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Nadio Giger. 2015. Generative Varietätengrammatik. Am Beispiel der Nominativ-Akkusativ-Variation im Schweizerhochdeutschen (Stauffenburg Linguistik 86). Tübingen: Stauffenburg. 371

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Academic year: 2022

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Nadio Giger. 2015.Generative Varietätengrammatik. Am Beispiel der Nominativ-Akkusativ-Variation im Schweizerhochdeutschen(Stauffenburg Linguistik 86). Tübingen: Stauffenburg. 371S.

Besprochen vonPeter Öhl:Bergische Universität Wuppertal, Gaußstr. 20, D-42119 Wuppertal, E-Mail: oehl@gesus-info.de

https://doi.org/10.1515/zrs-2017-0004

Wie der Titel dieses aus einer Dissertation an der Universität Zürich hervorgegan- genen Buchs bereits andeutet, strebt es drei grundsätzliche Ziele an: Erstens soll eine bestimmte Art der grammatischen Variation, nämlich die systematische Ver- wendung des strukturellen Kasus Nominativ (NOM) anstelle des strukturellen Akkusativs (AKK) in dafür spezifischen Kontexten, als Phänomen erklärt werden.

Dieses wird, zweitens, als beispielhaft für Merkmale bestimmter Varietäten der deutschsprachigen Schweiz veranschaulicht, die zwar nicht normstandard- sprachlichen Status genießen, sich jedoch durch überregionale Gemeinsamkeiten wie diese unterSchweizerhochdeutsch (im soziolinguistischen Sinne standardi- sierter Varietäten; Begriffe werden hier durchgehend wie im Original kursiviert) zusammenfassen lassen. Drittens soll diese Erklärung im Rahmen der Generati- ven Grammatik (GG) erfolgen, die vom Autor als dafür besonders geeignet ange- sehen wird, da sie sowohl universelle Eigenschaften des Sprachsystems als auch dessen individuelle Ausprägung zum Gegenstand hat.

Als illustrierendes Beispiel für das Phänomen wird eingangs in Anlehnung an einen Beleg aus dem Zürcher Tages-Anzeiger (28.07.07; S.37) folgender Satz gegeben:„Ihr Coup bedeutet der bislang grösste Moment im Schweizer Schwimm- sport.“(S.19). Im Anschluss werden folgende Kernfragen formuliert (ebd.):

In welchen Phänomenbereichen findet sich im geschriebenen Schweizerhochdeutsch ein Nominativ anstelle eines Normstandard-Akkusativs? Wie lässt sich die Grammatikalität solcher Nominativ-Varianten generativ erklären? Welche varietäre Kompetenz von Schrei- bern innerhalb der deutschsprachigen Schweiz wird so zum Ausdruck gebracht? Und: Wie lässt sich Generative Grammatik überhaupt als eine Theorie auffassen, die Grammatikkom- petenz in Bezug auf dieVarietäteneiner Einzelsprache erfasstals eigentlicheVarietäten- grammatikalso?

Somit besitzt die Arbeit drei Dimensionen: eine grammatische, eine varietätenlin- guistische und eine generative; die Untersuchung basiert auf Daten aus einem

„Korpus von rund 1.000 Belegen aus dem Schweizerhochdeutschen“, wobei nicht die quantitative, sondern die qualitativ-theoretische Analyse im Mittelpunkt steht (S.14).

Open Access. © 2017 Peter Öhl, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

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Die Arbeit ist in zwei weiter untergliederte Themenblöcke geteilt; im ersten Teil werden die theoretischen, varietätenlinguistischen und grammatischen Grundlagen erläutert (Grundannahmen der Generativen Grammatik; die DP-Theo- rie; Generative Grammatik als Varietätengrammatik; Varietäten der deutschspra- chigen Schweiz; Phänomen Kasus); der zweite Teil behandelt die vorgenomme- nen Untersuchungen zur Variation von NOM und AKK („Kongruenzkasus- Konstruktionen“; Appositionen; qualifizierende Adjektive mit Maßbezeichnun- gen; Kasusformenvariation). Fazit und Ausblick, Bibliographie, Abbildungsver- zeichnis und Quellenverzeichnis der Sprachbelege schließen das Buch ab.

