistischen Krei- sen, aber er ist kein Intellektueller und kein Parteiideologe.

Andererseits ist er, auch das belegen die beiden Autoren, nicht jener Eigenbröt- ler, als den ihn die Öffentlichkeit später gern wahrnimmt. Er macht Musik, der gut- aussehende Mann hat mehrere Liebschaften und aus einer davon auch ein Kind, er kommt immer wieder zu seiner Familie zurück, auch wenn der alkoholabhän- gige Vater eine emotionale Bindung kaum zulässt.

Was Elser aber ganz allein unternimmt, ist das Attentat auf Hitler. Er beteiligt niemanden, sondern er bastelt seine »Höllenmaschine« völlig selbstständig. Zeit- weise hat er in einer Uhrenfabrik gearbeitet, und so baut er drei unabhängig von- einander arbeitende Uhrwerke in einen fast schalldichten Kasten ein, um die Zün- dung des Sprengsatzes zum gewünschten Zeitpunkt auch wirklich sicherzustellen.

Dass Hitler dann die Veranstaltung im Bürgerbräukeller in München zu früh ver- lassen wird und die Detonation nicht mehr ihn, sondern nur noch acht mitzechende Alt-Nazis treffen wird – das kann Elser nicht vorhersehen.

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Beim Versuch, nach dem Attentat in die Schweiz zu entkommen, wird Elser an der Grenze verhaftet. Die beiden Autoren weisen mit einiger Berechtigung darauf hin, dass die Schweiz vermutlich für Elser keine sichere Zuflucht gewesen wäre – die eidgenössischen Behörden wären einem deutschen Auslieferungsersuchen wohl mit ziemlicher Sicherheit nachgekommen.

Aber so weit kommt es nicht. Eine wesentliche Quelle für das gesamte Buch ist das Vernehmungsprotokoll, das die beiden Widerstandsforscher gründlich quel- lenkritisch bewerten und dann geschickt interpretieren. Tagelang wurde Elser be- fragt, ging es doch darum, die vermuteten Hintermänner des Attentats zu identi- fizieren.

Hitler hat sofort den Verdacht, hinter dem Anschlag stecke der britische Ge- heimdienst, und so werden sowohl Elser als auch die beiden beim »Venlo-Zwi- schenfall« an der niederländischen Grenze verhafteten britischen Geheimdienst- mitarbeiter Best und Stevens stets zusammen in gesonderten Zellen der Konzentrationslager Sachsenhausen und zuletzt Dachau gefangengehalten – wohl, um sie nach gewonnenem Krieg in einem Schauprozess in London vor Gericht zu stellen. Während die beiden Briten überleben, wird Elser allerdings in den letzten Kriegswochen auf Befehl Himmlers erschossen; nicht einmal ein Grab wird sich finden lassen.

Die westdeutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung hat sich lange auf den na- tionalkonservativen Widerstand, vornehmlich der Militärs, konzentriert. Die ganze Familie Elsers war nach seiner Verhaftung eingekerkert und erst nach Wochen wie- der entlassen worden – auf eine Entschädigung wartete sie auch nach dem Krieg vergebens. Ebenso vergeblich bemühte sich seine Mutter, Pastor Martin Niemöl- ler zu einem Widerruf seiner Aussage zu bewegen, Elser sei SS-Mann gewesen.

Niemöller war zwar mit Elser zusammen im KZ gewesen, hatte sich mit dem in Isolierhaft gehaltenen Attentäter dort aber kaum austauschen können. Trotzdem blieb er auch gegenüber den Behörden bei seiner Behauptung, was die Unterstel- lung der Nationalsozialisten, Elser sei von dem mit den Briten verbundenen Otto Strasser gesteuert worden, zu belegen schien – das erschwerte eine angemessene Würdigung Elsers zusätzlich.

Der darstellende Teil des Buches ist ruhig und nüchtern geschrieben, dabei gut bebildert und klar gegliedert. Er wird ergänzt durch einen Quellenteil, der – teils als Faksimile, teils in Abschrift – die wesentlichen Dokumente zum Verständnis Elsers wiedergibt.

Versteht man den Begriff »Widerstand« in einem engen Sinn und subsumiert darunter nur solche Bestrebungen, die auf einen Sturz des gesamten NS-Systems ausgerichtet waren, dann wird man Georg Elser nicht darunter fassen können. De- finiert man den Begriff dagegen in einem weiteren Sinn und fasst darunter auch andere Formen widerständigen Verhaltens, dann ist Elser einer der wichtigsten Hitlergegner und das herausragende Beispiel für den Widerstand des »einfachen Mannes«. Die Frage seiner historischen Wirkmächtigkeit stellen die beiden Auto- ren deutlich hinter der Absicht einer »Würdigung« zurück. Das ändert nichts da- ran, dass dieses gelungene Buch auf lange Zeit die definitive Elser-Biografie blei- ben dürfte.

