• Keine Ergebnisse gefunden

Reintegrationshilfe ermöglicht Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in sichere Landesteile Afghanistans

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Reintegrationshilfe ermöglicht Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in sichere Landesteile Afghanistans"

Copied!
10
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

VG Augsburg, Urteil v. 18.10.2016 – Au 3 K 16.31161 Titel:

Reintegrationshilfe ermöglicht Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in sichere Landesteile Afghanistans

Normenketten:

EMRK Art. 3

AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AsylG § 77 Abs. 1

Leitsätze:

Jedenfalls nachdem die Reintegrationshilfen durch das Europäische Reintegrationsprogramm

"ERIN" erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, besteht für afghanische Familien mit zwei minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr nach Kabul, Bamiyan oder in einen anderen relativ sicheren Landesteil im Allgemeinen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen.

Einer afghanische Familie mit zwei minderjährigen Kindern droht jedenfalls in Kabul, Bamiyan, Balkh oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (Abweichung von VGH München BeckRS 2015, 42433). (redaktioneller Leitsatz)

Schlagworte:

Reintegrationshilfe, ERIN, Afghanistan, Kind, konkrete Gefahr, GARP-Programm, Abschiebungsverbot, allgemeine Gewalt, humanitäre Bedingung, Sicherheitslage, wirtschaftliche Situation, Kabul, Bamiyan Fundstelle:

BeckRS 2016, 55743  

Tenor

I.

Die Klage wird abgewiesen.

II.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand 1

Die Kläger, ein Ehepaar mit zwei Kindern im Alter von fünf und zwei Jahren, die nach ihren Angaben afghanische Staatsangehörige und nicht im Besitz von Identitätspapieren (Pass o.ä.) sind, meldeten sich am 4. Dezember 2015 als asylsuchend, nachdem sie im Bundesgebiet erstmals am 10. November 2015 erkennungsdienstlich behandelt worden waren. Am 20. April 2016 stellten sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.

2

Am 11. Mai 2016 wurden der Kläger zu 1. (Ehemann/Vater) und die Klägerin zu 2. (Ehefrau/Mutter) persönlich in der Außenstelle ... des Bundesamts gemäß § 25 AsylG angehört:

3

Der nach eigenen Angaben am ... 1985 in ... (Afghanistan) geborene Kläger zu 1. gab dabei ausweislich der Anhörungsniederschrift an, dass er schiitischer Muslim sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Bis zum Jahr 1999 habe er in Afghanistan (...) gelebt und sei dann in den Iran gezogen, wo er sich etwa 161/2

(2)

Jahre bis zu seiner Ausreise aufgehalten habe. Wegen seines Aufenthalts im Iran habe er auch keine Tazkira.

4

Er sei bis zur 5. Klasse zur Schule gegangen und zwar bis zur 2. Klasse im Iran; die restlichen drei Klassen habe er in Afghanistan (...) besucht.

5

Einen Beruf habe er nicht erlernt, aber zuhause als Schuhmacher gearbeitet, ohne ein eigenes Geschäft zu haben.

6

In seinem Heimatland habe er sich nicht politisch betätigt und habe dort auch keine Probleme mit der Polizei oder Behörden gehabt.

7

In Afghanistan habe er keine engeren Verwandten mehr; dort lebe noch eine Tante seiner Frau. In Deutschland lebten keine (weiteren) Familienangehörigen von ihm.

8

Zu seinen Flucht- bzw. Asylgründen befragt, gab der Kläger zu 1. an, dass 1998 die Taliban, die besonders gegen die Hazara gewesen seien, nach ... gekommen seien und dort, vor seinen Augen, viele Leute umgebracht hätten. Auch sein Vater, dessen Cousin und sein Cousin seien vor ihrem Haus erschossen worden. Die Toten hätten sie zunächst nur provisorisch und erst nach drei Monaten endgültig begraben können. Sie seien sechs Geschwister gewesen und hätten in ... viel durchmachen müssen. Die Taliban seien täglich gekommen, von Haus zu Haus gegangen, hätten die Türen aufgebrochen sowie Leute

mitgenommen und auch umgebracht. Mit ihm selbst hätten die Taliban noch nichts zu tun gehabt, da er erst 13 Jahre alt gewesen sei.

9

Als sein Onkel mütterlicherseits erfahren habe, dass sein Vater und die anderen umgebracht worden waren, und sie in ... nicht mehr sicher gewesen seien, habe dieser sie in den Iran geholt.

