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3 Der soziale, räumliche und kulturelle Kontext der Graffiti

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3 Der soziale, räumliche und kulturelle Kontext der Graffiti

Nach der Einordnung des Materials und den Grundlagen dieser Arbeit skizziert dieses Kapitel das Umfeld, in dem das Graffitischreiben als Kulturphänomen angesiedelt ist.

Es gibt Einblicke in die Sozialstrukturen, Architekturen und kulturellen Praktiken, in deren Kontext die Graffiti entstanden sind und die damit auch den Rahmen für unser Verständnis dieser Inschriften bilden. Das Kapitel soll dem Leser deduktiv die gene- rellen Voraussetzungen des Graffitischreibens als notwendiges Hintergrundwissen vermitteln, während in den nachfolgenden Kapiteln induktiv, aus dem Material selbst heraus, Rückschlüsse auf die konkreten situativen Voraussetzungen gezogen werden.

Die Gesellschaft Pompejis und ihre Hierarchien, der unmittelbare physische Raum, der die Graffiti umgibt, die Funktion des Schreibens und die Wirkung von Geschrie- benem, die Formen und Verbreitung von Literalität sind jeweils für sich betrachtet Themen, die einer eigenen Arbeit wert wären und auch schon viele Monografien hervorgebracht haben. Dieses Kapitel stützt sich deshalb im Wesentlichen auf schon bestehende Forschungsergebnisse, bettet darin aber eigene Überlegungen zur Situie- rung der Graffiti in dem skizzierten Kontext ein. Im Vergleich zu den vorangehenden mag das vorliegende Kapitel etwas überproportioniert erscheinen, was jedoch dem Umfang der Themenkomplexe geschuldet ist. Gemäß der Überzahl geritzter Texte gegenüber Zahlen und Bildern liegt der Schwerpunkt mit den Kapiteln 3.2 und 3.3 auf der Produktion und Rezeption von Text bzw. Schrift. Graffitizeichnungen, deren Motive größtenteils dem unmittelbaren Lebensraum entstammten, verlangten, auch wenn sie durchaus von Sehgewohnheiten und ikonografischen Konventionen beein- flusst waren, im Gegensatz zu den narrativen Darstellungen anderer Bildgattungen keine spezifischen Vorkenntnisse. Während Kapitel 3.2 sich auf die Bedeutung des Schreibens und die visuelle (äußere) Wirkung von Inschriften konzentriert, geht es in Kapitel 3.3 um die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens als Voraussetzungen für die Produktion und (inhaltliche) Rezeption von Inschriften.

3.1 Architektur und Ausstattung, Bewohner und Besucher der domus

Die domus bildet den unmittelbaren räumlichen Kontext, in dem die Graffiti für die vorliegende Arbeit untersucht wurden. Es schien deshalb angebracht, an dieser Stelle auf ihre baulichen und sozialen Strukturen einzugehen, bevor es an die Fallstudien geht. Der Begriff domus wird hier mit dem pompejanischen Stadthaus gleichgesetzt

© 2018 Polly Lohmann, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der CreativeCom- mons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110574289-003

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und als Bezeichnung für sämtliche untersuchten Wohnkontexte verwendet.232 Es existieren zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die sich zum einen dem physischen Raum, d. h. der Architektur und Ausstattung römischer Wohnhäuser, zum anderen sozialhistorischen Fragen nach der Interaktion von Hausbewohnern, Besuchern und Gästen, den täglichen Arbeitsabläufen und Bewegungsmustern im Haus widmen.

Aufgrund seines Materialreichtums ist Pompeji Hauptgegenstand der meisten dieser Untersuchungen.233 In den 1980er Jahren bildete sich die (römische) Wohnforschung als eigenständige Forschungsrichtung innerhalb der klassischen Altertumswissen- schaften heraus, indem mit den Arbeiten Wallace-Hadrills anstelle der Klassifizie- rung der baulichen Strukturen und Dekorationsschemata vermehrt Nutzungsformen und Bewegungsmuster, die Verortung verschiedener Aktivitäten und Personengrup- pen innerhalb des Haushalts ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten.234 Anders formuliert: Man versuchte das Wohnhaus nicht mehr als reinen Behälter, sondern auch als belebten Raum zu verstehen. Methodisch griffen dabei viele Arbeiten auf die Architektur- bzw. Raumsoziologie zurück, die auf dem Verständnis der Interak- tion von Mensch und Umwelt basiert und die wechselseitige Beeinflussung des phy- sischen Raums und der sich in ihm bewegenden Personen untersucht. Heute hat sich für diese methodische Neuausrichtung der Begriff des spatial turn etabliert.235 In der domus liegt die Komplexität der Verflechtung von gebautem und sozialem Raum in dem Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten, der Verbindung von priva- ter und öffentlicher Sphäre sowie der Interaktion unterschiedlicher Personengrup- pen begründet.

Wenn in der Forschungsliteratur von pompejanischen Wohnhäusern oder domus die Rede ist, werden damit üblicherweise Atrium- oder Peristylhäuser beschrieben, die aufgrund ihrer Größe und der Qualität ihrer Ausstattung auf gewisse finanzielle Kapazitäten ihrer Besitzer schließen lassen. In seinem sechsten Buch von De architec- tura beschreibt Vitruv den kanonischen Aufbau solcher Wohnhäuser;236 dennoch weichen die pompejanischen Häuser aus finanziellen und Platzgründen von seinem

232 Vgl. Dickmann 1999, 21.

233 Die Interessenverschiebung vom urbanen Raum, von öffentlichen Monumenten hin zum Wohn- raum kann sicherlich nicht losgelöst von den sozialpolitischen Entwicklungen Westeuropas in den 1960er und 1970er Jahren betrachtet werden, die auch ein verstärktes Interesse an gesellschaftlichen Randgruppen wie Sklaven, aber auch Kindern und Frauen zur Folge hatte. Vgl. Dickmann 1999, 15 f.

234 Wallace-Hadrill 1988; id. 1994. Z. B. Clarke 1991; Laurence 1994; Laurence/Wallace-Hadrill 1997;

Nevett 1997; George 1997; Dickmann 1999; Hales 2003; Allison 2004; Hodske 2007; Lorenz 2008.

235 Vgl. z. B. Dickmann 1999, 18 über „Architektur […] als räumliche Struktur eines Hauses, die Be- dürfnisse der Bewohner widerspiegelt und Nutzungsformen beeinflusst.“ Für die Definition der Ar- chitektursoziologie s. Schäfers 2010, 30: „Architektursoziologie untersucht die Zusammenhänge von gebauter Umwelt, sozialem Handeln und den dominanten Sozialstrukturen […]. “ Zum weiten Begriff des sog. spatial turn bzw. zu den spatial turns verschiedener Wissenschaftsdiziplinen s. z. B. den Sam- melband Döring/Thielmann 2008.

236 Zur Bewertung Vitruvs in der Forschung s. knapp zusammenfassend Wallace-Hadrill 2007, 279 f.

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idealen Bauschema ab. Meist musste man sich mit dem zur Verfügung stehenden Baugrund in einer bereits parzellierten insula zufrieden geben, doch zeigen Zumau- erungen und Durchbrüche, dass Häuser – je nach akuter finanzieller Situation ihrer Bewohner – nachträglich erweitert oder verkleinert wurden. Die vorliegende Arbeit differenziert deshalb, basierend auf den Kategorisierungen Wallace-Hadrills, vier ver- schiedene Typen nicht-öffentlicher Gebäude (Tab. 1):237

Tab. 1: Typen nicht-öffentlicher Gebäude.

Typ 1 Klein <50 m2, 1–2 Räume,

z. B. Werkstatt oder Laden mit oder ohne Wohnstätte.

Typ 2 Mittelgroß 50–170 m2, 2–7 Räume,

z. B. größere Werkstatt oder Laden mit oder ohne Wohnstätte.

Typ 3 Groß 170–350 m2, 5–13 Räume,

z. B. Wohnhaus mit einem Atrium oder Peristyl.

Typ 4 Sehr groß >350 m2, >13 Räume,

z. B. Wohnhaus mit Atrium und Peristyl oder zwei Atrien.

Die Kategorisierung bezieht sich auf die Größe und Form der architektonischen Ein- heiten in der letzten Phase vor dem Vesuvausbruch, wie wir sie kennen und wie sie für die Untersuchung der Graffiti, die größtenteils aus dieser Phase stammen bzw.

die in dieser Phase vorhanden waren, relevant ist.238 Die vier Typen sind v. a. für die Gesamtauswertung (Kap. 5) von Nutzen, in der Anzahl, Inhalte und Anbringungsorte von Graffiti in Gebäuden verschiedener Größe verglichen werden; als Fallbeispiele (Kap. 6) konnten dagegen nur mehrere „große“ und „sehr große“ domus (Typen 3 und 4) dienen, die bei der Ausgrabung als schützenswert erachtet wurden und noch heute in einem Zustand sind, der die Untersuchung von Graffiti in situ zulässt. Klei- nere Wohneinheiten oder Werkstätten und Läden mit weniger qualitätvollen Dekora- tionen wurden i. d. R. nicht adäquat konserviert.239

237 Wallace-Hadrill 1994, 81–83. Die hier beigefügten Beschreibungen nennen nur typische Nut- zungsformen, die aber nicht auf alle Gebäude des jeweiligen Typs zutreffen müssen. Vgl. auch Viita- nen/Nissin/Korhonen 2013, 66 Tab. 1 mit Modifizierungen dieses Schemas.