Zum Inhalt der einzelnen Kapitel

Teil1,„Fundierung“, beginnt mit dem Kapitel„Grundannahmen der Generativen Grammatik“. Zunächst werden die BegriffeKompetenzundPerformanzdiskutiert und zu den strukturalistischen Termini Langue und Parole in Bezug gesetzt, deren wesentliche Merkmale sich in den kognitivistischen, nativistischen und individualistischen Grundannahmen der GG wiederfinden: Während dieLangue den aufgrund angeborener Fähigkeiten individuell erworbenen Sprachkenntnis- sen entspricht, die man in der GG Kompetenznennt, verweist der BegriffPer- formanz auf den „konkreten Sprachverwendungsmoment“(S.20), der sich bei de Saussure im Bereich derParolebefindet. Als nächstes werden die Komponen- ten des grammatischen Regelsystems in der GG beschrieben, wobei sich der Autor weitgehend auf Gallmann (1990) bezieht. Das verwendete generative Modell ist an das der Prinzipien & Parameter (Chomsky 1981 etc.) angelehnt, nicht an den Minimalismus der 90er Jahre (vgl. Chomsky 1995 etc.) oder an neuere Entwicklungen wie die Phasentheorie (Chomsky 2001 etc.), auf deren Neuerungen nur knapp hingewiesen wird. Diese Strategie scheint insofern legi- tim, als die technischen Feinheiten, die die Modelle unterscheiden, für die Erklärung des behandelten Phänomens nicht ausschlaggebend sind und diesen auch nicht widersprochen wird. Giger erklärt die Subkomponenten des generati- ven Systems (Lexikon, Syntax, PF und LF; S.22), die auch noch in der heutigen GG grundlegend sind, und veranschaulicht die Interaktion von Lexikon und Morphosyntax anhand von Derivation, Komposition und Flexion des syntakti- schen Wortes„LangschläfernN(Dativ Plural)“(S.30), wobei er sich wieder eng an Gallmann (1990) anlehnt. Gallmann (1990) bildet auch die Grundlage für weitere Ausführungen zur Syntax, wie z.B. bewege α, Barrieren,Θ-Rollen,Kasuszuwei- sung, Kommando-Beziehungen, Rektion und auch Bindung. Hier hätten m.E.

einige Ausführungen weggelassen werden können, die in neueren Modellen nicht mehr angenommen werden und die für die hier angestrebte Erklärung

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nicht wesentlich sind. Jedoch stellt dieser Abschnitt, wie auch das darauffolgen- de Kapitel über die DP-Theorie, eine gelungene Zusammenfassung der Thesen von Gallmann (1990) dar, die vor dem Hintergrund der GB-Theorie entworfen wurden und die, entsprechend modifiziert, auch im minimalistischen Rahmen umgesetzt werden könnten. Eine solche Weiterführung wird in dieser Arbeit jedoch nicht thematisiert.

Bevor der Autor mit der Vorstellung der DP-Analyse beginnt, werden als Grundlage für spätere Ausführungen die Grundannahmen des P&P-Modells mit der Optimalitätstheorie (OT) in Beziehung gesetzt, biologische (nature) und kul- turelle (nurture) Komponenten von Sprache verglichen sowie die semantische und pragmatische Kompetenz vor einem generativen Hintergrund beleuchtet (wiederum in Bezug auf die Saussure’schen BegriffeLangueundParole). Wichtige Ergebnisse in Hinblick auf weitere Diskussionen sind die individuellen Ausprä- gungen vonLangueundParole(„individuelle Langue“; S.55), die biologischund kulturell geprägt sind, sowie die Evaluator-Komponente, die durch die OT zur GG hinzugekommen ist.