10

Im Iran hätten die Afghanen jedoch keine Rechte. Sein Schwiegervater, der seit über 30 Jahren im Iran lebe, habe noch immer keine Rechte. Man bekomme keine Arbeit und werde als Afghane beschimpft. Sie hätten nicht einmal auf ihren Namen eine SIM-Karte kaufen können. Um etwas zu kaufen, müsse dies ein Iraner tun. Sie hätten nicht einmal eine Krankenversicherung bekommen. Seine Mutter habe Krebs und könne nicht einmal in das Krankenhaus. Der Iran halte auch Versprechen im Zusammenhang mit einem eventuellen Kampfeinsatz in Syrien nicht ein. Sie hätten den Iran deshalb nicht bereits früher verlassen, weil seine Mutter einen Verbleib im Iran wegen der dortigen religiösen Ausrichtung und der Nähe zu

Afghanistan, die für den Fall einer Rückkehr von Vorteil gewesen sei, befürwortet habe. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätten sie jedoch befürchten müssen, das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden.

Dort würden Hazaras immer noch umgebracht. Sie könnten sich dort nicht frei bewegen; es würden Autos angehalten, die Leute rausgeholt und umgebracht. Wenn Hazaras umgebracht würden, werde darüber in den Nachrichten nur selten berichtet. Die meisten Vorfälle den Hazaras gegenüber blieben „versteckt“. Er wisse dies aus dem afghanischen Fernsehen, aus dem Internet (Facebook) oder von anderen im Iran lebenden Hazaras, die noch Familien in Afghanistan haben.

11

Sie seien deshalb vom Iran aus über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Kroatien, Slowenien,

Österreich nach Deutschland gereist; die Einreise in Deutschland sei am 10. November 2015 erfolgt. Für die Reise hätten sie etwa 40 Millionen iranische Toman bezahlen müssen; dies habe er allerdings nicht nur für seine Familie, sondern auch für seinen Bruder bezahlt. Das Geld habe er von seinem Schwiegervater, der auch sein Onkel sei, erhalten.

12

Auch jetzt sei eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich. Er wolle, dass seine Kinder in einem Land

(3)

gewesen sei, und seine Kinder möglicherweise umgebracht. Er wäre dann besser im Iran geblieben und nach Syrien gegangen.

13

Die nach eigenen Angaben am ... 1985 im Iran geborene Klägerin zu 2. gab ausweislich der

Anhörungsniederschrift an, dass auch sie der Volksgruppe der Hazara angehöre und Schiitin sei. Sie sei (nur) im Iran aufgewachsen und habe dort eine „Registrierungskarte“ gehabt, die sie aber ein bis zwei Jahre nach ihrer Heirat habe wieder abgeben müssen.

14

Sie habe im Iran bis zur 7. Klasse die Schule besucht. Einen Beruf habe sie nicht erlernt, zuhause allerdings als Schneiderin gearbeitet.

15

Im Iran lebten noch ihre Eltern; im „Heimatland“ halte sich noch eine Tante sowie ein Onkel, der gelähmt sei, auf.

16

In Deutschland lebten keine (weiteren) Familienangehörigen von ihr.

17

Zu den Flucht- bzw. Asylgründen befragt, gab die Klägerin zu 2. an, dass sie als Afghanen keine Rechte im Iran gehabt hätten. Nicht einmal ihre Eltern, die schon viel länger im Iran lebten, hätten dort Rechte. Sie könnten sich nichts auf ihren Namen kaufen, keine SIM-Karte und kein Auto. Sie müssten dafür immer einen Iraner finden, der das für sie mache. Sie würden auf der Straße immer von Iranern beschimpft. Sie sei jetzt 30 Jahre alt und ihr sei es egal, ob sie Rechte habe; sie wolle jedoch nicht, dass ihre Kinder in einem Land aufwüchsen, in dem sie keine Rechte hätten. Die Kinder müssten im Iran in den Kindergarten und in die Schule; beides sei jedoch nicht möglich, weil sie keine Papiere hätten.

18

Sie hätten den Iran zunächst aus finanziellen Gründen, dann wegen zweier Schwangerschaften und auch wegen Erkrankung ihrer Schwiegermutter nicht bereits früher verlassen. Als sie gehört hätten, dass die Grenzen offen seien, seien sie dann gegangen.