238 Es liegt in der Natur der Sache, dass Graffiti, die aus früheren Bau- und Dekorationsphasen stammen, selten erhalten sind, weil sie entweder im Zuge von (antiken) Restaurierungsmaßnahmen zerstört oder bei Neudekorationen überdeckt wurden. Ausnahmen sind im Hanghaus 2 in Ephesos zu sehen, wo die letzte Putzschicht stellenweise heruntergebrochen ist und den Blick auf frühere – z. T.

bis zu acht verschiedene – Dekorationsphasen und Graffiti freigibt (s. z. B. Zimmermann/Ladstätter 2010, 80 f.).– Zur Architekturgeschichte römischer und im Speziellen zur Entstehung kampanischer Atrium- und Peristyl-Häuser s. u. a. Wallace-Hadrill 1997; id. 2007; Dickmann 1999.

239 Langner 2001, 121. Ausnahmen sind z. B. die fullonica des Stephanus (I 6,7) und die caupona in der Via di Mercurio (VI 10,1); dazu Ritter 2011 und u. Kap. 7.3.1, S. 206–208.

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Bereits die Fallbeispiele dieser Arbeit zeigen deutlich, wie weit sich die Realität von Vitruvs Idealhaus unterschied und wie verschieden die jeweils individuellen Lösungen im Umgang mit dem vorhandenen Platz waren (s. Abb. 37, 43, 49, 54, 59, 64): Die sechs domus, die zwischen dem späten 3. und dem 2. Jh. v. Chr. entstan- den, mussten sich in den insulae zwischen schon bestehenden Gebäuden einrichten.

Sie besitzen zwar alle, mit Ausnahme der Casa dei Ceii, die typische Raumfolge aus Fauces, Atrium und Tablinum,240 doch musste deren architektonische Anlage auf den jeweils vorgegebenen Baugrund Rücksicht nehmen: Während die Räume in der Casa del Menandro und der Casa di Paquius Proculus achsensymmetrisch hinterein- ander gestaffelt sind, sind das Atrium und Tablinum der Casa di M. Lucretius Fronto gegenüber dem auch noch schiefwinkligen Eingang leicht nach Norden versetzt; in der Casa delle Nozze d’argento und der Casa degli Amorini dorati schließlich weicht das Tablinum von der Fauces-Atrium-Achse ab. Die vier größeren Häuser besitzen jeweils ein Peristyl mit vierseitig umlaufender Portikus, an die weitere Räume grenz- ten, wohingegen man sich in der Casa dei Ceii und der Casa di M. Lucretius Fronto auf ein kleines Viridarium beschränken musste, in dem man mit Hilfe von Paradei- sosbildern eine gartenähnliche Atmosphäre zu evozieren versuchte und das man im ersten Fall mit einem kleinen Wasserlauf, im zweiten Fall mit einer einseitigen Por- tikus ausstattete.241 Die Casa del Menandro und die Casa delle Nozze d’argento ver- fügen als die größten Häuser unter den Fallstudien über eigene kleine Thermen und neben dem Peristyl über ein zweites Gartenareal; sie sind auch die einzigen der sechs domus, deren Atrien von Räumen flankiert werden, während ansonsten kein Platz für Räume an beiden Längsseiten des Atriums war. Aber nicht nur die bauliche Glie- derung 79 n. Chr., auch die vorangehende Baugeschichte der sechs Häuser war ganz unterschiedlich. In der Casa del Menandro und der Casa degli Amorini dorati verleibte man sich sukzessive Teile benachbarter Häuser – oder ganze Häuser – ein, so dass der eigene Wohnraum schrittweise verändert und um Peristyle mit repräsentativen Dreiraumgruppen erweitert wurde; z. T. blieben die aufgekauften Nachbarhäuser im neuen Haushalt auch als separate funktionale Einheiten bestehen und fungierten z.

B. als Küchentrakt oder Verwalterhaus (?). Dagegen verkleinerte man sich in der Casa di Paquius Proculus und möglicherweise auch in der Casa delle Nozze d’argento vom Doppelatrium zu einem einfachen Atrium.242 In der Casa di M. Lucretius Fronto und der Casa delle Nozze d’argento öffnete man zwischenzeitlich die Fassade zur Straße hin, indem man tabernae einrichtete, die jedoch später wieder geschlossen wurden,

240 Für die Raumbezeichnungen wird hier, wenngleich es sich um lateinische Termini handelt, um der Einheitlichkeit willen die Großschreibung verwendet, weil manche der Termini (Atrium, Peristyl, Triclinium) üblicherweise ohnehin eingedeutscht werden.

241 Hales 2003, 136 f. vermutet hinter den Tierdarstellungen beider Häuser nicht nur eine Mode, sondern denselben Maler.

242 Die Casa del Menandro wurde wohl zwischenzeitlich zum Doppelatriumhaus erweitert, in der letzten Phase aber wieder auf ein Atrium reduziert.

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vielleicht weil die jeweils kleinen Seitenstraßen keinen lukrativen Kundenverkehr garantierten. Jenseits von Vitruvs Überlegungen also ging man ganz flexibel mit dem Baugrund um, erweiterte oder verkleinerte sein Haus, probierte sich mit kommerzi- ellen Nutzflächen, schuf großflächige Gartenanlagen oder versuchte, wo wenig Platz war, den Raum mittels gemalter Ausblicke und Naturräume illusionistisch zu erwei- tern.

Die baulichen Strukturen der domus bildeten den äußeren Rahmen für einen sozi- alen Mikrokosmos, der Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und sozialen Status’ vereinte: Ein römischer Haushalt umfasste nicht nur den Hausherrn, seine Frau, Kinder und eventuell andere Blutsverwandte verschiedener Generationen, sondern schloss auch Sklaven, Sklavinnen und Freigelassene mit ein, die unter dem- selben Dach wohnten.243 Selbstverständlich konnte die Personenzahl stark variieren und hing die Anzahl von Sklaven und Freigelassen vom Vermögen des Hausherrn und den räumlichen Kapazitäten ab. Die Bezeichnung familia wird hier – anders als der moderne Terminus Familie im traditionellen Sinne – nicht nur für miteinander bluts- verwandte, sondern für sämtliche in einem Haus wohnende Personen, also synonym für den Haushalt verwendet.

Alle Bewohner der domus waren in Arbeitsabläufe eingebunden, die nicht nur der häuslichen Organisation, sondern auch kommerziellen Tätigkeiten dienten:

Etliche, auch sehr große pompejanische Häuser besaßen integrierte Werkstätten, zur Straße hin geöffnete tabernae oder Stallungen, was aber keineswegs eine Abwertung des Wohnraums bedeutete, wie die Casa del Menandro und Casa degli Amorini dorati zeigen;244 und aus literarischen Quellen wissen wir, dass zumindest stadtrömische domini ihre Klienten zur morgendlichen salutatio in ihrem Haus empfingen.245 Zusätz- lich muss man sich in größeren Häusern wohl zu abendlichen Gastmählern geladene Gäste sowie tagsüber weitere Besucher vorstellen, die von Geschäftsfreunden des Hausherrn, Spielfreunden oder Hauslehrern seiner Kinder und Freundinnen der domina über Sklaven, die Nachrichten aus anderen Haushalten überbrachten, bis hin zu Händlern zur Anlieferung von Waren reichen konnten. Zum einen also verband die domus Wohn- und Arbeitswelt, zum anderen gingen nicht nur Haushaltsange- hörige, sondern auch Außenstehende wie Kunden, Klienten und Gäste ein und aus.

Neben den eigenen Räumlichkeiten (propria loca) müssten einflussreiche Männer deshalb auch Empfangsräume (communia loca) für ihre zahlreichen Besucher besit- zen, so Vitruv.246 Die domus war somit Schauplatz der Interaktion unterschiedlicher

243 Dickmann 1999, 41.

244 Wallace-Hadrill 1994, 139; Mouritsen 2015, 104. Tabernae konnten auch unabhängig vom Haus funktionieren, wenn sie Eigentum oder gemietete Immobilien Anderer waren (Pirson 1999, 53–56, 85 f.; zu fullonicae in Atriumhäusern vgl. Flohr 2013, 195–208).

245 Zuletzt ausführlich über die salutatio Goldbeck 2010.

246 Vitr. De arch. 6,5,1.

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Personengruppen und der Interaktion zwischen Drinnen und Draußen: obwohl durch hohe, fast fensterlose Außenmauern als eigener Mikroksomos baulich von der Außenwelt, dem Leben auf der Straße, abgegrenzt,247 wurde ein Teil des „öffentli- chen“ Lebens, Geschäftsbeziehungen und „social events“, in die domus hineinge- tragen. Plinius beschreibt die Wohnhäuser und die Atrien einflussreicher Männer deshalb als deren eigene kleine Fora für den Besucherempfang.248 Man kann dement- sprechend für das römische Wohnhaus nicht von einer Privatheit im modernen Sinne ausgehen;249 die Begriffe „privat“ und „Privatheit“ können zwar in Bezug auf den Haushalt, im Gegensatz zum „öffentlichen Raum“, der Stadt und dem Straßenleben außerhalb der domus, verwendet werden, jedoch nur in dem Bewusstsein, dass sich unser Verständnis von Wohnraum als einem exklusiven Rückzugsort von der antiken Lebenswelt unterscheidet.

In ihrer Größe, Form und Ausstattung spiegelte die domus den sozialen Status ihres Erbauers und Besitzers wider, sie war Prestigemarker, Heim und Ort der Selbst- darstellung; sie verband in ihrer Architektur und Dekoration individuellen Geschmack und modischen Zeitgeist mit Traditionsbewusstsein, und sie war Bühne für die Insze- nierung eigener Leistung und ruhmreicher Familienvergangenheit, die sich in aus- gestellten Ahnenbildnissen, Stammbäumen oder Trophäen artikulierte, wie in der berühmten „domus rostrata“ des Pompeius.250 Konnten beispielsweise die klaren schwarzgrundigen Malereien und der dunkle Fußboden im Atrium der Casa di M.