Kapitel 3, „Die DP-Theorie“, stützt sich wiederum auf Gallmann (1990), dessen Theorie der kategoriell komplexen Wortformen Grundlage der später folgenden Kasus-Analyse ist. Auf Abney (1987), der hier zwar erwähnt, aber nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt ist, wird ebenso wenig Bezug genommen wie auf einschlägige Arbeiten von Olsen (z.B. 1991) oder Haider (1992) zur DP im Deutschen. Diese sind zwar für die weiteren Ausführungen nicht unbedingt relevant, könnten aber an dieser Stelle sehr wohl erwartet werden. Nach ein- schlägigen Hinweisen auf die Parallelität funktionaler Kategorien im Nominal- bereich (D-Elemente) zu denen im Satz (C- bzw. I-Elemente) wird die morphologi- sche Selektion durch D erklärt (S.63), die nach Gallmann (1990) aufgrund komplexer Kategorievererbung in manchen Fällen zu komplexen Wortformen führen kann:Pronomen(D/N) undArtikelwörter(D/A). Hierauf aufbauend können Generalisierungen wie die folgende gewonnen werden:

Kasus-Übertragungsregel: Die Komponente D kann Kasusmerkmale nur dann auf die Komponente N übertragen, wenn D/N Teil einer Wortform mitadjektivischerKomponente ist.(S.90; nach Gallmann 1990: 236)

Dies wird an folgenden Beispielen veranschaulicht (Nummerierung wie im Origi- nal):

(77) [DP1ein Orchester [PPohne [DP2einen Dirigent-en ] ] ] (78) [DP1ein Orchester [PPohne [DP2Dirigent ] ] ]

(79) *[DP1ein Orchester [PPohne [DP2Dirigent-en ]Singular] ] (80) [DP1ein Orchester [PPohne [DP2Dirigent-en ]Plural] ]

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Während das Pluralaffix ohne Artikelwort unabhängig lizenziert ist (80), scheint das Kasusaffix von der Präsenz eines Artikelworts (also einer Kategorie D/A) abzuhängen. Gallmann (1990: 326) spricht hier von„Kasusindifferenz“.

Kap. 4 diskutiert die Frage der GG als Varietätengrammatik, dies ausgehend von einer allgemeinen Betrachtung der TerminiSprache,VarietätundVariation (S.97ff.), wo wiederum auf die Begriffe der Langueund derKompetenz Bezug genommen wird. Ebenso werden unterschiedliche Arten von Varietäten (bzw.

Lekte), nämlichDialekteundSoziolekte, aber auchIdiolekte, den sog.Standard- varietäten, Leitvarietätenoder auchDachsprachengegenübergestellt. Diese iden- tifiziert der Autor als Elemente einer Langue wie auch als Elemente der Sprecher- kompetenz. Somit können grammatische Varianten (wie auch andere Arten sprachlicher Variablen) Merkmale von Varietäten der Sprecherkompetenz darstel- len, die generativ zu modellieren sind. Ebenso wird der gängige Irrtum diskutiert, dass die in der GG aus Gründen der Abstraktion oft vorgenommene Idealisierung des Sprechers/Hörers zugunsten einer homogenen Grammatikanalyse die Erklä- rung von Varianten erschwere; der Autor schlägt eine„schwache Homogenitäts- annahme“vor, die sich auf eine gemeinsame Kerngrammatik der Varietäten einer Einzelsprache beziehen soll (S.109). Bezogen auf das sprachliche Wissen des individuellen Sprechers lässt dies die Produktion von Varianten in der Perfor- manz eben dann zu, wenn diese Varianten zu dessen sprachlichem Wissen gehören. Verschiedene Ansätze generativer Varietätengrammatik werden dis- kutiert (u.a. CES – coexistent systems; Kanngießer 1972) und schließlich das Konzept makro- und mikroparametrischer Variation (u.a. Baker 2001) ausführlich dargestellt. Giger räumt ein, dass diese Betrachtung der Variation stark vom minimalistischen Programm geprägt sei, wo diese Parameter auf eine größere Anzahl funktionaler Kategorien bezogen werden können als im CP-IP- bzw. DP- Modell der GB-orientierten GG. Seine Entscheidung, die Modellierung nicht im minimalistischen Rahmen vorzunehmen, begründet er damit, dass nur im GB- Rahmen Fragen wie die für ihn zentrale Kasuszuweisung einen Schwerpunkt bilden (S.121). Durch eine Diskussion des minimalistischen Konzepts der inter- pretierbaren und nicht-interpretierbaren Merkmale (zu Letzteren gehören auch die strukturellen Kasus NOM und AKK) wird jedoch gezeigt, dass der hier ver- folgte Ansatz mit minimalistischen Annahmen kompatibel ist. Nach der Ver- anschaulichung der mikroparametrischen Variation anhand einschlägiger Bei- spiele wird in einer kurzen Vorausschau demonstriert, wie diese Variation in einem Modell mit Kasuszuweisung auf die Alternation von NOM und AKK als Kongruenzkasus bezogen werden kann.