19

Für sie komme es nicht in Betracht, nach Afghanistan zu gehen und dort zu leben, da ihre Kinder dort in Gefahr wären. Wenn sie nach Afghanistan müsste, würde sie Wege finden, dieses Land wieder zu verlassen.

20

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 11. Juli 2016 den Antrag auf Zuerkennung der

Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab. Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Abschiebung nach Afghanistan wurde angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

21

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der

Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Die Gründe, wegen derer der Kläger zu 1. Afghanistan im Jahr 1999 verlassen habe, lägen schon zu lange zurück, um noch als fluchtauslösend gewertet werden zu können. Ein erforderlicher zeitlicher Zusammenhang zwischen der Flucht aus Afghanistan und der Ausreise (aus dem Iran) nach Deutschland sei nicht erkennbar.

Zwischenzeitlich habe sich die Lage in Afghanistan auch wesentlich geändert. Aus der Zugehörigkeit der Kläger zur Volksgruppe der Hazara folge nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung in Afghanistan. Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazaras habe sich die Lage deutlich verbessert.

Die in Einzelfällen weiterhin bestehenden Benachteiligungen stellten grundsätzlich keine Eingriffe von erheblicher Intensität dar. Anzeichen dafür, dass die Hazaras heute noch allein wegen ihrer

Volkszugehörigkeit landesweit einer gezielten Verfolgung unterlägen, bestünden nicht.

22

(4)

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Den Klägern drohe weder die Todesstrafe noch von staatlicher Seite Folter, unmenschliche oder erniedrigende

Behandlung oder Bestrafung. Bei einer „Rückkehr“ seien sie auch nicht in erheblicher Weise durch die in allen Teilen des Landes herrschenden und unterschiedlich stark ausgeprägten innerstaatlichen bewaffneten Konflikte zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und den Taliban sowie anderen oppositionellen Kräften gefährdet. Das Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes zu werden, liege weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit,

23

Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan würden trotz bestehender erheblicher Defizite nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Dass sie früher ausschließlich bzw. zu einem

wesentlichen Teil ihres Lebens im Iran gelebt hätten, stehe dieser Annahme nicht entgegen. Bei den Klägern zu 1. und 2. handele es sich um junge gesunde Menschen, die im Iran als Schuster bzw.

Schneiderin gearbeitet hätten. Es sei davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr in der Lage wären, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und allmählich (wieder) in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.

24

Die Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen beruhe auf § § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG.

25

Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sei angemessen. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen worden, noch lägen solche nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor.

26

Auf die weiteren Ausführungen in der Begründung des Bescheids wird verwiesen.

27

Der Bescheid wurde am 19. Juli 2016 zugestellt.

28

Am 25. Juli 2016 erhoben die Kläger zum Verwaltungsgericht Augsburg Klage. Sie beantragen, 29

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Juli 2016 in Ziffern 4 bis 6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen.

30

Zur Begründung wird u. a. ausgeführt, dass es zwar Anzeichen dafür gegeben habe, dass sich die Lage der Hazaras in Afghanistan bis 2011 einigermaßen normalisiert habe, doch seien danach die schiitischen Hazaras für die (sunnitischen) Taliban und einscherende IS-Einheiten wieder Angriffsziel Nr. 1 geworden.

Mittlerweile sei die Grenze von der Diskriminierung zur Verfolgung wieder überschritten worden.

Bezeichnender Weise habe vier Tage nach Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids in Kabul ein Attentat stattgefunden, bei dem 80 Hazaras in die Luft gesprengt worden seien. Momentan sei daher von einer Gruppenverfolgung dieser Volksgruppe auszugehen. Zumindest lägen bei den Klägern

Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor. Die Klägerin zu 2. sei bereits im Iran geboren, der Kläger zu 1 Ende der 90-er Jahre in den Iran geflohen. Ein aufnahmebereiter Familienverband bestehe in Afghanistan nicht. Insoweit werde auf die immer noch gültige Rechtsprechung des Bayerischen

Verwaltungsgerichtshofs verwiesen.

31

Das Bundesamt legte am 22. August 2016 die Akten vor, stellte jedoch keinen Antrag.

32

Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelte das Verwaltungsgericht den Beteiligten eine

(5)

33

Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 12. Oktober 2016 ließen die Kläger ein Schreiben der ... Klinik ...