Lucretius Fronto eine elegante Ernsthaftigkeit vermitteln, luden detailreiche Pinakes im Tablinum zur genaueren Betrachtung ein und bot das bepflanzte Viridarium einen Ausblick in eine exotische Tierwelt. Und kommunizierten in der Casa del Fauno (VI 12) die im 1. Jh. n. Chr. schon altmodischen Malereien des Ersten Stils mit ihrem geschlos- senen Wandaufbau und den Imitationen blockhafter Marmorinkrustationen, die in den Fauces noch von einer stuckierten Tempelarchitektur gekrönt wurden, eine Wert- schätzung traditioneller Wohnausstattung,251 entschied sich der Besitzer der Casa

247 Die Weite der Eingänge suggerierte bereits die Zugänglichkeit bzw. Exklusivität von Häusern und Läden (Ellis 2011, 160–162).

248 Plin. Nat. hist. 34,9,17.

249 Zum Begriff Privatheit im römischen Wohnhaus vgl. Wallace-Hadrill 1994, 17–37; Dickmann 1999, 23 f. Vgl. auch Zaccaria Raggiu 1995, 121–228. Zu den Begriffen „öffentlich“ und „privat“ in der rö- mischen Antike s. auch Winterling 2005. Zur Geschichte bürgerlichen Wohnens in Europa und der Separierung von Wohnort und Arbeitsplatz im Europa des 18.–19. Jhs. s. u. a. Niethammer 1979 und darin Zinn 1979, 15–21 über den Wandel von den mittelalterlichen Allzweckräumen, die dem Modell einer großen Haushaltsfamilie entsprachen, hin zu separaten Schlaf-, also Privatgemächern, die dem Wunsch nach einer Privatisierung besonders des Sexuellen Rechnung trugen. Zu den strukturellen Veränderungen der innerhäuslichen Raumaufteilung ab dem 18. Jh. s. Habermas 1962, 58–60.

250 Cic. Phil. 2,68; dazu Machado 2012, 113 f.; Dickmann 1999, 114. Zu den Ahnenporträts und der domus als Erinnerungsort: Flower 1996, 185–222; Dasen 2010; Baroin 2010, 23–25. Zur Villa vgl. Bodel 1997; Corbier 2012. Zur Verbindung von Ahnen- und Larenkult: Fröhlich 1991, 47.

251 Zum Ersten Stil in der Casa del Fauno s. Laidlaw 1985, 172–207.

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delle Nozze d’argento bei der Umdekoration seines Hauses für ein eklektizistisches Konzept, das alte mit neuen Formen zusammenbrachte, während man in der Casa del Menandro wiederum auf eine ganz moderne Umsetzung im Vierten Stil setzte. Die bewusste Gestaltung des eigenen Wohnraums ist also ein Anhaltspunkt für unser Ver- ständnis von Traditionsbewusstsein oder Innovationswillen, von Wertvorstellungen und Ansprüchen der pompejanischen Hausbesitzer. Sie markiert jedoch gleichzeitig eine Grenze dort, wo wir nach Namen und sozialem Status einzelner Persönlichkeiten fragen. So können Überlegungen zu einem „Freigelassenengeschmack“, wie P. Zanker ihn 1979 postuliert hatte, nur spekulativ bleiben.252 Und auch wenn man zumindest ein gewisses finanzielles Vermögen hinter den Besitzern der hier als Fallbeispiele abgehandelten domus vermuten muss, ist ihre genaue Identifizierung in den meisten Fällen unmöglich. Selbst was man als städtische „Elite“ bezeichnen möchte, umreißt nur grob eine undefinierte Personengruppe, die städtische Magistrate ebenso wie ver- mögende Landbesitzer oder neureiche Freigelassene à la Petrons Trimalchio umfas- sen könnte.253 Die Casa di M. Lucretius Fronto, die sich als eines der wenigen Häuser laut Mouritsen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einem inschriftlich belegten Anwärter auf das Amt des duumvir quinquennalis zuweisen lässt, besticht zwar durch ihre Bildausstattung, ist aber so viel kleiner als das vermutliche Haus z. B. eines L.

Albucius Celsus (die Casa delle Nozze d’argento), dass die Unterschiede innerhalb der sogenannten Elite deutlich werden.254 Die Architektur und Ausstattung der Häuser lassen also zwar Anspruch und Geschmack, jedoch nicht die genaue Verortung ihrer Besitzer im lokalen Sozialgefüge erkennen.

252 Petersen 2006, 129 über Zanker 1979.

253 Zur Aktualität und Problematik des Elitenbegriffs kürzlich Goldbeck in einem Vortrag über „Cur- rent Concepts for the Study of Elites“ (http://www.la-network.org/uploads/pdf/Goldbeck_Abstract.

pdf, Stand: 26.02.2016). Vgl. auch Jongmans Überlegungen zum finanziellen Gesamtkapital der Sena- toren, Ritter und Dekurionen als römische Elite (Jongman 1988, 192–196). Wallace-Hadrill 1994, 169 zählt zur Elite Dekurionen und Augustalen, reiche Landbesitzer und Händler.

254 Vgl. Mouritsen 2015, 90. De Vos 1991b, 967 zählt als zuweisbare Häuser auf: II 3,1–3 (D. Lucretius Valens); III 2,1 (A. Trebius Valens); V 2,i (L. Albucius Celsus, s. u. Kap. 6.2.4, S. 228); VI 6,1 (Cn. Alleius Nigidius Maius); VII 1,25.47 (P. Vedius Siricus); VII 16,12–15 (A. Umbricius Scaurus; ebenso Ehrhardt 2004, 267); IX 1,20.30 (M. Epidius Sabinus); IX 14,2.4 (M. Obellius Firmus). Sie deutet außerdem I 6,15 als Haus des L. Ceius Secundus (s. dazu u. Kap. 6.1.1, S. 146), IX 2,16 als Besitz des Q. Bruttius Balbus (ebenso Ehrhardt 2004, 169) und IX 2,26 als Residenz des M. Casellius Modestus. Mouritsen 1988, 52–56, 182 (Anm. 63 zu S. 19) stimmt mit De Vos überein und weist darüber hinaus Haus I 4,5.25.28 dem L. Popidius Secundus, V 4,a.11 dem M. Lucretius Fronto, VI 15,5 dem M. Pupius Rufus, VIII 4,4.49 dem Q. Postumius Modestus, IX 13,1–3 dem C. Iulius Polybius und IX 7,20 evtl. dem A. Vettius Caprasius Felix zu. Für L. Ceius Secundus, Q. Postumius Proculus, M. Cerrinius Vatia, C. Cuspius Pansa und M. Casellius Marcellus lässt sich laut Mouritsen nur der Radius, innerhalb dessen die Kandidaten sehr wahrscheinlich wohnten, anhand der programmata, in denen vicini als rogatores auftreten, ein- schränken (ibid. und id. 2015, 91 Anm. 10).

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Vor dem Hintergrund des Nebeneinanders von Wohnen und Arbeiten, von Haus- bewohnern und -besuchern musste die domus verschiedensten Bedürfnissen gerecht werden, und das vielschichtige römische Gesellschaftssystem zu Beginn der Kaiser- zeit erforderte subtile Differenzierungsmöglichkeiten.255 Deshalb bot das Raumge- füge großer Häuser eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten je nach Anlass, Person, Tages- oder Jahreszeit, und der dominus konnte beispielsweise schon allein durch die Wahl der Räumlichkeit für ein Treffen seine Wertschätzung einem Gast gegen- über artikulieren.256 So verweisen die aus literarischen Quellen bekannten Raumbe- zeichnungen (cubiculum, triclinium, tablinum u. a.) keineswegs auf die jeweils spezi- fische und ausschließliche Funktion eines Raumes, denn dieselben Räume konnten zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlichen Personen und Zwecken dienen.257 Auch der Weg durch die domus ließ sich regulieren: Offene Durchblicke und Ein- blicke in hintere Areale des Hauses konnten einem Gast ein Willkommen und das Vertrauen des Gastgebers signalisieren – ebenso aber konnten demonstrativ ver- schlossene Türen einem Besucher Grenzen aufzeigen, ihn auch symbolisch aus dem Leben und den Aktivitäten des Gastgebers ausschließen.258 Diese Variabilität in der Raumfunktion und -zugänglichkeit stellt für uns insofern ein Problem dar, als sich keine Nutzer oder Besitzer für bestimmte Räume identifizieren lassen und sich der Bewegungsradius spezifischer Personengruppen im Haus nicht einschränken lässt.

Für die Privatgemächer der Kernfamilie und die Unterkünfte der Sklaven kennen wir keine spezifischen Merkmale, die uns solche Räume im archäologischen Befund erkennen lassen,259 und selbst die Anzahl von Schlafplätzen pro Haus lässt sich nicht

255 Wallace-Hadrill 1994, 36–38, 58.

256 Die Lichtverhältnisse sind allerdings schwer zu rekonstruieren, weil die Wände selten so hoch erhalten sind, dass wir alle Fenster oder Öffnungen im Dach als natürliche Lichtquellen kennen.

Grundsätzlich muss man sich die Räume, trotz möglicher künstlicher Beleuchtung, relativ dunkel vorstellen. Über die künstliche Beleuchtung in pompejanischen Wohnhäusern hat David Griffiths an der University of Leicester in seiner Dissertation geforscht. Über Licht und die Sichtbarkeit von Graf- fiti: DiBiasie 2015, 138–143.

257  Dickmann 1999, 26–39, 41. So leitet sich beispielsweise der Terminus Cubiculum von cubare, liegen, ab und verweist damit lediglich auf die in diesem Raum eingenommene Körperhaltung. Vgl.

zu den lateinischen Raumbezeichnungen auch Leach 1997; id. 2004, 50–53.