Kap. 5 geht auf die Dialektlandschaft der deutschsprachigen Schweiz ein, wobei zunächst eine grobe Unterteilung in kodifizierten Standard, Gebrauchs- standard und Nonstandard (S.137ff.) erfolgt. Wieder wird auf die GG einge-

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gangen und gezeigt, dass die Möglichkeit der Bildung einer Einzelsprache zwar in der UG angelegt ist, nicht aber deren Ausprägung; insbesondere durch die Parameterhierarchie sei die Koexistenz von Varietäten bzw. von Varianten, die jene manifestieren, im sprachlichen Wissen sogar wahrscheinlich. Kodifizierung bzw. Konventionalisierung eines Gebrauchsstandards schränkt diese ein und definiert auch diejenigen Varianten, die vom Standard abweichen: „Der Non- standard lässt sich also in einem ersten Schrittex negativodefinieren“(S.152).

In Anlehnung an Dürscheid & Businger (2006) wird nun gezeigt, wie in der für die Deutschschweiz prägenden Polyglossiesituation die Interferenz dialektaler und diastrataler Varietäten zu verschiedenen Ausprägungen Schweizer Um- gangssprache im „schweizerhochdeutschen Kontinuum“ führt: standardferne schweizerhochdeutsche Umgangssprache, standardnahe schweizerhochdeutsche Umgangssprache, schweizerhochdeutscher Gebrauchsstandard und schließlich deutschschweizerischer Normstandard. So wie horizontale Interferenzen zu über- regionalen Umgangssprachen führen können, gibt es bidirektionale vertikale Interferenzen, durch die sich die verschiedenen Ebenen des Schweizerhochdeut- schen gegenseitig beeinflussen. Die hier behandelte Kasusvariation lässt sich in allen Varietäten des Schweizerhochdeutschen finden, außer im kodifizierten Standard.

Im letzten Kap. von Teil1 wird nun noch auf das Phänomen Kasus im All- gemeinen eingegangen. Zunächst werden in Anlehnung an Dürscheid (1999) die verschiedenen Dimensionen des Kasusbegriffs unterschieden: grammatische Ka- tegorienklasse, Kasusform, grammatische Einheit (i.e. eine kasusmarkierte Phra- se); als nächstes wird der Begriff des abstrakten Kasus diskutiert, und zwar insbesondere in Hinblick aufkoverte Kasusmarkierung(i.e. fehlende morphologi- sche Kennzeichnung) undKasusindifferenz(z.B. im Falle von [DP1ein Orchester [PPohne [DP2Dirigent ] ] ], s.o.S.78). Nicht ganz einleuchtend erscheint hier die Aussage, Sprachen würden sich in der Anzahl abstrakter Kasusunterscheiden (S.175). Hier nimmt der Autor Bezug auf Blake (1994) sowie Haspelmath (2009) und das Konzept dercore casesundperipheral cases, wobei sich Letztere dadurch auszeichnen, dass sie„nicht nur grammatisches Merkmal sind, sondern gleich- zeitig auch in Bezug zu (...) einer thematischen Rolle stehen“(ebd.). Gerade die Tatsache, dass sich im Sprachvergleich vor allem Letztere als entweder morpho- logisch oder syntaktisch, durch Partikeln bzw. Präpositionen, markiert heraus- stellen, zeigt doch, dass es nicht die Anzahl abstrakter Kasus sein kann, durch die sich die Sprachen unterscheiden, sondern lediglich die Anzahl morphologischer Kasus. Diese Frage ist jedoch nicht von Belang für die Richtigkeit der hier weiter- verfolgten Unterscheidung von semantisch interpretierbaren und nicht-interpre- tierbaren Kasus; zu den Letzteren gehören die bei Giger behandelten strukturell vergebenen Kongruenzkasus in der DP, die weder der Markierung der syntakti-

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schen Funktion (S.198ff.) noch der thematischen Rolle (S.203ff.) noch der Fokus- Hintergrund-Gliederung (S.213ff.) dienen.