(„vorläufiger Befund“) vom 12. April 2016 sowie ein nicht unterzeichnetes Attest („Epikrise“) mit dem Briefkopf „Dr. med. ..., Internist, Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie“ vom 4. Oktober 2016 - jeweils in Ablichtung - vorlegen. In diesen wurde für die Klägerin zu 2. eine eitrige Tonsillitis, ein

Nitritpositiver Harnwegsinfekt und der Verdacht auf allergisches Asthma (... Klinik) und der Verdacht auf intrinsic Asthma bronchiale sowie eine schwerstgradige bronchiale Hyperreagibilität (Dr. med. ...) attestiert.

Als Medikation wurde von Dr. med. ... „Foster 100/6µg DA (1-0-1-0); Salbutamol DA (2H. b. Bed.)“

verordnet.

34

In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger zu 1. u. a. an, dass seine Familie nach seiner Geburt in den Iran gegangen sei. Dort habe er das erste und einen Teil des zweiten Schuljahres absolviert, bevor sie nach Afghanistan zurückgekehrt seien. In Afghanistan habe er drei Jahre die Schule besucht. Als sein Vater von den Taliban getötet worden sei, habe sie sein Onkel mütterlicherseits, der schon seit längerem im Iran gelebt habe, in den Iran geholt.

35

Ergänzend wird auf den Akteninhalt, insbesondere das Protokoll über die Anhörung der Kläger zu 1. und 2.

beim Bundesamt und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisgrundlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe 36

Die zulässige Klage ist unbegründet.

37

Nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, die gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblich ist, haben die Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung, dass

Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.

38

Sowohl das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. den Bestimmungen der

Europäischen Menschenrechtskonvention als auch das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind zielstaatsbezogen. Es handelt sich nicht um absolute, sondern relative, auf einen bestimmten Staat bezogene Abschiebungsverbote, die dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht

entgegenstehen, sondern lediglich zu deren Einschränkung führen (vgl. BT-Drucks. 12/2062, S. 44). Es geht jeweils (nur) um Gefahren, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen. Bezüglich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift („wenn dort für diesen Ausländer eine … Gefahr … besteht“). Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich dies aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Gesetz sowie ihrem Sinn und Zweck (vgl. BVerwG, U. v.

31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12/27 Rn. 35 f. unter Hinweis auf BVerwG, U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322/324 ff. zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG).

39

1. Selbst wenn man von der Richtigkeit der klägerischen Angaben im Verwaltungs- und im

verwaltungsgerichtlichen Verfahren - insbesondere über ihre (afghanische) Staatsangehörigkeit - ausgeht, droht den Klägern in Afghanistan jedenfalls in Kabul, Bamiyan, Balkh oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder

erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (vgl. VGH BW, U. v. 24.7.2013 - A 11 S 727/13 - juris; U. v. 26.2.2014 - A 11 S 2519/12 - juris; a.A. BayVGH, U. v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - juris ohne Erwähnung der genannten gegensätzlichen Urteile des VGH BW im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung („derzeit“) in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen; zur Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Familien mit minderjährigen Kindern vgl. auch OVG NW, B. v. 5.9.2016 - 13 A 1697/16.A - juris).

40

(6)

a) Aus Art. 3 EMRK folgt, dass die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat unzulässig ist, in dem ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Die Bestimmung zielt ebenso wie die gesamte Europäische Menschenrechtskonvention hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Ihre grundlegende Bedeutung macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, U. v.

31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12/22 f. Rn. 25). Dies gilt jedenfalls insoweit, als die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Aktionen von Konfliktparteien, sondern

überwiegend auf Armut oder Naturereignisse zurückzuführen sind (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O.).

Für die Beurteilung, ob ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare

Verantwortung des Abschiebungszielstaats fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und

zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl.

BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O. S. 23 Rn. 26).

41

b) Die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sind zumindest nicht in allen Landesteilen so ernst/schlecht, dass die Abschiebung einer vierköpfigen Familie wie die der Kläger, die keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände aufweisen, eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Die

Sicherheitslage und damit auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan weisen starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Es gibt Regionen, z. B. in den Provinzen Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan und Panjshir, die im Vergleich mit anderen Landesteilen relativ sicher sind und wirtschaftlich moderat prosperieren (vgl. Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, Stand November 2015 - Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015 - Zusammenfassung S. 4). Dass jedenfalls die drei Provinzen Kabul, Bamiyan und Panjshir relativ sicher sind, hat auch der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung Balkhi bestätigt, obwohl dieser im Gegensatz zur offiziellen Linie der afghanischen Regierung der Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus den EU-Ländern grundsätzlich ablehnend gegenübersteht (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 24).