258 Dickmann 1999, 275–281. Darüber hinaus konnten auch Scheintüren eine Raumvielfalt suggerie- ren und spielten Türen natürlich auch für die Dienerschaft eine Rolle, die z. B. beim Gastmahl schnell auftauchen und wieder verschwinden können musste (ibid., 229). Vgl. auch Danner 2014, 417–422 zu intendierten Wegen durch die spätantike domus. Ein Problem, das sich uns dabei allerdings stellt, sind nicht mehr rekonstruierbare, eventuell ehemals vorhandene physische Grenzen, wie Vorhän- ge oder Holzparavane, die nicht mehr erhalten sind. Auch ob und wo der Zugang zu Räumen von Sklaven kontrolliert wurde, die als Türsteher und gleichsam lebende Grenzen fungierten, lässt sich archäologisch nicht nachvollziehen. S. dazu demnächst T. Lauritsen, Ante Ostium: Contextualising Boundaries in the Houses of Pompeii and Herculaneum (noch unpublizierte Diss. University of Edin- burgh 2014).

259 Vgl. die Versuche Allisons einer Funktionsbestimmung von Räumen mittels der Untersuchung

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Architektur und Ausstattung, Bewohner und Besucher der domus  71

kalkulieren, weil hölzerne Betten selten – und einfachere Schlafstätten aus Decken oder Heu ohnehin nicht – überlebt haben und zudem ganz unterschiedliche Größen gehabt haben könnten.260 Ruheräume sind deshalb, wenn überhaupt, über Wand- und Fußbodengliederungen, Bettnischen oder über Alkoven zu identifizieren, wie A.

Anguissola es in ihrer Dissertation getan hat.261 Umso schwieriger ist es – zumal sich die Obergeschosse der Häuser selten zuverlässig rekonstruieren lassen –, die Anzahl von Haushaltsmitgliedern für einzelne domus zu kalkulieren, und so schlägt Strocka beispielsweise zwischen 12 und 20 Bewohner für die Casa del Principe di Napoli (VI 15,7.8) vor.262 In der Casa dei Ceii kommen im Untergeschoss als Cubicula in der letzten Phase nur zwei Räume in Frage,263 in der Casa di M. Lucretius Fronto sind Indizien für die Aufstellung von Betten in drei Räumen vorhanden.264 In den größeren unter den hier behandelten Häusern sind die archäologischen Belege für Schlafstät- ten noch spärlicher: Betten lassen sich in der letzten Nutzungsphase nur in jeweils einem Raum der Casa di Paquius Proculus,265 Casa degli Amorini dorati266 und Casa del Menandro267 belegen sowie in drei Räumen der Casa delle Nozze d’argento.268 Über den archäologischen Befund ist die Anzahl der Hausbewohner somit nicht zu ermit- teln. Da die in Graffiti belegten Personen sowohl Hausbewohner als auch -besucher gewesen sein können, sind auch die Inschriften keine sicheren Indikatoren, zumal darin grundsätzlich sehr viel mehr Männer als Frauen vorkommen.269 Es ist dennoch erwähnenswert, dass die Anzahl der genannten Personen, genauso wie die der Graf- fiti insgesamt, proportional zur Häusergröße ansteigt. Werden in der Casa dei Ceii, dem kleinsten der autopsierten Häuser, nur acht verschiedene Namen genannt, so tauchen in den nächstgrößeren Häusern zwischen elf und 19, in den beiden größten

von Fundverteilungen. Zu verschiedenen Personengruppen vgl. George 1997, Anguissola 2010, 380–

388 und neuerdings Joshel/Petersen 2014, 24–86 zur Lokalisierung der Sklaven im Haus; Huntley 2011 zu Graffitizeichnungen als Indikatoren für die Bewegungsmuster von Kindern im Haus; Wallace- Hadrill 1996, Berg (unpublizierte und mir nicht vorliegende Dissertation an der Universität Helsinki 2010), Lohmann 2015a zum Aktionsradius weiblicher Haushaltsmitglieder.

260 Zu dieser Problematik s. Michel 1990, 88; Dickmann 1999, 28 über gemeinsame vs. getrennte Schlafzimmer von Ehepartnern; Anguissola 2010, 376 über Doppel- und Einzelbetten.

261 Anguissola 2010.

262 Strocka 1984, 45 f., 49 f. Zu den Obergeschossen in Herculaneum s. die neue Studie von G. Los- ansky 2015; für Pompeji hat Debora Oswald zu „Entwicklung und Funktion der Mehrstöckigkeit in der frühkaiserzeitlichen Wohnarchitektur in Pompeji“ gearbeitet (noch unpublizierte Dissertation, Universität Hamburg 2015).

263 c und f.

264 i (Anguissola 2010, Kat. Nr. 125), g (ibid., Kat. Nr. 103), c (ibid., Kat. Nr. 104/166).

265 4 (Anguissola 2010, Kat. Nr. 20/266).

266 I (Anguissola 2010, Kat. Nr. 10/128).

267 6 (Anguissola 2010, Kat. Nr. 150)

268 v (Anguissola 2010, Kat. Nr. 56), x (ibid., Kat. Nr. 57), z (ibid., Kat. Nr. 58).

269 S. dazu Kap. 8.1, S. 344.

(10)

Exemplaren, der Casa del Menandro und Casa delle Nozze d’argento, 38 und 37 ver- schiedene Personen in Graffiti auf.270

Einzelne Personengruppen wie Frauen, Sklaven, Kinder oder Angehörige älterer Generationen lassen sich aufgrund der schiefen Überlieferungslage schwerlich aus dem Gesamthaushalt herausdifferenzieren.271 Über die Bildthemen in den Räumen an die Raumnutzer bzw. -bewohner heranzukommen, wie z. B. J. Clarke es in der Casa di M. Lucretius Fronto versucht, scheint mir ein sehr unsicheres Unterfangen,272 und auch die Fundverteilungen erlauben keine Lokalisierung spezifischer Personen und Personengruppen im Haus.273 Auf den Bewohner eines Zimmers scheint aber in der Casa degli Epigrammi (V 1,18) ein Graffito hinzuweisen, der neben dem Eingang, im Peristyl, verriet, dass es sich um „Rufini cubiculum“ handele.274 Weil an der Fassade desselben Hauses ein Rufinus von dem Wahlkandidaten L. Popidius Secundus in einem Dipinto um Unterstützung gebeten wird, ist es wahrscheinlich, dass Rufinus tatsächlich zu den Hausbewohnern gehörte.275 In einem Cubiculum des Hauses IX 3,25 waren die Namen des L. Clodius Varus und seiner Frau Pelagia nahe der Bettni- sche in den Wandputz geritzt.276 Grundsätzlich lässt sich die Verbindung der in den Graffiti genannten Personen zum Haushalt nicht näher charakterisieren, aber diese Beispiele konstatieren zumindest ein Besitzanspruch des Schreibers oder eine Besitz- zuweisung durch Andere. Inwieweit diese Zugehörigkeitserklärungen im Einzelfall der Realität entsprachen, bleibt unbekannt.

Wie eine Besitzerinschrift mutet ein Graffito an, der sich allerdings an einer Säule der Großen Palästra befand: „C. Flavi Librari domus.“277 Dafür stammt aus einem

270 Die 38 in der Casa del Menandro gezählten Personennamen beruhen auf den Lesungen Della Cor- tes im CIL IV, die allerdings nicht immer sicher und überzeugend sind (s. u. Kap. 6.2.3, S. 213); leichte zahlenmäßige Abweichungen sind also möglich.

271 Dickmann 1999, 20.

272 Ebenso Anguissola 2010, 369–371. Zu Clarkes Hypothese s. u. Kap. 6.1.2, S. 173.

273 Vgl. Lohmann 2015a zur Verortung von Frauen, d. h. ihren möglichen Schlafplätze oder Aufent- haltsräume im Haus. Der Artikel untersucht die Verteilung von Objekten, die in literarischen, epi- grafischen und archäologischen Quellen als typische Attribute von Frauen auftauchen, innerhalb pompejanischer Wohnhäuser auf der Grundlage von Allisons Arbeiten zu den Fundverteilungen (bes.

Allison 2004). Abgesehen von methodischen Schwierigkeiten dieses Ansatzes ergibt sich aus den Un- tersuchungen, dass Besitzgegenstände von Frauen zumeist gemeinsam mit anderen Objekten unter- schiedlichster Funktion an zentralen Orten im Haus gelagert wurden. Die Fundverteilungen zeigen also nicht den Aktivitätsradius der Hausbewohner an, sondern lediglich die Lagerorte und geben deshalb keinen direkten Aufschluss über die Nutzung einzelner Räume durch bestimmte Personen.

274 CIL IV 4049.

275 CIL IV 3409; Castrén 1975, 208 Nr. 31. Dazu Anguissola 2010, 368 f. mit weiteren Beispielen für Graffiti und andere Inschriften, die aufgrund ihres Anbringungsortes möglicherweise auf Raumnut- zer hinweisen.

276 CIL IV 2321; dazu Della Corte 1965, 161 Nr. 282–283; Varone 1994, 150; Anguissola 2010, 269 m.

Anm. 651.

277 CIL IV 8650.

(11)

Architektur und Ausstattung, Bewohner und Besucher der domus  73

Haus mit Bäckerei die geritzte Inschrift: „Hic domus Papiriu Sabinium.“ Sie war nahe einer Treppe ins Obergeschoss angebracht, die vielleicht in eine separate Wohn- einheit führte, deren Besitzer hier genannt ist?278 Es gibt aus dem Inneren einiger anderer Häuser noch ähnliche Graffiti, in denen jedoch die aufgeführten Personen im Nominativ anstelle des Genitivs angegeben sind: „Domus domus Lucpercus“, „C.