Um zu Teil2 der Arbeit überzuleiten, bespricht Giger die für die folgende Analyse relevante Default-Kasuszuweisung sowie die Grundlagen der Kasusvaria- tion. Im Deutschen ist der Kasus NOM derjenige, der zum einen sowohl formal als auch funktional am wenigsten markiert ist, des Weiteren dann verwendet wird,

„wenn weder ein struktureller noch ein inhärenter, semantischer oder Kongru- enzkasus auftritt“(S.221). Dies ist nicht in allen Sprachen gleich–im Englischen ist dies z.B. der AKK (Me, I like beans., S.222; vgl. Schütze 2001:210). Giger spricht hier von einer Kasus-Selbstzuweisung: „Quelle des DefKas ist der funktionale D°-Kopf. Er trägt ein Merkmal [DefKas] und fungiert als Kasuszuweiser an seine maximale Projektion DP.“(S.227)

(192) DefinitionDefault-Kasus (DefKas)(S.229)

DefKas ist ein abstrakter Kasus der Sprache Lx. Sein strukturelles Merkmal ist es, dass er in Form von Kasus-Selbstzuweisung von D° an DP übertragen wird gdw. der DP von außen kein anderer Kasus zugewiesen wird. Kategoriell wird er durch einen bereits vorhandenen Kasus der Sprache Lxrepräsentiert. Die Möglichkeit zur Ver- wendung von DefKas ist ein UG-Prinzip (...) (und) unterliegt einzelsprachlicher Pa- rametrisierung.

Diese etwas umständlich und wenig formell wirkende Definition trifft doch recht präzise, was man unter einem Default-Kasus verstehen kann. Im Folgenden wird dieTypologie der Kasusvariationaus Dürscheid & Giger (2010:171; nach Jacobs 2007:45) aufgenommen:

(193) Typen von Kasusvariation(S.232) (a) disambiguierende Variation (b) konstruktionsbedingte Variation (c) freie Variation

(d) systembedingte Variation

Disambiguierende Variation gibt es z.B. bei sog. Wechselpräpositionen (RRI C H T U N GI C H T U N G

vs. OOR TRT); konstruktionsbedingte Variation tritt in Fällen wie Beispiel (78) (s.o.) auf (Kasusindifferenzim Falle einer DP ohne„adjektivischen Katalysator“; S.233). Als Beispiel für freie Variation wird hier die manchmal optional verwendete Dativ- markierung nach Präpositionen genannt (für einen Dirigent(en)). Systembedingte Variation liegt schließlich vor, wenn sie Merkmal von Varietäten eines Systems ist.

Teil2,„Untersuchungen zu Nominativ und Akkusativ“(im Schweizerhoch- deutschen), beginnt nun mit der Analyse von Kongruenzkasuskonstruktionen und widmet sich insbesondere den Fragen, ob es sich lediglich um Kasusformen-

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variation handeln könnte oder ob die Variation der Kasuskategorie vorliegt–was wiederum nach strukturbedingtem NOM oder DefNom (= Default-Nominativ) zu differenzieren wäre. Erstere Frage ist bezüglich der NOM-AKK-Variation insbeson- dere deshalb relevant, weil in der Literatur wiederholt festgestellt wurde, dass in bestimmten Varietäten des Schweizerdeutschen die formale Unterscheidung von NOM und AKK aufgegeben worden sei. Dass dies generell der Fall wäre, wird von Giger jedoch zurückgewiesen, da in den betreffenden Phänomenbereichen so- wohl semantische als auch pragmatische Funktionen dieser Variation festzustel- len seien. Im Normstandard tritt Kongruenzkasusvariation in AcI-Gefügen und in als-Konjunktionalphrasen auf (S.242f.):

(202) Sie lässt [DP1ihn]AKK[DP2ihren Freund]AKK/ [DP2ihr Freund]NOMsein.