Daran ändert auch der Anschlag zweier Selbstmordattentäter nichts, die sich am 23. Juli 2016 inmitten eines Demonstrationszugs der Hazara auf einem zentralen Platz in Kabul in die Luft sprengten und mindestens 80 Menschen töteten und 230 Menschen verletzten (vgl.

www.tagesschau.de/ausland/kabulexplosion-105.html). Die Demonstration richtete sich gegen die geplante Trassenführung einer Hochspannungsleitung. Bei dem Anschlag, zu dem sich der sog. Islamische Staat bekannte und von dem sich die Taliban distanzierten, handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das die allgemeine Sicherheitslage für die Bevölkerung Kabuls im allgemeinen und die Volksgruppe der Hazara im besonderem nicht wesentlich verändert hat. Weil bei der Niederlassung in einem bestimmten Landesteil ethnische Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden können (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 4), ist es für Angehörige der Volksgruppe der Hazara, zu denen auch die Kläger gehören, von besonderer Bedeutung, dass gerade ihr Hauptsiedlungsgebiet, nämlich die Provinz Bamiyan zu den (relativ) sicheren Provinzen gehört. Wie das Beispiel der rund 100.000 pakistanischen Paschtunen zeigt, die wegen der Kämpfe mit der pakistanischen Armee allein im Juni 2014 laut UNHCR aus dem pakistanischen Nord-Waziristan nach Afghanistan gekommen sind und oft direkt von

paschtunischen Familien in den afghanischen Nachbarprovinzen Paktika und Khost aufgenommen worden sind, gibt es in Afghanistan über den eigenen Familienverband hinaus eine große Solidarität und

Hilfsbereitschaft innerhalb des eigenen Stammesverbandes bzw. der eigenen Volksgruppe (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 22). Dementsprechend erachtet auch der UNHCR eine interne Schutzalternative dann als zumutbar, wenn die (erweiterte) Familie oder die ethnische Gemeinschaft der Person willens und in der Lage sind, diese in der Praxis tatsächlich zu unterstützen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, 3. f.).

(7)

c) Trotz kontinuierlicher Fortschritte, die z. B. zu einem Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt um 22 Jahre und einem deutlichen Rückgang der Mütter- und Kindersterblichkeit über das letzte Jahrzehnt geführt haben, belegte Afghanistan im Jahr 2015 nur Platz 171 von 188 im Human Development Index der

Vereinten Nationen (im Jahr 2011 Platz 172). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Das World Food Programm reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch.

Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheiten, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus chronischer Unterentwicklung zusammen mit bewaffneten Konflikten resultierenden Folgeerscheinungen haben im Süden und Osten Afghanistans dazu geführt, dass dort ca. 1 Mio. oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.1 Grundversorgung S. 24). Der Anteil der Menschen, die unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben, beträgt im landesweiten

Durchschnitt rund 36 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg im Oktober 2015 auf 40 Prozent (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Rückkehrfragen S. 23).

43

Die medizinische Versorgung leidet trotz erkennbarer und erheblicher Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v.a. Hebammen). Im Jahr 2013 stand 10.000 Einwohnern Afghanistans statistisch gesehen eine medizinisch qualifizierte Person

gegenüber. Durch die gute ärztliche Versorgung im „French Medical Institute“ und dem Deutschen Diagnostischen Zentrum in Kabul können allerdings Patienten einschließlich Kinder auch mit

komplizierteren Krankheiten in Kabul behandelt werden (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV.

1.2 Medizinische Versorgung S. 24 f.).

44

Das rapide Bevölkerungswachstum stellt eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen 2012 und 2015 wird das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4 Prozent pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkommt. Die Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, geraten dadurch zusätzlich unter Druck (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.

Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23 f.).

45

Allerdings gibt es traditionell ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten.

Während es in ländlichen Gebieten vielerorts etwa an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport fehlt, ist die Situation in der Hauptstadt Kabul und in den Provinzhauptstädten erheblich besser (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine

wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23). Gleiches gilt für die medizinische Versorgung. Auch hier gibt es bedeutende regionale Unterschiede innerhalb des Landes, wobei die Situation in den Nord- und

Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.2 Medizinische Versorgung S. 25).