Winfried Heinemann

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Franz Josef Merkl, General Simon. Lebensgeschichten eines SS-Führers. Erkun- dungen zu Gewalt und Karriere, Kriminalität und Justiz, Legenden und öf- fentlichen Auseinandersetzungen, Augsburg: Wißner 2010, 600 S., EUR 38,00 [ISBN 978-3-89639-743-0]

Diese Lebensgeschichte ist mehr als eine Biografie. Sie bietet auf breiter Quellen- grundlage eine Sicht auf die Jahrzehnte von der Endphase des Ersten Weltkrieges bis in die Frühzeit der Bundesrepublik. Simons Weg vom 17-jährigen Sanitätssol- daten 1917 über die Teilnahme an Grenzschutzkämpfen in Schlesien führte in die Reichswehr, wo der einstige Schneiderlehrling eine Unteroffizierkarriere durchlief und bestens beurteilt 1929 den Zivilschein erhielt. Er wurde 1934 zum Verwaltungs- inspektor vorgesehen, orientierte sich, republikfeindlich eingestellt, nunmehr poli- tisch auf die NSDAP zu (1932) und wurde im Januar 1933 SS-Mitglied. Im An- schluss an die Diskussion zur Befindlichkeit der jungen Generation bei Kriegsende 1918 und danach – Christopher Browning, Ulrich Herbert, Michael Wildt u.a. – hebt Merkl neben den SS-Führern aus der »Generation der Unbedingten«, die wie die jungen zivilen Verschwörer häufig akademisch gebildet waren, die Gruppe ehemaliger Reichswehrunteroffiziere hervor, die aufgrund ihrer militärischen Kenntnisse und Durchsetzungsfähigkeit für NS-Organisationen – SA, SS – von be- sonderem Interesse waren: die »Feldwebel«. Zu diesen zählte Simon. Vom Wohl- wollen seiner Vorgesetzten getragen, durchlief der »geeignete Opportunist« eine flotte Karriere. Im SS-Oberabschnitt Mitte unter Karl Freiherr von Eberstein wurde er schon im März 1934 Führer der Stabswache in Weimar. Eberstein nahm ihn kurz darauf mit nach Dresden, SS-Oberabschnitt Elbe, in seine »Politische Bereitschaft«.

Hier, in der 3. Standarte, unterstand Simon dem Obersturmführer Karl Otto Koch, dem künftigen Herrscher über die Konzentrationslager Esterwegen, Sachsenhau- sen, Buchenwald und Majdanek.

Schon im Mai 1934 wurde Simon Führer des 3. Sturms der auch »Sonderkom- mando Sachsen« genannten Politischen Bereitschaft. Merkl geht auf die Einzel- heiten der Führungsstruktur der SS-Sonderkommandos ein, die Himmler bei der Liquidierung der SA-Führer einsetzte. Simon scheint hier Gelegenheit zur Bewäh- rung als SS-Führer »in Form der ›ordnungsgemäßen‹ Exekution« der in Dresden ermordeten SA-Führer gegeben worden zu sein. Der Himmler-Vertraute Ober- sturmbannführer Ludolf-Hermann von Alvensleben ließ die Mordbefehle von Koch und seinen Männern durchführen. Koch und nicht zuletzt Simon konnten sich bis zuletzt der besonderen Gunst Himmlers sicher sein.

Ihre Laufbahn führte zunächst in die von ihnen mitgestaltete grausame Welt der SS-Konzentrationslager unter Theodor Eicke. Merkl berichtet ausführlich über die brutalen Methoden im KZ Sachsenburg, wo Simon als stellvertretender Lager- kommandant und Führer der Wachtruppe zur wichtigsten Figur wurde. Mit der Umorganisation der Lagerstruktur im Juli 1934, an deren Spitze Eicke nun als »In- spekteur der Konzentrationslager« und »Führer der Wachverbände« stand, wurde nach Merkl eine in der Forschung bisher verkannte Auswirkung der Rolle der La- ger-SS auf die SS-Geschichte überhaupt eingeleitet. Es ist nicht zuviel gesagt, dass Simons Biografie hierfür als wichtiger Beleg herangezogen werden kann. Die Apo- logeten der Waffen-SS haben, so Merkl, die Linie Politische Bereitschaften – Verfü- gungstruppe – Waffen-SS zu kurz gezogen. Angehörige der Bereitschaften gelang- ten über die Wachverbände in die Totenkopfdivisionen und Waffen-SS-Divisionen.

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Zum Anspruch der Waffen-SS, »Soldaten wie andere« gewesen zu sein, passte diese Entwicklung nicht.