(203) Er empfindet sich als [DP2guter Freund]NOM/ [DP2guten Freund]AKK

Im schweizerhochdeutschen Gebrauchsstandard (wie auch in der Umgangsspra- che) findet sich zudem Variation bei Objektsprädikativen (auch beials‑Objekts- prädikativen)sowie beials-Adverbialen undals-Appositionen, wie folgende Bele- ge zeigen (S.243):

(204) Man nennt ihn auch der kleine Amarone. (Speisekarte Hostellerie Geroldswil-Zürich, 8.5.08)

(205) Er betrachtet die Münchner als einer der Topfavoriten der Champions League (...).

(Tages-Anzeiger,Zürich, 17.12.11, S.68)

(206) Als kleiner Vorgeschmack erhalten Sie in der Beilage den aktuellen Top-Value Pro- spekt von HP. (Werbebrief, 23.04.02)

(207) (...) einen Holzbau, was ihn als ehemaliger Schreiner besonders freute.

(www.tagblatt.ch; 9.5.09)

In Anlehnung an Stowell (1981) und Basilico (2003) analysiert der Autor diese Konstruktionen alssmall clauses(SC), also als Phrasen mit propositionaler Inter- pretation ohne eigene vollständige Finitheitsspezifikation, deren Spezifikatoren und Komplemente via Kongruenz auch nach Bewegungsprozessen beide den Kasus tragen sollten, der dem SC entweder durch das übergeordnete I° (NOM) oder ein einbettendes Verb (AKK) zugewiesen wurde (S.250f.). Hierbei nimmt er Bezug auf die Diskussion des semantischen Beitrags der Kopula zur Interpretation des Gesamtausdrucks von Prädikativkonstruktionen (S.251) und das minimalisti- sche Konzept desfeature sharing(S.253) sowie auf die Diskussion vergleichbarer isländischer Daten in Anlehnung an Sigurðsson (1991). Das Kapitel über Kongru- enzkasuskonstruktionen endet mit einer recht interessanten Erörterung des Phä- nomens vor dem Hintergrund der Hypothese mikroparametrischer Variation, indem wiederum verschiedene Dimensionen der Standardisierung sowie das Vor-

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kommen der Kasusvariation in den Standardvarietäten verglichen werden (S.269ff.); hieraus folgert Giger das Wirken eines mikroparametrischen Merkmals [-KonKas] (kein Kongruenzkasus) als varietäre Konstruktionsbedingung.

Kap. 8 untersucht das Auftreten des Phänomens in Appositionen, zunächst in sog.lockeren Appositionen, deren syntaktische, semantische und auch prosodi- sche Besonderheiten anhand von Beispielen aus dem bundesdeutschen Standard demonstriert werden. Die Konstruktionen werden wiederum als SCs analysiert, diesmal mit PRO-Subjekten (S.285f.), und es erfolgt eine vergleichende Betrach- tung des Schweizerhochdeutschen, wo im Gegensatz zum Schweizer Standard auch in Appositionsphrasen mit Artikelwort Kasusvariation stattfinden kann.

(357) Der Regierungsrat wählt [...] Dr. Eugen Gruber, der bekannte Verfasser zahlreicher historischer Publikationen. (www.rav-zg.ch/index.php?id=19; 12.12.11)

Im Anschluss werden partitive Appositionen vom Typ zwei Tassen schwarzen Kaffees/von schwarzem Kaffee/schwarzen Kaffee untersucht, wo im Schweizer- hochdeutschen ebenfalls Variation herrscht (S.300):

(357) Also trank ich mit Vergnügen eine Tasse heißer Tee im Pass-Restaurant.

(www.schleppi.ch/patrick/cycle/tours/t1995-de.htm; 1.1.15)

Wiederum erfolgt eine SC-Analyse unter Annahme eines mikroparametrischen Merkmals [-KonKas] als varietärer Konstruktionsbedingung (S.301).