46

Bei der prognostischen Einschätzung der Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Asylbewerber in ihr Herkunftsland ist zu berücksichtigen, dass afghanische Asylbewerber mit oder ohne Familie vor ihrer Ausreise nicht zu dem Teil der Bevölkerung gehört haben, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, weil sich diese Bevölkerungsgruppe eine Schleusung nach Europa nicht leisten kann. Vielmehr handelt es sich in der Regel um junge, verhältnismäßig gut ausgebildete und moderat wohlhabende Personen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 6), die schon aus diesem Grund bei einer Rückkehr jedenfalls gegenüber denjenigen im Vorteil sein dürften, die seit jeher unterhalb der Armutsgrenze leben und deren Kinder oft von Unterernährung akut bedroht sind. Obwohl Norwegen auch afghanische Familien mit minderjährigen Kindern abschiebt, sind diesbezüglich offenbar keine Bezugsfälle bekannt, in denen diesen Familien die Reintegration in Afghanistan nicht gelungen wäre (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 2.3.2015, Stand Oktober 2014, IV 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 24;

Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 S. 26). Auch wurde die norwegische Abschiebungspraxis offenbar nie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet. Zudem wurde anlässlich der

(8)

letzten Geberkonferenz Anfang Oktober 2016, bei der die internationale Gemeinschaft Afghanistan für die kommenden vier Jahre Finanzhilfen in Höhe von 15,2 Milliarden Dollar (umgerechnet ca. 13,6 Milliarden Euro) zugesagt hat, ein Rückübernahmeabkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan geschlossen (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/geberkonferenzafghanistanerhaelt-15-

mrddollarfinanzhilfen-14468268.html). Da auch Familien mit minderjährigen Kindern von diesem

Rückübernahmeabkommen erfasst werden, lässt dies den Schluss zu, dass es allgemeiner Konsens unter den EU-Staaten (und Afghanistan) ist, dass auch diesem Personenkreis bei Wahrung der Familieneinheit die Rückkehr nach Afghanistan zumutbar ist (vgl. Joint Way Forward on migration issues between

Afghanistan and the EU, Part I. Nr. 4. Satz 1). Um die Reintegration zu erleichtern, entwickelt und finanziert die EU Hilfsprogramme, wobei besondere Beachtung den Bedürfnissen von Frauen, Kindern und anderen schutzbedürftigen Gruppen gegeben werden soll (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU, Part IV. Nr. 3).

47

d) Für eine reale, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Chance afghanischer Familien, nach einer Rückkehr eine ausreichende Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu finden, sprechen vor allem die Start- und Reintegrationshilfen, die sie erhalten können. Für eine vierköpfige Familie wie diejenige der Kläger beträgt die Starthilfe nach dem von Bund und Ländern finanzierten GARP-Programm insgesamt 1.500 EUR (500 EUR pro Erwachsener, 250 EUR pro Kind unter 12 Jahren). Hinzu kommen die kumulativ zur Verfügung stehenden Reintegrationsleistungen nach dem Europäischen Reintegrationsprogramm

„ERIN“. Diese umfassen als Maßnahmen zur Wiedereingliederung folgende individuellen Reintegrationshilfen:

48

- Ankunftsservice:

49

- Abholung/Empfang am Ankunftsort (z. B. Flughafen) 50

- Kurzfristige Unterkunft am Ankunftsort (bis zu 2 Nächte) 51

- Dringende medizinische Versorgung (Notfallversorgung) 52

- Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheiten 53

- Unterstützung bei Wohnungssuche/Wohnraumbeschaffung (ggf. Mietzuschuss) 54

- Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen 55

- Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen 56

- Unterstützung bei Existenzgründungen 57

- Sonstige individuelle Hilfsangebote zum Aufbau einer eigenen Existenz 58

Die Unterstützung, die vor allem den Abbau anfänglicher Hürden nach einer Rückkehr sowie die dauerhafte Reintegration zum Ziel hat, wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation (Service Provider) weitgehend als Sachleistung gewährt. Diese erstellt mit dem Rückkehrer einen individuellen Rückkehr- und

Reintegrationsplan. Die maximale Förderhöhe beträgt bei freiwilligen Rückkehrern bis zu 1.300 EUR oder 2.000 EUR bei Existenzgründung (Höchstbetrag), bei rückgeführten Personen bis zu 700 EUR. Bei freiwilliger Rückkehr im Familienverbund wird für den Ehegatten eine Förderung im Wert bis zu 500 EUR