Simon gehört indes zu den Ikonen eines erweiterten Spektrums der Militär-SS.

Als Lagerkommandant des KZ Dachau betrieb er eine exzessive Kriminalisierung seiner SS-Männer und eine harte militärische Ausbildung. Der Reichswehrunter- offizier beeindruckte seine SS-Vorgesetzten nachhaltig. Seine Karriere war nicht zu stoppen: 1937 Standartenführer, Regimentskommandeur in der 1939 aufgebauten SS-Totenkopfdivision, zum Jahreswechsel 1940/41 Vertreter des Divisonskomman- deurs Eicke, seit Februar 1943 Kommandeur der Totenkopfdivision, November 1943 Kommandeur der neu aufgestellten 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichs- führer SS« und schließlich seit Oktober 1944 Kommandierender General des XIII. SS-Armeekorps, Gruppenführer.

Merkl behandelt die Kriegsverbrechen der SS-Totenkopfdivision in Polen, Frankreich und der UdSSR ausführlich, ebenso die von der Division »Reichsfüh- rer SS« in Italien als Partisanenkampf bezeichneten Massenmorde auch an Frauen und Kindern.

Diese Art Partisanenkampf beruhte auf den Partisanenkampfbefehlen für den Ostkrieg, die der Oberbefehlshaber Südwest, Generalfeldmarschall Kesselring, ent- schlossen befolgte. Diese Haltung, von Gerhard Schreiber, Kerstin von Lingen, Carlo Gentile u.a. beschrieben, kennzeichnete eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Wehrmacht- und SS-Verbänden: eine Waffenbrüderschaft mit Konse- quenzen bis zu Gerichtsverfahren vor bundesdeutschen Gerichten, deren Gegen- stand Verbrechen gegen Deserteure und die eigene Bevölkerung in der Endphase des Krieges waren.

Die Biografie greift im Bemühen um Systematisierung der Aktionen an der »in- neren Front« weit aus. Im nördlichen Schwaben bis nach Bayern suchte Simon mit seinem Korps die »kämpfende Volksgemeinschaft« sinnlos gegen die US-Armee zu mobilisieren. Gegen Vernunft und Zweifel ließ er rücksichtslos gegen Jung und Alt vorgehen.

Allein der »Fall Brettheim« und seine »Aufarbeitung« durch die Nachkriegs- justiz umfasst über 60 Seiten. Nach der Lektüre darf sich der Leser als wohlinfor- miert betrachten: informiert über täterfreundliche Schuldauslegungen des Bun- desgerichtshofs und der Landgerichte Ansbach und Nürnberg, über die Fortwirkung nationalsozialistischer »Rechtsanschauungen« und das erfolgreiche Zusammen- wirken der SS- und Wehrmachtkriegskameraden als Sachverständige in Prozes- sen. Hier sind besonders zu nennen Feldmarschall Kesselring und der Oberst und

»Ritterkreuzträger von Simons Gnaden« Cord von Hobe, der es in der Bundes- wehr zum General brachte. Auch Erich von Manstein trat als ehemaliger Vorge- setzter auf und nicht zuletzt der ehemalige Kriegsrichter Schwinge, Professor in Marburg, der selbst Todesurteile verhängte und in seinem Kommentar zum Mili- tärstrafgesetzbuch die Auffassung vertreten hatte, in kritischer Lage »könnte ein einziger Freispruch die Wirkung haben, den Kampf- und Widerstandswillen der großen Masse zu erledigen«. Simon wurde freigesprochen. Die Bevölkerung em- pörte sich. Opfer seiner Standgerichte waren Bauer Hanselmann, der Hitlerjungen entwaffnet hatte, um Brettheim vor der Zerstörung zu bewahren, und zwei Män- ner, die sich geweigert hatten, das Urteil gegen Hanselmann zu unterschreiben.

Selbst Innenminister Hans Filbinger zeigte sich 1960 bei einer Gedenkstunde am Friedhof in Brettheim angesichts der öffentlichen Empörung über den Frei- spruch für den SS-General kritisch, was allerdings Fragen aufwirft angesichts sei-

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ner späteren Selbstverteidigung: was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.

Franz Josef Merkl hat mit dieser Biografie Ansätze der Zeitgeschichtsforschung bereichert und ein immenses Quellenmaterial strukturiert aufbereitet.