Valerius Maximius milis domus.“279 Als Besitzer oder Bewohner der insula VI 5 wird an deren Fassade ein Marcus Iunius genannt; der Graffito ist so formuliert, als spräche die insula zum Leser, wie es auch z. B. Inschriften auf Trinkgefäßen tun: „Ich bin die insula des M. Iunius.“280 Andere Graffiti benennen keine Gebäude, sondern verwen- den den deiktischen Ausdruck „hic“; dass dieser aber nicht immer wörtlich, als Bezug auf das unmittelbare räumliche Umfeld zu verstehen ist, haben schon Williams und Kruschwitz gezeigt.281 Denn es mag zwar sein, dass in der Casa del Labirinto (VI 11,8–

10) ein gewisser Ianuarius Fuficius wohnte, wie in einem Graffito im Peristyl beschrie- ben, und dass der Gladiator Samus ein Bewohner der Casa dei Gladiatori (V 5,3) war, aber man wird spätestens bei einem Graffito aus den Stabianer Thermen stutzig:

„Iarinus hic habitas.“282 In der zweiten Person verfasst, stammt der Text wohl von jemand anderem als Iarinus selbst, der sich vielleicht einen Scherz über den eifrigen Thermenbesucher erlauben wollte; aufgrund des fehlenden Vokativs könnte es sich jedoch um eine Falschschreibung des Verbs handeln.283 Im Peristyl der Casa di Maius Castricius (VII 16,17) stand geschrieben, dass Romula hier mit ihrem Freund wohnte;

aufgrund weiterer, teils obszön-beleidigender Graffiti gegen Romula an demselben Wandstück ist jedoch auch hier nicht sicher, ob der Graffito ernst und wohlwollend gemeint ist.284 Auch abstrakte Begriffe wurden mit derselben Formulierung an einen

278 CIL IV 5065 (Casa e panifico di Papirius Sabinus (IX 3,19–20)). Varone 2012, 426. Zur Sprache s.

Väänänen 1937, 146 und Solins Überlegungen (CIL IV Suppl. 4,2).

279 CIL IV 4853: „Haus, Haus (des) Lupercus“ (in einem Raum der Casa di A. Octavius Primus (VII 15,12–13); s. Solin in CIL IV Suppl. 4,2 zu diesem „nominativus ‚fixus‘“, wie er schreibt. CIL IV 2157 (im Atrium des Hauses VII 12,35): „Haus des Soldaten (?) C. Valerius Maximus“ – oder aber „C. Valerius Maximus, Soldat des Hauses“? Zu dem Begriff domus in Graffiti s. auch DiBiasie 2015, 274 f., die die Angabe als Zuweisung zu einer Person allerdings sehr wörtlich nimmt, ebenso wie Santamato 2014, 309.280 CIL IV 4429. Vgl. auch den Graffito im Cubiculum (15?) der Casa del Primo piano (I 11,15.9), der vielleicht auf einen Zimmerbewohner hinweist: „Tanusi(i) sum (cubiculum?)“ (CIL IV 10044). Zu dem sonst nur außerhalb Pompejis belegten gentilicium s. Castrén 1975, 227 Nr. 400.

281 Williams 2010, 292; ausführlicher Kruschwitz 2014a.

282 CIL IV 1435, 4220, 2111. Vgl. auch Varone 2014, Kat. Nr. 27 und CIL IV 2415 und 2421 im Theaterkor- ridor über die Tertiani und die Dipinti CIL IV 3794, 7037.

283 „Hic habitat / habitant“-Inschriften ohne Personennamen: CIL IV 8314a (Kat. Nr. E10 m. Abb. im Atrium der Casa del Menandro, s. u. Kap. 6.2.3, S. 214), 8670 (in der Grande Palaestra), Varone 2014, Kat. Nr. 30–31 (in der Villa San Marco in Stabiae).

284 Benefiel 2010, Kat. Nr. 29 (Giordano 1966, Kat. Nr. 32; Solin 1975, Kat. Nr. 36); s. dazu u. Kap. 7.2.2, S. 288.

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Ort gebunden, z. B. „Hier wohnt das Glück.“285 An einem Pfeiler im Peristyl der Casa di M. Lucretius (IX 3,5.24) schließlich erschuf der Autor eines Graffitos selbst den Ort, auf den sich sein Text bezog, indem er ein Labyrinth in den Wandputz ritzte und dazu schrieb: „Labyrinth. Hier wohnt der Minotaurus“ (Abb. 22).286

An einer Peristylsäule der Casa dei Capitelli figurati ( VII 4,57) proklamierten Tiburti- nus, Eratus und Crescens diesen Ort (locus) in drei Graffiti für sich, und im Viridarium der Casa del Moralista (III 4,2–3) las man: „A(n)ser ab(i), Amoenae locus.“287 Wenn die CIL-Lesung für den ersten Teil der Inschrift stimmt, verteidigte hier Amoena ihren Platz sogar gegen Andere. Worauf genau sich die Ortsangabe bezieht, ob sie ganz konkret die Stelle innerhalb des Viridariums meint, an welcher der Graffito ange- bracht war, oder den Raum bzw. das gesamte Haus, wird aus dem Text heraus nicht ersichtlich. Ein Okkupationsgestus bzw. ein Besitzanspruch spricht jedoch umso deutlicher daraus.288 Der Graffito „Saturnalis locus“ an der Fassade der taberna I 10,1 könnte sich dafür direkt auf den Laden beziehen; vielleicht war Saturnalis ein häu- figer Kneipenbesucher, weshalb er selbst oder Freunde von ihm den Graffito ange- bracht hatten, um scherzhaft darauf hinzuweisen, dass die Kneipe gewissermaßen

285 CIL IV 1454, Steinplakette mit Phallusdarstellung.

286 CIL IV 2331.

287 CIL IV 1569–1572, 8870. Vgl. auch zwei solcher Graffiti aus Augusta Raurica, dazu Lehmann/

Pillet 2015.

288 Mit dem „(l)ocus T[r](u)finae (?)“ (CIL IV 4077) im Triclinium der Casa di L. Caecilius Iucundus (V 4,13) könnte dafür ganz konkret ein Liegeplatz beim Gastmahl bezeichnet sein; die Lesung des Graf- fitos ist jedoch unsicher, zumal der Name Trufina so nicht existiert; Solin (CIL IV Suppl. 4,2) schlägt

„[l]ocust Rufinae“ als alternative Lesung vor.

Abb. 22: Labyrinth des Minotaurus, CIL IV 2331 (nach ibid.).

(13)

Architektur und Ausstattung, Bewohner und Besucher der domus  75

die zweite Heimat des Saturnalis war.289 Einen bewusst falschen Raumbezug stellte dagegen ein Graffito in der Latrine der Casa del Centenario (IX 8,3.6–7) her: „Das hier ist Marthas Triclinium, weil sie im Triclinium scheißt.“290 Der Text ist nicht nur eine Beleidigung der genannten Frau, weil er ihr Esszimmer in der Toilette verortet, sondern er setze auch Mund und Anus gleich, verbinde die Einnahme und die Aus- scheidung von Nahrung und verweise dadurch auf den unmittelbaren körperlichen Verdauungsprozess der Latrinenbesucherin, so Levin-Richardson.291 Auch dieser Graffito zeigt, dass die Besitzer- und Bewohnerinschriften nicht grundsätzlich wört- lich genommen werden können. Aber die überwiegend wohl selbsterklärten Beset- zer der loci waren vielleicht häufige Gäste oder Besucher eines Ortes, auf den sie mit ihrer Inschrift scherzhaft Anspruch erhoben. Freilich muss es sich dabei nicht um die Bewohner eines Hauses oder eines konkreten Raums gehandelt haben – viel- mehr bestand Bedarf für eine Reviermarkierung wohl nur dort, wo auch andere Per- sonen ein Territorium für sich beanspruchten, d. h. einen Raum nutzten oder einen bestimmten (Sitz- oder Liege-)Platz besetzten.

Für die vorliegende Arbeit ergibt sich aus den in diesem Kapitel vorgestellten Beobachtungen Folgendes: Während sich im Europa spätestens des 19. Jhs. eine funktionale Ausdifferenzierung der Räume beobachten lässt, trifft diese so nicht auf antike Wohnverhältnisse zu; die exklusive Nutzung einzelner Räume für spezi- elle Tätigkeiten – das Schlafzimmer zum Schlafen, das Esszimmer zum Essen – lässt sich anhand der antiken Textquellen, archäologischen Funde und Befunde nicht belegen. Stattdessen variierte man bei der Wahl der Lokalität im Haus, und die Mul- tifunktionalität der Räume suggeriert ein ebenso flexibles Bewegungsspektrum der Hausbewohner und Gäste. Daraus leitet sich für die Graffiti aus Wohnkontexten die Grundvoraussetzung ab, dass theoretisch sämtliche Hausbewohner wie -besucher als Urheber und Rezipienten in Frage kommen. Als Anlass muss man neben dem Alltag der familia auch sämtliche Formen sozialer Interaktion mit Außenstehenden im Haus jenseits von salutatio und dem convivium in Betracht ziehen, denn zwar liegen darüber keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor, doch sind verschiedenste Formen auch informeller Treffen als Anlass und Gelegenheit zum Graffitischreiben denkbar: Besuche von Frauen, die sich vielleicht mit der domina zum freundschaft- lichen Plausch verabredet hatten, Sklaven, die Aufträge, Anfragen oder Nachrichten aus anderen Haushalten brachten, Kinder, die ihre Nachbarsfreunde besuchten, Hauslehrer und andere Dienstleister.

289 CIL IV 8433.

290 CIL IV 5244: „Marthae hoc trichilinium / est, nam in trichilinio / cacat.“ Zum „trichilinium“ s.

Väänänen 1937, 81, 98. Varone 2016, 127 m. Abb. 6,8 gibt eine verbesserte Lesung, mit „trichilino“ in der zweiten Zeile, an.

291 Levin-Richardson 2015a, 235. Varone 2016, 126 dagegen nimmt den Graffito wörtlicher: Er glaubt, darin habe sich jemand über eine Sklavin lustig gemacht, der tatsächlich im Triclinium ein Malheur passiert sei.