(9)

beträgt bis zu 2.300 EUR. Auch wenn auf diese Leistungen ein Rechtsanspruch nicht besteht, kann davon ausgegangen werden, dass die Kläger als vierköpfige Familie Reintegrationshilfen im Gesamtwert bis zu 3.500 EUR in Anspruch nehmen können. Gerade vor dem Hintergrund, dass professionelle Hilfe bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche gewährt wird, erscheint dies ausreichend für die Prognose, dass es den Klägern zu 1. und 2. jedenfalls bis zum Ablauf der Zeitspanne, während der ihr Lebensunterhalt durch die Reintegrationshilfen gesichert ist, gelingt, sich und ihren Kindern zumindest mit Gelegenheitsarbeiten einschließlich Heimarbeit eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei ist mit zu

berücksichtigen, dass die Familie im Notfall voraussichtlich aus dem Kreis der in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen tätigen internationalen Hilfsorganisationen langfristig die notwendige Unterstützung bekommen würde.

59

Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Urteil vom 21. November 2014 (a. a. O. Rn.

29) ausführt, die Unterstützungsleistungen würden nur einen vorübergehenden Ausgleich schaffen, seien aber nicht geeignet, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten, orientiert er sich nicht an dem allgemein anerkannten, auch dem Kindeswohl in dem gebotenen Maße Rechnung tragenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Demnach genügt es, dass die Reintegrationshilfen, die seit der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs durch das Europäische Reintegrationsprogramm

„ERIN“ erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, der rückkehrenden Familie eine reale Chance geben, ebenso wie ein großer Teil der bereits ortsansässigen Familien zumindest mit Gelegenheitsarbeiten eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden. Die Reintegrationshilfen sollen die Nachteile ausgleichen, die Rückkehrer in der Phase des Neustarts vorübergehend gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung haben, sie aber nicht auf Dauer besser stellen. Dauerhafte Hilfen wären im Hinblick auf die für eine gelungene Reintegration erforderliche Eigeninitiative kontraproduktiv.

60

Auch bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reicht es nicht aus, dass sich die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit irgendwann verwirklichen kann. Vielmehr ist für die Bejahung eines Abschiebungsverbots erforderlich, dass alsbald mit ihrer Realisierung gerechnet werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 29.7.1999 - 9 C 2.99 - juris).

Abgesehen davon zählt der UNCHR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen

Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 Kinder nicht generell zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen, sondern nur Kinder mit bestimmten Profilen oder in spezifischen Umständen oder Kinder im Kontext der (Zwangs-)Rekrutierung von Minderjährigen. (vgl. 3. b. Nr. 3, 10). Im Vergleich mit den zigtausenden Rückkehrerfamilien aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran haben die aus Deutschland zurückkehrenden Familien ohnehin einen großen Startvorteil (siehe unten f)).

61

Die Kläger können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für „freiwillige“ Rückkehrer gewährt werden, also (teilweise) nicht bei einer zwangsweisen Rückführung (Abschiebung). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK nur begründen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Davon kann aber keine Rede sein, wenn der Betroffene seine individuelle Lage dadurch entscheidend verbessern kann, dass er seiner

Ausreiseverpflichtung von sich aus nachkommt und es nicht auf eine Abschiebung ankommen lässt. Zudem kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, vom Bundesamt nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl.

BVerwG, U. v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 - juris; VGH BW, U. v. 26.2.2014 - A 11 S 2519/12 - juris S. 40; a.A.

VG Augsburg, U. v. 16.6.2011 - Au 6 K 11.30153 - juris Rn. 22). Abgesehen davon gibt die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Abschiebungen nicht unterstützt und keine Abschiebungsprogramme durchführt, auch abgeschobenen Asylbewerbern Unterstützung nach der Ankunft im Land (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 26).

62

e) Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf individuelle gefahrerhöhende Umstände berufen. Die Klägerin zu 2., bei der nach den vorgelegten ärztlichen Diagnosen der Verdacht auf Asthma bronchiale besteht und der als alleinige Behandlung (bis zum Wiedervorstellungstermin (Kontrolltermin) nach 6 Monaten) die Anwendung der Medikamente Foster 100/6µg DA und Salbutamol DA (2H) verordnet wurde,

(10)

ist in der Lage, sich diese Medikamente in Afghanistan zu beschaffen. Nach der „National Essential Medicines List of Afghanistan July 2014“ sind beide Medikamente bzw. gleichartige Medikamente mit gleichem Wirkstoff auch in Afghanistan erhältlich. Was die finanziellen Mittel zur Beschaffung anbelangt, so ist davon auszugehen, dass jedenfalls diese Kosten vom Vater der Klägerin zu 2., der in ..., Iran, lebt und dort einen Schuhmacherbetrieb führt, getragen würden, falls die Klägerin zu 2. oder ihr Ehemann dazu nicht in der Lage wären.