Manfred Messerschmidt René Rohrkamp, »Weltanschaulich gefestigte Kämpfer«: Die Soldaten der Waffen-SS 1933–1945. Organisation – Personal – Sozialstrukturen, Pader- born [u.a.]: Schöningh 2010, 656 S. (= Krieg in der Geschichte, 61), EUR 58,00 [ISBN 978-3-506-76907-7]

Das von Bernd Wegner 2008 schon in der 8. Auflage herausgegebene und bis heute wegweisende Standardwerk »Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933 bis 1945« enthält noch einige Forschungslücken. Sie werden jetzt von René Rohrkamp, u.a. gestützt auf Wegners Untersuchungen, auf einer sehr breiten Quellenbasis und mit vielen Statistiken und Schaubildern überzeugend geschlossen. So fehlten bis- her detaillierte Arbeiten über die Entwicklung des Personalwesens der Waffen-SS, über Personalführung, die Praxis der Personalrekrutierung und das Ergänzungs- wesen im Spannungsfeld von Staat, Partei und Wehrmacht sowie über das Verwal- tungshandeln bis auf die Praxisebene hinunter und dessen Auswirkungen auf das Sozialprofil der Mannschaftsdienstgrade. Empirische Erkenntnisse über die Ent- wicklung der personellen Zusammensetzung der Waffen-SS, ihre Sozialstruktur und ihr dynamisches Sozialprofil im Vergleich zum Heerespersonal stehen im Mit- telpunkt des Buches. Es ist durchgängig komparatistisch angelegt. Methodisch handelt es sich um eine strukturell-funktionalistische Analyse.

In einer geschickten Kombination von Sachakten und empirisch gewonnenen personenbezogenen Massendaten wertet der Autor zum ersten Mal als zentrale Quelle exemplarisch in Stichproben ein Sample von Wehrstammbüchern aus. Diese Personalakten der Mannschaftsdienstgrade der bewaffneten Formationen sind aufgrund ihres standardisierten Charakters für die EDV-gestützte empirische Auswertung besonders geeignet. Sie liegen als elektronisch erfasste und auswert- bare Datenbanken heute in der Deutschen Dienststelle Berlin, der ehemaligen Wehrmachtauskunftstelle, bereit.

Die Wehrstammbücher dokumentieren umfassend die militärische Biografie eines Soldaten. Sie geben Auskunft über seine regionale, soziale und familiäre Her- kunft, sein Alter, seinen Bildungsgrad, seine politische Sozialisation und prägende Mitgliedschaft in Parteiorganisationen wie in der HJ oder im Reichsarbeitsdienst, seinen Familienstand, erlernten und ausgeübten Beruf, seine physiologischen Da- ten und medizinischen Befunde, freiwillige Meldungen, Dienstzeiten und -stel- lungen in SS und Heer, Beförderungen und Bestrafungen wie auch über die Ver- leihung von Orden und Ehrenzeichen, Erkrankungen und Verwundungen sowie gegebenenfalls über den Tod des Soldaten.

Mithilfe seines umfangreichen und spezifizierten Datenbestandes kann der Autor zentrale Fragen wie die nach den Umständen und dem Zeitpunkt einer Mit- gliedschaft in der Waffen-SS, nach Auswahlkriterien und der Freiwilligkeit des Eintritts, möglicherweise sich ändernden Sozialprofilen, sozialstrukturellen Trends in den einzelnen Entwicklungsphasen der Waffen-SS und Altersschichtungen und daraus möglicherweise resultierenden unterschiedlichen Erlebnishorizonten von

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Soldaten beantworten. Dabei wird die oft etwas von der Realität abgehobene kol- lektivbiografische Annäherung an das Leben und Erleben in der Waffen-SS in den einzelnen Kriegsphasen bis zum Ende immer wieder konkret vermittelt mit der Vorstellung von typischen Einzelschicksalen von SS-Angehörigen.

Ein weiteres wichtiges Themenfeld ist die Beteiligung der Waffen-SS, be- stimmter Gruppen und Einzeltäter am Vernichtungskrieg. Waren es wirklich »ganz normale Männer« (Christopher Browning) ohne signifikante kriminelle Karrieren vorher? Das soziale Umfeld der Waffen-SS zunächst in den Kasernen und dann im Felde, Kameraderie, Indoktrination und über Jahre verinnerlichte verzerrte rassis- tische Welt- und Feindbilder im »Schwarzen Orden«, aber auch situative Bedingun- gen an der Front haben sicher auch ohne Zwang verbrecherisches Handeln beför- dert. Dabei muss Schuld hier stets individuell nachgewiesen werden. »Die Zugehörigkeit zur Waffen-SS konnte jeden, egal auf welche Art er in die Waffen- SS gekommen war, zum aktiven Täter im Vernichtungskrieg machen« (S. 525). Den- noch warnt der Autor vor einer »generelle[n] Verurteilung der Waffen-SS-Einheiten und ihrer Soldaten« (S. 338).