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3.2 Identität und Erinnerung: Bedeutung und Praktiken des Schreibens

Man kann man sich römischen Alltag, oder jedenfalls das Leben in einer Stadt wie Pompeji im 1. Jh. n. Chr., nicht ohne Schrift vorstellen, die auch von Analphabeten visuell wahrgenommen oder mit Hilfe lesekundiger Bekannter oder offizieller Vor- leser (praecones) inhaltlich rezipiert werden konnte (jedoch nicht musste): Meilen- steine an den Ausfallstraßen zeigten die Entfernung zur Stadt, Inschriften ehrten prominente städtische Persönlichkeiten auf dem Forum, nannten die Stifter öffent- licher Gebäude und die zu verehrenden Götter an den Tempeln, auf Gräbern wurden die Tugenden der Verstorbenen gepriesen, Dipinti kündigten die nächsten Spiele im Amphitheater an und warben für Wahlkandidaten, Kalender zeigten fasti und feriali an, Geburts- oder Todesanzeigen wurden an Häuserfassaden geschrieben, Bekannt- machungen und staatliche Anordnungen in Form von Papyri oder Holztafeln an Außenwänden, Säulen und Pilastern angeschlagen, Ladenschilder priesen Waren- preise an, Keramikprodukte und Brote trugen Stempel ihrer Hersteller, Amphoren schriftliche Hinweise auf ihren Inhalt, Heiligtümer waren voll von Täfelchen mit Bitten und Gebeten, man markierte Besitztümer mit dem eigenen Namen, schrieb Verträge und Testamente auf Papyrus, magische Verwünschungen auf Blei-, Rech- nungen oder persönliche Nachrichten auf Wachstafeln.292 Die Graffiti waren dabei nur eine von vielen Inschriftengattungen, ihre Texte und Bilder ein Teil der media- len Landschaft Pompejis. Gleichzeitig waren sie anders, das Überflussprodukt einer – wenn auch nicht homogenen – schreibenden Gesellschaft, ein Nebeneffekt der Ver- breitung von Lese- und Schreibkenntnissen. Im römischen Reich des 1. Jh. n. Chr., in dem man Persönliches auf Wachstafeln schrieb, Ehrungen in Stein meißelte, seine Liebste persönlich traf, musste man nicht an die Wand kritzeln – und tat es dennoch, weil man es konnte.293 Wenn man von Zahlen, Daten und Preislisten absieht, hatte ein Großteil der Graffiti keine unmittelbare praktische Funktion. Stattdessen drücken die

292 Zur Omnipräsenz von Schrift s. Harris 1983, 91; Eck 1999, 62; Horster 2011, 97. Münzen, Siegel- ringe, Herstellerstempel auf Ziegeln und Wasserleitungen stellen weitere Inschriftformen dar, und fi- gürliche Wandmalereien in Läden und Wohnhäusern enthielten z. T. Beischriften, welche die Namen oder Handlungen der dargestellten Personen erläuterten (vgl. z. B. das für die Casa del Menandro namengebende Fresko mit Namen des Dichters oder die „Sprechblasen“ zu den Gelagebildern in der Casa del Triclinio (V 2,4); dazu Ritter 2005). Vgl. auch die Zusammenstellungen bei Harris 1989, 25–27, 196–232 und Woolf 2000, 875–877, Keegans 2014b, 59 Auflistung von Inschriftenformen und beschriebenen Objekten und die Zusammenstellung der bei Petron vorkommenden Inschriften (Nelis- Clément/Nelis 2005). Gleichzeitig fehlten in römischen Städten offenbar solche für den modernen urbanen Raum essentiellen Beschriftungen wie Straßennamen, Gebäudebezeichnungen und Haus- nummern (Milnor 2014, 47); dazu auch Langner 2015, 24–29.

293 Vgl. auch Wallace-Hadrill 2012, 410: „Graffiti as an ephemeral medium attracts self-consciously trivializing uses of the skills of writing. Writing for the Pompeians is not magic or sacred or privilege or special: it is part of the low-level, everyday life of a town.“

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Identität und Erinnerung: Bedeutung und Praktiken des Schreibens  77

Inschriften die Launen und Befindlichkeiten, Gedanken und Ideen, Nachrichten und Ankündigungen der Pompejaner und ihrer Besucher aus, und damit vor allem eins:

Das eigene Sein.

Sein eigenes Dasein der Nachwelt zu überliefern, ist ein Bedürfnis, das so weit zurückreicht wie die Geschichte der Menschheit selbst, und Schriftlichkeit ist eine fundamentale Voraussetzung, um diesem Bedürfnis differenzierten Ausdruck zu ver- leihen. Als Produkte dessen haben sich aus der römischen Antike epigrafische Zeug- nisse in vielfacher Form erhalten, in denen Menschen sich selbst verewigten oder für ihre Leistungen und charakterlichen Vorzüge geehrt wurden.294 Denn nach Sallust war es Aufgabe des Menschen, anders als Tiere, die unbeachtet aus dem Leben schieden, so lange wie möglich in Erinnerung zu bleiben.295 Monumente – von dem Verb monere – waren nichts Anderes als Erinnerungsträger und Inschriften Teil der römischen Erinnerungskultur:296 Sie überschritten die Grenzen der Zeit, indem sie Ereignisse und Schicksale schriftlich fixierten:297 So hielten beispielsweise im Theater von Pompeji sechs Meter lange Inschriftenplatten die von M. Holconius Rufus und M. Holconius Celer finanzierten Baumaßnahmen fest, am sog. Gebäude der Euma- chia wurde seine Stifterin inschriftlich aufgeführt und im Amphitheater nannten Inschriften die Magistrate, welche die Ausstattung des Zuschauerbereichs bezahlt hatten.298 Der Name ist dabei das identitätstragende Element, das den zentralen Teil der Inschriften ausmacht: Er überliefert Familienzugehörigkeit, Geschlecht, rechtli- chen Status und manifestiert so, zusammen mit Beruf oder Amt, die Stellung einer Person innerhalb der Gemeinschaft.299 In privaten Texten wie Votivinschriften (Pro- skynemata), die persönliche Bitten und Wünsche beinhalteten, bildete der eigene Name die Voraussetzung, um die Verbindung zu einer Gottheit aufzunehmen, und

294 Vgl. Solin 2006b, 527. Vgl. auch Assmann 1993, 65 über ägyptische Gräber, in denen der Verstor- bene als Sender und die Gemeinschaft als Empfänger der kommunizierten Botschaft auftreten.

295 Sall. Cat. 1,3.

296 Vgl. Varro LL 6,49: „[Von memoria > monere, Anm. der Verf.] auch die monimenta, ‚Monumen- te‘, auf Gräbern und entlang der Straßen, welche die Passanten ‚mahnen‘ sollen (admonere), dass sie selbst sterblich waren und die Leser es auch sind. Deshalb werden auch die anderen Dinge, die geschrieben oder gemacht wurden, um die memoria, ‚Erinnerung‘, zu erhalten, monimenta, ‚Monu- mente‘, genannt“ (nach der engl. Übers. Kent 1958). Zur Bedeutung und Funktion von Monumenten s.

auch Veyne 1991, 340. Chaniotis 2014 hat sehr überzeugend dargelegt, dass (offizielle) Inschriften als Texte durch bewusste Auswahl und Komposition ebenso eine Erinnerung konstruierten wie literari- sche Texte. Zum Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte: Burke 1991. Zur Verräumlichung von Ge- dächtnis: Hölkeskamp 2001. Zu speziellen Erinnerungsorten: Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp 2006.

Allgemeiner zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis: Halbwachs 1966; id. 1985; Assmann 2005.

297 Assmann 1993, 65.

298  CIL X 833–834, 810–811, z. B. 853–855.

299 Corbier 2006, 12, 87 f. Vgl. Auch Milnor 2014, 109 über die Prominenz des Namens in Dipinti und Lapidarinschriften. Vgl. auch Jakab 2014 zu Namen als Identifikationsmerkmal in römischen Urkun- den.

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in Grabinschriften forderte man die Aufmerksamkeit der Passanten für den Verstor- benen.300 Als ebenfalls private im Sinne selbstbestimmter, persönlicher Texte waren auch die Graffiti eine Form der Kontaktaufnahme – zu namentlich genannten Adres- saten wie zu einer größeren (innerstädtischen oder innerhäuslichen) Leserschaft.

Vor allem aber spiegeln sie, ebenso wie z. B. Grab-, Bau- oder Stifterinschriften, das menschliche Bedürfnis wider, sich zu verewigen und der eigenen Identität eine Form zu verleihen, bilden Namen doch die mit Abstand größte Gruppe unter ihnen – und oft den einzigen Bestandteil einer Inschrift.301 Insofern waren die Graffiti eine auf das Wesentliche reduzierte Form der Selbstdarstellung, bei der es nur um die Person, nicht um ihre Leistungen ging; man wollte schlicht ein Zeichen seiner Existenz hinterlas- sen, eine Spur, die zurückblieb, wenn man selbst einen Ort verließ. Während Ehren- oder Grabinschriften i. d. R. von Anderen – ob von Staat bzw. Gemeinschaft oder von privater Seite – initiiert wurden, feierten die Graffitischreiber sich selbst. Geritzte Namen waren überall im Stadtgebiet Pompejis und auch innerhalb der Wohnhäuser zu lesen, ebenso tituli memoriales, in denen z. B. ein Sabinus sein Zusammensein mit Primigenia oder ein Antiochus seine (freundschaftliche? amouröse?) Beziehung zu Cithera festhielt.302 Und dass man Grüße und Nachrichten in der dritten Person verfasste, hatte denselben Hintergrund: Solche Satzkonstruktionen, die Parallelen in der Briefliteratur haben, boten die Möglichkeit, sich selbst als Schreiber genauso wie den Adressaten namentlich zu nennen.303 Das garantierte nicht nur, dass der inten- dierte Adressat sich tatsächlich angesprochen fühlte, sondern auch, dass die Verbin- dung zweier Namen auf der Wand Bestand hatte und so, wie eine Vorversion moder- ner Selfies mit der Liebsten oder dem besten Freund, die persönliche Beziehung der Namensträger verewigte.304 Ihren aktuellen Kommunikationswert verloren die Graf-