Kap. 9 beschäftigt sich hierauf mit qualifizierenden Adjektiven mit Maß- bezeichnungen, für die eine kompositionelle Analyse vorgeschlagen wird (S.305).

(370) Propositionale Struktur vonDer Würfel ist einen Kubikmeter groß:

Proposition 1:Der Würfel ist groß.

Proposition 2:Dabei ist/beträgt seine Größe einen Kubikmeter.

Hierdurch eröffnet sich wieder die Möglichkeit der SC-Analyse, bei der Kasus- variation als Konstruktionsvariation betrachtet werden kann.

(386) Die etwa ein Meter hohe Ballerina aus Bronze trägt [...].(www.nzz.ch, 2.11.11)

Hier schließt sich die Analyse einer im schweizerhochdeutschen Gebrauchsstan- dard ebenfalls auftretenden Kasusformenvariation an (Kap.10), die direkte Ob- jekte betrifft:

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(402) Mit Evdokia Kadi schickt Zypern ein wahrer Vamp an den ESC. (www.20minuten.ch;

23.5.08)

Es erfolgt eine Erklärung mit Bezug auf dieΘ-Theorie sowie auf informations- strukturelle Merkmale: Der Autor versucht zu zeigen, dass diese Formenvariation dann auftritt, wenn ein direktes Objekt auch Proto-Agens-Merkmale im Sinne von Dowty (1991) trägt (S.326) und/oder wenn dadurch Defokussierung angezeigt wird (S.330). Zuletzt erfolgt in diesem Kapitel eine OT-Analyse von Varianten partiell‚nominativischer‘AKK-DPs folgenden Typs:

(435) Einen guter Ratgeber für den Anfänger habe ich mit dieser Internetadresse gefunden.

Der Gewinn dieses Kapitels ist ganz offensichtlich, dass weitere Phänomenberei- che, in denen Kasusvariation vorkommt, zwar nicht alsKategorienvariationzu erklären sind, sich jedoch durch unabhängige Erklärungen motivieren lassen.

Somit ist die Kasusvariation im Schweizerhochdeutschen nicht einfach grund- sätzlich freie Variation der strukturellen Kasusformen oder gar Anzeichen für den Verlust der Unterscheidung von Subjekts- und Objektskasus, sondern ein ober- flächlich zwar einheitliches Phänomen, das jedoch in verschiedenartigen Kon- struktionen auftritt, für die es jeweils unterschiedliche strukturelle Erklärungen geben kann.

Insgesamt lässt sich festhalten: Das Ziel, die NOM-AKK-Variation als Eigen- heit der überregionalen Schweizer Varietät Schweizerhochdeutsch im Rahmen der GG zu erklären, ist m.E. in dieser Arbeit erreicht worden. Der Autor argumen- tiert schlüssig dafür, dass in diesen Varietäten nicht einfach die Unterscheidung zwischen den beiden strukturellen Kasus verloren geht. Vielmehr ist in Form von mikroparametrischer Variation konstruktionsspezifisch zum einen die Realisation der Kongruenzkasusmerkmale in anderer Weise eingeschränkt als in der Stan- dardvarietät; zum anderen gibt es, wie im Fall der Verwendung des Nominativs als Komplementkasus, davon unabhängige Erklärungen für die Variation. Zwar kann man hinsichtlich verschiedener Analysen anderer Ansicht sein (so ist z.B.

die SC-Analyse für die hier besprochenen Kongruenzkasus-Konstruktionen nicht unabhängig als die geeignetste, vereinheitlichende Strukturanalyse motivierbar), doch ist der Ansatz originell, innovativ und im Großen und Ganzen sorgfältig und schlüssig begründet und stützt sich (wenngleich, wie oben angemerkt, bisweilen nicht ganz umfassend) auf die einschlägige Literatur zu den jeweiligen Teilaspek- ten. Die Arbeit ist informativ und ansprechend ausgearbeitet; in jedem Fall wird sie für alle, die sich mit den Themen Varietätengrammatik, Plurizentrik, parame- trische Variation und Nominalsyntax befassen, eine gewinnbringende Lektüre sein.

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