Rohrkamp ist sich der begrenzten Aussagekraft seiner Quellen durchaus be- wusst, solange sie sich nicht mit zeitgenössischen authentischen und mentalen Zeugnissen von Angehörigen der Waffen-SS abgleichen lassen. »Ob es eine Dis- krepanz zwischen der von Himmler formulierten Norm und der gelebten Realität an der Front gab, verraten die Wehrstammbücher nicht« (S. 321). Was er für die ideologische Schulung der Genesungskompanien feststellt, dürfte allgemein gel- ten: »Wie sehr die Unterrichtsinhalte in die Köpfe der Soldaten drangen, lässt sich nicht empirisch ermitteln« (S. 428).

Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch die oft erbittert ausgefochtene Konkurrenz zwischen Waffen-SS und Wehrmacht oder genauer: zwischen SS-Füh- rungshauptamt und OKW. Dabei ging es um die von der Wehrmacht beanspruchte und von der Waffen-SS bedrohte exklusive Kontrolle über die personelle und ma- terielle Ausstattung der bewaffneten SS, insbesondere über den Nachersatz und generell um die Wehrhoheit als »Waffenträger der Nation«. Für Himmler war seine SS zugleich innenpolitisch ein unverzichtbares Instrument im sprichwörtlichen Kompetenzgerangel um Einfluss und Macht im »Dritten Reich«. Ein solches Ge- rangel nahm, wie der Verfasser zeigt, auch in einer scheinbar so hierarchisch-ge- schlossenen Organisation wie der SS oft bizarre Formen an. Nach einer ersten Ent- fremdung zwischen Hitler und Wehrmacht nach Stalingrad schlug die Stunde Himmlers und der Waffen-SS dann am 20. Juli 1944, sodass sie in der Untergangs- phase immer mehr die Oberhand über die Wehrmacht gewann.

Auch die SS-Forschung arbeitet inzwischen mit dem Begriff der »Primär- gruppe«. Dabei handelt es sich hier nicht wie beim Heer um eine damals bewusst zur Stärkung der Kampfkraft geschaffene landsmannschaftliche Homogenität, die bei der Waffen-SS so auch gar nicht gegeben war, sondern um den Vorbildcharak- ter des Personals der Vorkriegszeit und des ersten Kriegsjahrganges 1939/40. Als Rückgrat der Waffen-SS mit einer hohen mentalen und ideologischen Homogeni- tät infolge ihrer politischen Sozialisation nach 1933 in HJ und Reichsarbeitsdienst prägte diese »Primärgruppe« den »Esprit de corps« und die Gruppenkohärenz im Kriege; sie nahm prägenden Einfluss auf die Rekrutenausbildung und rückte im Krieg in das Führer- und Unterführerkorps auf.

Zum elitären Selbstverständnis und ideologischen Profil der Waffen-SS und zur »Ordensfähigkeit« zumindest bei ihrem Urpersonal wie der SS-Verfügungs-

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truppe und den SS-Totenkopfverbänden gehörte neben der »deutschblütigen« Ab- stammung und genau definierter körperlicher Tauglichkeit vor allem das Prinzip der Freiwilligkeit. Es wurde, wie der Autor nachweist, im Verlauf des Krieges nicht zuletzt infolge der hohen Verluste nach und nach ausgehöhlt und wich oft mas- sivem Druck zum Beitritt. So entfiel auch bald die ursprünglich geforderte Einwil- ligung der Eltern für die Bewerbung junger Freiwilliger. Die SS beklagte den ne- gativen Einfluss der Kirchen und vieler Elternhäuser.

Der Verfasser mahnt eine gründliche und auf breiter Quellenbasis beruhende Untersuchung der vielen Einflussfaktoren, die die überproportional hohe Zahl von Kriegsverbrechen der Waffen-SS erklären, wie die Frontsituation, die Verbandsge- schichte und die ideologische Prägung in Weiterführung seiner Untersuchungen als Forschungsdesiderate an.

Rohrkamp stellt »das heute noch von unkritischen Geistern mit glühender Fe- der zitierte und immer wieder beschworene Bild der homogenen Elitetruppe«

(S. 15) ebenso entschieden infrage wie er zusammenfassend als Fazit noch einmal eine Entmythologisierung von Hitlers »politischen Soldaten« vornimmt: »Vom My- thos Waffen-SS bleibt in Anbetracht der vorliegenden Ergebnisse wenig mehr als die wahnwitzige Idee eines sogenannten Blutordens – nicht mehr als eine Halluzi- nation« (S. 532).

Abschließend zwei kritische Bemerkungen: Der Leser hätte dieser eindrucks- vollen und gründlich recherchierten Forschungsleistung bisweilen einen weniger abstrakten und substantivischen Sprachduktus gewünscht. Und: Die Verlegung der »obligatorischen Mitgliedschaft in der HJ« auf das Gesetz über die HJ vom 1. Dezember 1936 (S. 257), mit dem diese zur Staatsjugend erklärt wurde, statt auf die 2. Durchführungsverordnung dieses Gesetzes vom 25. März 1939 wird auch dadurch nicht richtiger, dass sie immer wieder in der Literatur auftaucht.