300 Vgl. u. Kap. 4. „Presence is fully defined only by naming“ (Beard 1991, 46). Vgl. auch Woolf 2000, 886.

301 Vgl. auch Santamato 2014, 311, Keegan 2011 zu Graffiti als Erinnerungsträgern und Milnor 2014, 160 und 51: „[…] writing itself, independent of its medium, was important in self-recognition and the maintainance of social identities.“ Trotz der Gemeinsamkeiten, die Grabinschriften und Graffiti als

„private“, selbstgenerierte Texte und Erinnerungsmedien haben, waren die Graffiti Momentprodukte oft schelmischer Natur, wohingegen die Grabinschriften tiefe und echte Trauer ausdrücken sollten (Milnor 2014, 68).– Beard 1991, 46 ist der Meinung, dass der eigene Name in kultischem Kontext, z. B. in Form von Graffiti in Heiligtümern, auch eine Dazugehörigkeit zur (Kult)Gemeinschaft symbo- lisierte und die Teilnahme am Ritual markieren sollte. M. E. können die Namensgraffiti hier aber, wie andernorts auch, genauso gut ganz wörtlich als ebenso banales wie repräsentatives „ich war hier“

verstanden werden. Für Graffiti an römischen Kultorten s. z. B. Oliverio 1927 zu den Besucher- und Priestergraffiti von der Quelle des Apollon-Heiligtums von Cyrene.

302 CIL IV 8260a, 8792b.

303 S. dazu u. Kap. 7.1.3, S. 272. Die vale- und salutem-Grüße, die auch aus der Briefliteratur und von pri- vaten Briefen aus anderen Teilen des römischen Reichs bekannt sind, belegen eine generische Standardi- sierung, die vielleicht auf Handbücher zurückgeht (Milnor 2014, 161–174 zu epistologischen Einflüssen).

304  Milnor 2014, 163 weist darauf hin, dass die Formulierung der Graffiti in der dritten Person wie in

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Identität und Erinnerung: Bedeutung und Praktiken des Schreibens  79

fiti also nicht, wie W. Eck annimmt, denn das Kommunikationsmoment von Grüßen, Anwesenheitsbekundungen oder Liebesbotschaften war nicht vorüber, sobald der intendierte Adressat den entsprechenden Graffito gelesen hatte.305

„Sich verewigen“ mag im Falle der Graffiti absurd klingen, musste den Schrei- bern doch bewusst sein, dass die Wände Pompejis – da sie nicht nur allen Passanten zum Überschreiben oder Durchstreichen offenstanden, sondern auch in größeren Zeitabständen restauriert oder neudekoriert wurden – ihre Graffiti eigentlich nicht für die Ewigkeit erhielten.306 Paradoxerweise ist aber ausgerechnet diese eigentlich ephemere Inschriftenform in Pompeji durch den Vesuvausbruch für 1700 und mehr Jahre konserviert und nurmehr durch die Ausgrabungen in ihrer Existenz gefährdet worden.307 Die Tatsache, dass manche (wenn auch wenige) Graffiti in Pompeji Jahres- angaben beinhalten, zeigt allerdings auch ein Bewusstsein ihrer Autoren dafür, dass ihre Produkte immerhin über mehrere Jahre bestehen bleiben konnten; andernfalls wären die absoluten Daten überflüssig. Die vielen Datumsangaben ohne Jahresanga- ben müssen dagegen Notizen gewesen sein, die nur kurzzeitig von Belang waren und bei denen es nicht darauf ankam, dass man viel später noch wusste, um welches Jahr es ging. Alle der genau datierbaren Graffiti stammen sogar aus den Jahren vor 62/63 n.  Chr.; nicht einmal das Erdbeben konnte ihnen etwas anhaben, und der älteste datierbare pompejanische Graffito war beim Ausbruch des Vesuvs über 150 Jahre alt.308 Ephemer sind die Graffiti also zwar in der Theorie, nur lehrt uns die Überlie- ferungslage im Falle Pompejis etwas Anderes. Und so schreibt Taylor zu Recht über antike Graffiti: „Writing a name is a simple act which is at the same time ephemeral and memorializing.“309

Für den Inschriftenboom, der sich in augusteischer Zeit fassen lässt, hat die For- schung den Begriff des epigraphic habit geprägt.310 Er ist Zeugnis für die memoria als Schlüsselkonzept eines römischen Denkens, in dem Geschriebenes als Bedeutungs- träger auf inhaltlicher und formaler Ebene fungierte.311 Mit der durch Augustus vor- angetriebenen Monumentalisierung öffentlicher Räume veränderten sich Stadtbilder

Briefen gleichzeitig aber auch auf die räumliche Distanz der genannten Personen verwies, welche ein Medium (Brief oder Wand) überhaupt erst notwendig machte.

305 Eck 1999, 57 m. Anm. 12.

306 Zu römischen Restaurierungstechniken und -praktiken s. umfassend Ehrhardt 2012.

307 Vgl. Bagnall 2011, 118: „We may be amused at the irony that the ephemeral has become the du- rable, and the permanent [here: papyrus, Anm. der Autorin] has long since rotted away, but readers […] will recognize that this irony is a characteristic and structural element in papyrology and even in archaeology more generally.“

308 S. o. Kap. 2.2, S. 55.

309 Taylor 2015, 45.

310 MacMullen 1982; Meyer 1990; Alföldi 1991; Cherry 1995; Woolf 1996. Zur Einführung zahlreicher neuer Festtage unter dem ersten Princeps, die sich auch inschriftlich niederschlug, s. Behrwaldt 2009, 143.

311 Kruschwitz 2014a, 1 f.

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seit Ende des 1.  Jhs. v.  Chr. zu regelrechten Schrifträumen;312 offizielle Inschriften an öffentlichen Plätzen fungierten als Repräsentations- und Erinnerungsträger, als Teil politischer und sozialer Kommunikation.313 (Kapital-)Schrift strahlte dort, auch für diejenigen, die sie nicht lesen konnten, (staatliche) Autorität aus.314 Heiligtümer, Thermen, Spielstätten, besonders aber die Fora wurden innerhalb der Städte zu Orten verdichteter Schriftlichkeit, und innerhalb der Fora bildeten sich wiederum durch die Konzentration von Monumenten bestimmte Areale als „loci celeberrimi“ heraus, die sich für wichtige Ankündigungen anboten.315 Dort fand die Pflege und Weitergabe kollektiver Werte und Traditionen statt, die gleichzeitig mit diesen Orten verknüpft waren; K.-J. Hölkeskamp spricht deshalb von einem „monumentalen Gedächtnis“.316 Außerhalb der Städte stellten Bürger auf Grabmonumenten stolz das Geleistete zur Schau, Inschriften priesen den Beruf und die Tugenden der Verstorbenen an, und so reihen sich noch heute vor der Porta Ercolano und der Porta Nocera die Gräber ehemaliger Magistrate wie A. Veius, C. Vestorius Priscus und T. Terentius Felix, von Priesterinnen wie Mamia und Istacidia Rufilla oder zu Geld gekommenen Freigelas- senen wie der Naevoleia Tyche und des P. Vesonius Phileros aneinander.317 Und mit individuellen Grabepigrammen schuf man eine eigene literarische Praxis, die sich unabhängig machte von der Hochkultur eines Vergil, Properz oder Ovid und die sich ebenso in den Graffiti wiederfindet. Denn nicht nur der im Schulunterricht gelesene Kanon, sondern auch die Verbreitung der Buchrolle führte zu einer Unabhängig- keit literarischer Texte von ihren Autoren: Auf Papyrus kamen die Texte der großen augusteischen Dichter in Umlauf, ihre Verse verselbstständigten sich an den Wänden Pompejis zu Neukreationen der Graffitischreiber mit eigenen Ausdrucksformen, wie Milnor in ihrem neuesten Buch zeigt.318

312 Witschel 2014, 107. Vgl. auch Hingley 2005, 72 f.: „Written texts in monumental form formed part of the physical environment of Roman society.“

313 Die Inschriften beeinflussten und kontrollierten somit das kollektive und kulturelle Gedächtnis (Chaniotis 2014, 137 f.). Zur Kommunikation im Stadtraum s. z. B. Ando 2000, 101–117; Eck 2006;

Haensch 2009; Mundt 2012; in einem größeren historischen Rahmen: Petrucci 1993.

314 Vgl. auch Milnor 2014, 90 über die Wirkung und symbolische Bedeutung von Dipinti in Fresken:

„Even if a viewer was unable to read them, the fact that there were words on the wall could be seen and appreciated.“

315 Witschel 2014, 112 f. mit Quellenangaben zum Begriff „locus celeberrimus“.

316 Hölkeskamp 2001, 99.

317 In den im CIL VI edierten Grabinschriften sind Freigelassene laut Taylor 1962, 118 mit 3:1 ins- gesamt wesentlich stärker vertreten als als freigeborene Römer; vgl. auch die Studie von Nielsen, in deren Material nur 24 % der Verstorbenen und 10 % der Grabstifter, deren sozialer Status angegeben ist, freigeborene Römer sind; Freigelassene machen in beiden Gruppen den größten Teil aus (Nielsen 1997, 203 f.). Auch unter Sklaven spielte Selbstdarstellung eine Rolle, wie die Gräber von Sklavenkin- dern zeigen (King 2000, 121). Vgl. auch Corbier 2006, 19.

318 Milnor 2014, 11.

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Identität und Erinnerung: Bedeutung und Praktiken des Schreibens  81

Ob der graffiti habit als Breitenphänomen seinen Anfang in augusteischer Zeit, als Teil der explodierenden epigrafischen Praxis, nahm, können wir nicht wissen, weil es Besucherinschriften schon viel früher gab (und es sie immer noch gibt) und weil der Wunsch, ein Zeichen zu hinterlassen, so alt ist wie die Menschheit selbst.