63

Sonstige gefahrenerhöhende Umstände sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist die Annahme eines Abschiebungsverbots nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Kläger zu 1. vor der Flucht nach Deutschland mehr als 16 Jahre und die Klägerin zu 2. sowie deren Kinder ausschließlich im Iran gelebt haben. Denn die Kläger sprechen die afghanische Landessprache Dari und haben sich bisher auch in einer islamisch geprägten Umgebung aufgehalten; ein besonderes „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ ist nicht erforderlich (vgl. BayVGH, B. v. 15.06.2016 - 13a ZB 16.30083 - juris).

64

f) Die Richtigkeit der Prognose, dass sich die Kläger nach einer Rückkehr in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ausreichende Existenzgrundlage schaffen können, wird dadurch bestätigt, dass unter der Regie des UNHCR allein in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres fast 56.000 afghanische Flüchtlinge aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind, davon über 53.000 aus Pakistan (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2. Behandlung von Rückkehrern S. 26). Diese Rückkehrer werden in der ersten Zeit vom UNHCR unterstützt, doch dürfte diese Unterstützung weitaus geringer sein als diejenige, die Rückkehrer aus Deutschland erhalten. Obwohl unter den Rückkehrern aus Pakistan und dem Iran offenkundig auch zahlreiche Familien mit minderjährigen Kindern sind, sind nennenswerte Probleme offenbar nicht aufgetreten. Vielmehr haben Afghanistan, Pakistan und der UNHCR im August 2015 die Rückführung weiterer afghanischer Flüchtlinge in vier Phasen bis Ende 2017 vereinbart (vgl. Lagebericht Pakistan vom 30.5.2016, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 26 f.).

65

g) Da, wie dargelegt, selbst bei unterstellter Richtigkeit ihrer Angaben, insbesondere auch zu ihrer

afghanischen Staatsangehörigkeit, bereits kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugunsten der Kläger festgestellt werden kann, kann dahingestellt bleiben, ob die Kläger überhaupt Afghanen sind (was Voraussetzung für eine Berufung auf ein Abschiebungsverbot wäre). Weiter kann dahingestellt bleiben, ob auch eine ggf. zu erwartende finanzielle Unterstützung der Kläger durch den im Iran lebenden Vater/Schwiegervater (über die Mittel zur Beschaffung von Medikamenten hinaus, siehe oben e) ein Abschiebungsverbot ausschließen würde (vgl. OVG NW, B. v. 5.9.2016 a. a. O.).

66

2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs.

7 Satz 1 AufenthG. Wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, besteht für sie in Afghanistan jedenfalls landesweit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.

67

Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

14 In ihrer Studie zur Clubkultur 2019 liefert die Clubcommission folgende De- finition der Szene: »Sobald ein Publikum zu einem Stammpublikum wird und sich regelmässig an

Eine sol- che könnte etwas Ähnliches bewirken wie im Falle des Vogelbuchs: Über den Code wird eine Verbindung zwischen dem realen Gegenstand und einem virtuellen

Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig: Die abzuschiebenden Personen sind am Abholungstag nicht in ihrer Unterkunft anzutreffen, neue Asyl- gründe kommen ans Licht und die

Eine baldige Rückkehr nach Myan- mar halte sie für ausgeschlossen, be- tonte die UN-Sonderberichterstat- terin für Menschenrechte in Myan- mar, Ende Januar nach einem Besuch

Jenseits aller Folgen für die Euro-Zone hätte ein Grexit zunächst einmal Konsequenzen für Griechenland: eine neue Währung, eine Abwertung gegenüber dem Euro, Banken, die

Seit Jahren schon sind dort Regenmacher für die Landwirtschaft im Einsatz, angeb- lich 37 000 Mann, mit 30 Flugzeugen, 6900 Flugabwehrgeschossen und 3800 Raketenabschussrampen..

Vor diesem Hintergrund ist im Falle des Klägers, der neben sich selbst auch eine Familie zu unterhalten hätte, Geldmittel für seine weitere Behandlung aufbringen müsste, und zudem

■ Ich bin frustriert, weil ich nach außen nicht nachvollziehbar kommunizieren kann, wie ich mich durch die Auslandserfahrung verändert habe.. ■ Niemand „sieht“ mich wirklich,