Bernd Jürgen Wendt

Hans-Erich Volkmann, Luxemburg im Zeichen des Hakenkreuzes. Eine poli- tische Wirtschaftsgeschichte 1933 bis 1944. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam, in Zusammenarbeit mit dem Centre de Docu- mentation et de Recherche sur la Résistance, Luxemburg, Paderborn [u.a.]:

Schöningh 2010, IX, 582 S. (= Zeitalter der Weltkriege, 7), EUR 46,90 [ISBN 978-3-506-77067-7]

Es ist lange her, da wandte die DDR-Geschichtswissenschaft großes Augenmerk auf die Suche nach Quellen für den (staats)monopolitischen Charakter des NS-Im- perialismus vor und vor allem im Zweiten Weltkrieg. Es ging darum zu zeigen, wie sich Wirtschaft und Politik immer mehr verschränkten im Zuge von »Welt- herrschaft im Visier« oder »Nacht über Europa« – so die Titel wichtiger Sammel- werke. Sollte hier im Sinne der Leninschen Thesen der Primat der Ökonomie ge- zeigt werden, so ging Hans-Erich Volkmann damals schon einen anderen Weg: Er war einer der wenigen westdeutschen Historiker, welche die deutschen wirtschaft- lichen Interessen gegenüber den anderen europäischen Staaten untersuchte. Be- reits 1976 veröffentlichte er in den damaligen MGM einen Beitrag »Autarkie, Groß- raumwirtschaft und Aggression. Zur ökonomischen Motivation zur Besetzung Luxemburgs, Belgiens und der Niederlande 1940.« Ist der Verfasser, fast ein Jahr-

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zehnt lang Leiter der Abteilung Forschung im MGFA nun im Ruhestand zu sei- nem alten Thema zurückgekehrt?

Das wäre bei weitem zu einfach, aber es ist schon die seit einer Generation er- worbene Perspektive, die hier erneut und gewandelt fruchtbar gemacht werden kann. Die unmittelbare Genese des umfangreichen Bandes ist aber eine andere:

Dem Titel gegenüber ist ein Porträt von Emile Krier abgebildet. Dieser luxembur- gische Historiker hatte sich seit vielen Jahren intensiv mit der Geschichte seines Landes im Zweiten Weltkrieg beschäftigt und in diesem Zusammenhang Recher- chen zum hier bearbeiteten Thema durchgeführt und umfangreiches Material dazu gesammelt. Er starb jedoch schon 2002 und so übernahm mit Volkmann einer der besten Kenner der Materie die Bearbeitung. Sie führte letztlich zur alleinigen Autor- schaft Volkmanns, dem die eigentliche gestalterische Arbeit oblag. Unterstützt wurde das Vorhaben vom Centre de Documentation et de Recherche sur la Résis­

tance, dessen Direktor Paul Dostert den zweiten maßgeblichen Experten zu Luxem- burg im Zweiten Weltkrieg stellt. Damit schließt sich der Kreis: das Centre de Do­

cumentation hatte Volkmann zur Bearbeitung der Quellensammlung Kriers gewonnen.

Luxemburg hatte zu den hier abgehandelten Zeiten weniger als 300 000 Ein- wohner, war also im deutsch beherrschten Europa ein kleines Land. Das sagt na- türlich nichts über das Erlebnis von Besatzung und Fremdherrschaft während des Krieges aus. Das Land selbst war 1839 unabhängig geworden, gehörte aber den- noch bis zum Dezember 1918 zum deutschen Zollgebiet. Bei fortdauerndem starken wirtschaftlichen Austausch mit dem Deutschen Reich hatte sich Luxemburg zu- nehmend kulturell an Frankreich orientiert, aber auch enge Bindungen zum be- nachbarten Belgien unterhalten. Volkmann legt ausholend diese Sachverhalte nüch- tern dar, will aber selbst den »politischen Aufriss einer Wirtschaftsgeschichte«

geben (S. 5): »Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Interdependenz von Politik, Kriegführung und Besatzungsherrschaft sowie der folgenwirksame Wandel der volkswirtschaftlichen Verhältnisse unter den Bedingungen des militärischen Kon- fliktes.«

In der Rüstungskonjunktur der 1930er Jahre hatte Luxemburg wegen seiner Stahlindustrie Bedeutung für das Deutsche Reich, aber wie Elsass und Lothringen wurde es im völkisch-nationalsozialistischen Deutschland zum eigenen Kultur- raum gerechnet, sollte also mit und durch den Krieg »wiedergewonnen« werden.