Aber in Pompeji können wir anhand tausender Graffiti das Neben- und Miteinander von formellen und informellen, autorisierten und unautorisierten Inschriftenformen fassen; und hier lassen sich aus der Masse des Materials Charakteristika und Konven- tionen ableiten, die den graffiti habit als eigenen Begriff rechtfertigen.

Indem sie ebenfalls Namen, manchmal auch Berufe oder persönliche Beziehun- gen überliefern, sind viele Graffiti-Texte im Grunde nichts Anderes als informelle Versionen von Inschriftenmonumenten, auch wenn sie schlicht aus einer Laune oder Langeweile heraus an Orten entstanden waren, die man passierte oder an denen man sich länger aufhielt. Mit ihren inhaltlichen und formalen Anlehnungen an formelle Texte einerseits, mit ihren literarischen Neukompositionen und individuellen Versen andererseits, die sich Abweichungen von den literarischen Vorbildern erlaubten und sich von der Prosa staatlicher Schriftstücke unterschieden, waren sie Teil einer Populärkultur: Ephemere Erinnerungen und spielerische Identitätsträger der kleinen Leute, der Normalbürger, deren Namen nicht in Bronzelettern am Forum, auf den Ehrensitzen im Theater oder an eindrucksvollen Familiengruften prangten.319 Das mag freilich nicht für die Zahlen, Strichreihen, Daten und Preislisten gelten, die aller- dings auch Erinnerungsträger im banalsten Sinne waren, fixierten sie doch im Alltag Notizen, als Erinnerungshilfe z. B. für Ladenbesitzer. In ähnlicher Weise können die zahlreichen Graffiti an den Außenwänden der Basilika gleichermaßen Imitate offi- zieller Praktiken gewesen sein: die Produkte derjenigen, die von den Aktivitäten im Inneren des Gebäudes ausgeschlossen gewesen seien, so E. Thomas, und sich eine eigene, unlizensierte Version der offiziellen tabulae albatae im öffentlichen Raum oder der mit offiziellen Verkündigungen bestückten Steinwände schufen.320

Inschriften hatten – anders als literarische Texte für ein exklusives lesefähi- ges Publikum oder private Briefe, Listen, Verwaltungs- und Geschäftsarchive, die rein funktional waren und nicht zur Ausstellung im öffentlichen Raum angefertigt wurden – auch eine visuelle Aussage, richteten sich als „Schriftbilder“ ebenso an die Augen wie an die Ohren der Passanten: Sie kommunizierten in ihrer Größe, Form, dem Material, Dekor und Aufstellungsort ihres Trägers eine Botschaft, die über die bloßen Bild- und Textinhalte hinausging.321 Als Teil öffentlicher Monumente erklär-

319 So auch Mouritsen unpubliziert, 22. Vgl. Benefiel 2010, 89: „Not only were there monumental inscriptions honoring the imperial family and extolling the careers of leading citizens, but the site of Pompeii illustrates how much wider the epigraphic habit reached in ephemeral media as well.“ Vgl.

auch Cooley 2012, 213: „Graffiti could in fact serve exactly the same function as inscriptions carved in stone, echoing the same language.“

320  Thomas 2014, 75.

321 Corbier 1987, 30; id. 2006, 19; Hope 2000, 155 f., 178; Rizakis 2014, 81; Witschel 2014, 120. Hingley

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ten und ergänzten sie das Zu-Sehende und waren gleichzeitig selbst auch als (Schrift) Bild erfahrbar.322 Ein antiker Betrachter wird deshalb in der Lage gewesen sein, die Bedeutung einer Inschrift, selbst wenn es ihm an Textverständnis fehlte, anhand ihrer äußeren Merkmale zu erfassen, sie in die antike Schriftlandschaft und die Hierarchie der (sie umgebenden) Monumente einzuordnen.323 Auch Graffiti werden optisch für jeden nicht ganz ignoranten und unbedarften Betrachter sofort als individuelle, inof- fizielle Kritzeleien identifizierbar gewesen sein; dass ihre Materialität als non-verbale Information für Autoren und Rezipienten von Bedeutung war, zeigen diejenigen geritzten Texte, die sich in Schriftart und Layout an in Stein gemeißelten Inschrif- ten anlehnten.324 Einen spielerischen Umgang mit der Materialität ihrer Texte zeigten diejenigen Graffitischreiber, welche die Wand als Adressatin anschrieben;325 ein Spiel mit der äußeren Form bezeugt ein Vers über das Schlangenspiel (serpentis lusus) eines Sepumius, der eine Schlange bildet und zusätzlich viele zischende S-Laute enthält (Abb. 23).326 Auf die Spitze getrieben wird die Verbindung von Form und Inhalt in Palindromen, in denen der Textinhalt eigentlich keinen Sinn mehr ergibt, sondern die Wörter um ihrer Buchstabenfolge willen aneinandergereiht und teils sogar Non- sensewörter gebildet wurden (Abb. 24–25).327 Hierbei ging es ausschließlich um das

2005, 81 ist dagegen der Meinung, dass die Inschriften tatsächlich nur an die literate Bevölkerung gerichtet waren.

322 S. Bodels Begriff der „symbolic epigraphy“ (Bodel 2001a, 19–24; dazu auch id. 2010, 115 f.); zur visuellen Wahrnehmung von Inschriften s. auch den Band von J. M. Luce 2013. Zu Texten in Bildern und der Interaktion von Text und Bild s. Corbier 2006, 91–128; Newby/Leader-Newby 2007; Squire 2009; Kap. 11–15 in Corbier/Guilhembet 2012. Speziell zu Bildbeischriften in pompejanischen Fresken:

Blum 2002; Milnor 2014, 77–96.

323 Allgemein zur Lesbarkeit (Textgröße etc.) überhaupt öffentlicher Inschriften: Corbier 2006, 42–45. Witschel 2014, 114 f. hat vier mögliche Formen der Wahrnehmung von Inschriften, basierend auf vier verschiedenen fiktiven Rezipienten, entworfen. Er leugnet den hypothetischen Charakter der Überlegungen nicht, doch sind derartige Modellbildungen oft die einzige Möglichkeit, antiken Rezep- tionspraktiken näherzukommen. Solche spielerischen Überlegungen bildeten auch die Grundlage für die in Kap. 4 im Hinblick auf Graffiti skizzierten Wahrnehmungs- und Interaktionsszenarien.

324  S. dazu u. Kap. 7.1.2. Dagegen Eck 1999, 66. Sehr wahrscheinlich wird der durchschnittliche Be- trachter auch bestimmte Inhalte (Formeln, die er schon häufig gesehen hatte) wiedererkannt und z. B. ein „D(is) M(anibus)“ zusätzlich als Hinweis auf eine Grabinschrift verstanden haben. Manche Inschriften bzw. ihre Macher nutzten diese Sehgewohnheiten gezielt aus, s. z. B. CIL VI 9556; dazu Kruschwitz 2008, 227 f.

325 „Admiror, parie<n>s, te […]“ (s. dazu u. Kap. 4, S. 111 und 7.1.3, S. 276).

326 CIL IV 1595: „[Ser]pentis lusus si qui sibi forte notavit, Sepumius iuvenis quos fac(i)t, ingenio spec- tator scaenae sive es studiosus e(q)uorum, sic habeas [lan]ces se[mp]er ubiq[ue pares]“ – „Wenn je- mand zufällig das Spiel mit den Schlangen gesehen hat, das der junge Sepumius treibt mit Talent, ob du Zuschauer bist im Theater oder Freund der Pferde, so halte die Waage immer und überall im Gleichgewicht“ (Übers. Hunink 2011, Nr. 258); dazu u. a. schon Gigante 1979, 230 mit Anm. 55 mit Verweis auf die hellenistische Dichtungstechnik der technopaignia; Keegan 2006, 44; Milnor 2014, 26 f.– Der Graffito wird im Nationalmuseum in Neapel aufbewahrt.

327 CIL IV 8297, 8623. Dazu Guarducci 1965 und zuletzt Benefiel 2012, 67–70. Das „magische Quad-

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Identität und Erinnerung: Bedeutung und Praktiken des Schreibens  83

Spiel mit den visuellen Eigenschaften von Schrift, denn die Wörter und Texte wurden zu Bildern, die in gesprochener Form nicht verstehbar sind:328

rat“ wurde auch im 18. Jh. als Schutzformel gegen Feuer oder Krankheiten verwendet (Kreuzer 1986, 320–321, s. v. Sator-Formel). Vgl. auch ein griechisches „magisches Quadrat“ aus der Wohneinheit 2 des Hanghauses 2 von Ephesos: Taeuber 2010b, GR 184.

328 Vgl. Habinek 2009, 136: „Without a doubt, writing can have a second order function as transcrip- tion of speech, but the prevalence of that function today should not blind us to the ways in which writing exists and operates independent of speech. Paradoxically, it was by cultivating and inten- sifying this independence, […] that the Romans – and some Greek counterparts – sought to constrain writing’ potential as a liberatory technology. […] By turning writing into a visual game, the Romans […] re-embed writing in the specific and the concrete.“

Abb. 23: Carmen figuratum, CIL IV 1595 (nach ibid.).

R O T A S O P E R A T E N E T A R E P O S A T O R

Abb. 24: Sog. Sator-Quadrat nach CIL IV 8623.

R O M A O L I M M I L O A

M O R

Abb. 25: Magisches Quadrat nach CIL IV 8297.

Abbildung

Tab. 1: Typen nicht-öffentlicher Gebäude.
Abb. 22: Labyrinth des Minotaurus, CIL IV 2331 (nach ibid.).
Abb. 23:  Carmen figuratum, CIL IV 1595 (nach ibid.).
Abb. 26: Anzahl von Abecedaria nach Anbringungsorten in Pompeji.
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