Voraussetzung hierfür war der erfolgreiche sogenannte Westfeldzug 1940. Trei- bende Kraft der Annexion war der Gauleiter des angrenzenden Gaus Moselland, Gustav Simon, der im Herbst 1940 auch in Luxemburg Chef der Zivilverwaltung wurde. Zuvor hatte das Land für vier Monate unter Militärverwaltung gestanden, eine Verwaltung, die zumindest der Bevölkerung eine bessere Versorgung ließ.

Eine hemmungslose Ausbeutung wie etwa gleichzeitig in Polen fand in Luxem- burg zunächst nicht statt. Diese Zeit war gekennzeichnet »durch das weitgehend erfolgreiche Bestreben der Wehrmacht, nach völkerrechtlichen Kriterien ihre Auf- gabe als Besatzungsmacht und als Interessenvertreter des Deutschen Reiches wahr- zunehmen« (S. 145).

Unter Gauleiter Simon, dessen NS-Karriere ausführlich dargelegt wird, wurde Luxemburg de facto, wenn auch nicht de iure annektiert. Deutliches Beispiel dafür wurde die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die in der Bevölkerung auf Unmut stieß. Hinzu kam u.a., dass Luxemburg dem deutschen Zollverband ein- gegliedert wurde. Dennoch bestanden weiterhin Unterschiede zwischen dem Reich

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und den Verhältnissen in Luxemburg. In manchem war Simon bestrebt, analog zu Elsass und Lothringen vorzugehen, wo die Gauleiter Wagner und Bürckel glei- chermaßen ihren persönlichen Einfluss zu stärken trachteten. Volkmann spart ins- gesamt nicht mit deutlichen Worten über die Beutementalität der deutschen Be- satzer, die für die Widerstände der Bevölkerung einfach kein Verständnis hatten.

Dennoch blieb über weite Strecken das Bemühen, die Effizienz der wirtschaftli- chen Ausbeutung zu sichern, die Bevölkerung durch rigorose Maßnahmen nicht zu sehr zu verärgern.

Volkmann beschreibt ausführlich den Aufbau der deutschen Verwaltung und zeigt sie dann in Aktion: Jüdischer Besitz wurde »arisiert«, das Geld- und Finanz- system wurde neu geordnet, das Bankwesen analog zum Deutschen Reich gestal- tet. Der Arbeitskräfteeinsatz der Bevölkerung aus der Friedenswirtschaft heraus bis zur »totalen Kriegswirtschaft« wird dargelegt. Zunehmend spielten auch Zwangsarbeiter aus dem »Osten« eine wichtige Rolle. »Behandlung und Ergehen der Ostarbeiter vollzog sich in Luxemburg wie im Reich unter dem Spannungsbo- gen von Verlockung und Zwang« (S. 351). Die Frage nach Deportation von Luxem- burgern ins Reich oder Beibehaltung der Produktion vor Ort wurde pragmatisch in Richtung letzterer entschieden. Im folgenden Kapitel befasst sich Volkmann aus- führlich mit der Landwirtschaft Luxemburgs. In einem Ausblick fasst er nicht nur seine Forschungsergebnisse zusammen, sondern gibt einen Blick in die europäi- sche Integration Luxemburgs bis hin in die unmittelbare Gegenwart.

Volkmanns Arbeit stellt eine umfassende Forschungsleistung dar, wie sie sich für dieses Thema so schnell nicht wiederholen lassen wird. Minutiöse wirtschaft- liche und finanzielle Prozesse wechseln ab mit großflächigen, eher essayistischen Passagen etwa wie die zum deutschen völkischen Denken gegenüber dem zu be- setzenden Luxemburg. Der Materialreichtum wirkt bisweilen überbordend. Etwa fünfzig Seiten zum Sparkassenwesen mögen manchem Leser doch ein wenig viel erscheinen. Ein kürzeres Buch wäre wohl sinnvoll gewesen. Wieviel hier auf Pie- tät gegenüber dem verstorbenen Materialsammler Krier zurückgeht, steht dahin.

Wie bereits angedeutet scheut sich Volkmann nicht vor deutlichen Urteilen zur deutschen Raffgier im staatlichen wie privaten Sektor. Unaufgeregt schreibt er im Unterschied zu früheren Arbeiten aber von Hitlers Entscheidungen dieser oder je- ner Richtung, denen dann die regionale oder lokale Politik in spezifischer Prägung gefolgt sei. Im Schlusskapitel erwähnt Volkmann einmal eine lang zurückliegende Auseinandersetzung mit dem bedeutenden, kürzlich verstorbenen britischen Wirt- schaftshistoriker Alan Milward. Dieser habe zum Entsetzen Volkmanns von Mo- dernisierung der Volkswirtschaften besetzter Länder zumal in Südosteuropa ge- sprochen. Ob und wie der Autor sich heute für Luxemburg ebenfalls in dieser Richtung positioniert, ist mir im Großen nicht klar geworden.

Deutlich distanzierte Sprache ist das eine. Auf der anderen Seite stehen jedoch manche nationalsozialistischen Begriffe ohne Anführungszeichen. »Gefolgschafts- mitglieder« oder »antideutsche Hetzschriften« gehören dazu. Gewiss kann man nicht das ganze Vokabular jenes »Dritten Reiches« in permanente Distanzzeichen setzen, hier wäre jedoch bisweilen mehr erwünscht gewesen. Das gilt auch für die starke Übernahme des bürokratischen Stils der Quellen. Dabei schreibt Volkmann sonst zumeist in einer lebendigen und lesbaren Sprache.

Insgesamt ist somit ein erschöpfendes Buch erschienen, das nicht nur einen weißen Fleck auf der Landkarte deutscher Besatzungsherrschaft im Zweiten Welt- krieg auslöscht, sondern auch und gerade durch das zusammengetragene Mate-

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rial wiederum zum Vergleich mit anderen Regionen und Ländern zumal Westeu- ropas anregen kann.

Jost Dülffer

Documents diplomatiques français 1940. T. 2 (11 juillet–31 décembre), Bruxelles [u.a.]: Lang 2009, LXXX, 1058 S. (= Documents diplomatiques français – 1939–1944, 4), EUR 41,20 [ISBN 978-90-5201-437-1]

Nunmehr liegt der vierte Band der von André Kaspi (Universität Paris I) und sei- nem Team herausgegebenen Serie 1939–1944 der offiziellen französischen Doku- mentenveröffentlichung vor. Er umfasst das zweite Halbjahr des für Frankreich tragischen Jahres 1940. Die bewährte Struktur der Veröffentlichung – chronolo- gischer Abdruck der Dokumente und Aufschlüsselung durch ein umfangreiches Sachgruppen-Verzeichnis – wurde beibehalten.

Die Bearbeiter bezeichnen diesen Band als in besonderem Maße wichtig. Das soeben installierte Vichy-Regime begann in jenem Halbjahr seine ersten diploma- tischen Schritte zu unternehmen. Das hieß vor allem seine Legitimität auf interna- tionaler Ebene zu demonstrieren. Dazu sollten einerseits der Bruch mit der Politik der Dritten Republik demonstriert, andererseits aber die Kontinuität der außenpoli- tischen Traditionen und Interessen Frankreichs deutlich gemacht werden. Vichy tat dies mit bemerkenswerter Aktivität im neutralen Ausland. Aber auch den Re- präsentanten der französischen Auslandsmissionen und den Auslandsfranzosen sollte der esprit nouveau der »Nationalen Revolution« nachdrücklich nahegebracht werden (Dok. 146, 187 und 388). Indes wog die Last der Niederlage schwer. Frank- reich hatte vorerst aufgehört, ein Hauptakteur in den internationalen Beziehungen zu sein. Ein vom Außenministerium angefertigter Tour d’Horizon über die Hal- tung des Auslandes gegenüber dem neuen Regime brachte dementsprechend ein bedrückendes Ergebnis (Dok. 17).

Vor allem aber stand die neue Regierung den Problemen gegenüber, die aus den Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland und Italien resultierten. Fast achtzig Dokumente betreffen allein den Komplex der deutsch-französischen Aus- einandersetzungen. Insbesondere musste Vichy sich über die Absichten der Deut- schen klar werden. Würde das Reich versuchen, mit Großbritannien zu einem Ar- rangement auf Kosten Frankreichs zu kommen? Mancherlei Informationen suggerierten dies. Sodann: Was würde aus Elsass-Lothringen werden? Würde das Reich diese Provinzen annektieren? Bei den Verhandlungen im Rahmen der Waf- fenstillstandskommission über die Interpretation verschiedener Vertragsklauseln zeigten sich die deutschen Vertreter recht hartherzig. Zaghafte Bemühungen eines hinhaltenden Widerstandes vonseiten der französischen Vertreter nützten ebenso wenig wie Kooperationsversuche. Das Treffen zwischen Hitler und Pétain 1940 in Montoire brachte den Franzosen keine Klarheit über des Diktators künftige Frank- reichpolitik. Der Begriff der »Collaboration« blieb vage. Die Italiener wiederum waren in der Form zwar konziliant, blieben aber entschlossen, Frankreichs Lage auszunutzen, um ihre Interessen bezüglich Tunis, Nizza, Korsika und Savoyen durchzusetzen.

Kompliziert waren die Beziehungen zu Großbritannien. Vichy hätte den Kon- takt zu dem ehemaligen Verbündeten gern aufrechterhalten. Hierzu gibt es einige interessante Dokumente über geheime Fühlungsnahmen (etwa Dok. 360: Bericht

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