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Prof. Dr. Christoph Dinkel Pfarrer. Predigt über Psalm , Johanneskirche, Paul-Gerhardt

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Academic year: 2022

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1 Prof. Dr. Christoph Dinkel

Pfarrer

Predigt über Psalm 85

7.11.2021, Johanneskirche, Paul-Gerhardt

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Ja- kobs; der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast;

der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:

Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns! Willst du denn ewig- lich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? Willst du uns denn nicht wie- der erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe Und seinen Schritten folge.

Liebe Gemeinde!

1. Sprachlosigkeit der Kirche in der Pandemie

Während der Pandemie wurde in der Presse wiederholt darüber geklagt, dass die Kirchen sprachlos geblieben seien. Sie hätten sich zwar sehr darum bemüht, die staatlichen Auflagen zu erfüllen, oft überzuerfüllen. Aus lauter Anstrengung Musterstaatsbürger zu sein, sei den Kirchen aber gar nicht eingefallen, etwas aus religiöser Sicht zur Pandemie zu sagen. Und das wäre doch Aufgabe der Kirche gewesen. Gewiss hätte man betont, dass die Pandemie nicht als Strafe Gottes anzusehen sei. Aber das habe außer ein paar ganz fundamentalistisch Geson- nenen eh niemand angenommen. Was die Pandemie aber für Glaube und Religion bedeute, dazu habe man nichts gehört, jedenfalls nicht in der großen Öffentlichkeit und vom massen- medial wahrnehmbaren Personal.

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2 Ich bin nicht sicher, was ich von dieser Kritik halten soll. Die Pandemie hat eigentlich alle auf dem falschen Fuß erwischt. Niemand hat gleich alles richtig gemacht, weil es für den Umgang mit der Pandemie keine Muster und keine Erfahrungen gab. Dass die Kirche die Pandemie nicht gleich perfekt religiös zu deuten wusste, ist mithin ein billiger Vorwurf. Vielleicht war es sogar klug erst einmal nichts zu sagen. Allzu viele wussten nämlich sofort ganz viel zu sa- gen, was sich dann als ziemlicher Stuss erwies. Aber irgendwann sollte man natürlich schon etwas zur Pandemie aus religiöser Sicht sagen können. Ich will mich heute angesichts von Psalm 85 als Predigttext jedenfalls darum bemühen.

2. Religiöse Deutung von Leiden im Psalm und in der Tradition

Unser heutiger Psalm artikuliert auf den ersten Blick jene Vorstellung vom Zorn Gottes, die die Kirche in der Pandemie unbedingt vermeiden wollte. Das Muster geht so: Die Menschen halten sich nicht an Gottes Gebote. Das ärgert Gott. Er mahnt die Menschen durch Propheten und Prediger. Die Menschen halten sich jedoch weiter nicht an die Gebote, deshalb wird Gott zornig und schickt zur Strafe Krankheiten, Kriege und Dürren so lange bis die Menschen Buße tun und auf den rechten Weg zurückkehren.

Dieses Muster hat lange funktioniert. Es war einleuchtend und nachvollziehbar. Noch nach dem 2. Weltkrieg konnte der Theologe Helmut Thielicke in Stuttgart mit dieser Botschaft tau- sende Zuhörer bei seinen Predigten überzeugen. Die Verwüstung durch die alliierten Bomben verstand er als Strafgericht Gottes für die Untaten der Nazis und für den Abfall vom Glauben.

Das war für die Stuttgarter schwer zu hören, das war im Blick auf die Nazigräuel aber nach- vollziehbar. Allerdings sah Thielicke die Moderne insgesamt, einschließlich der modernen Kultur und ihrem angeblichen Sittenverfall als Grund für Gottes Zorn an. Vieles, was wir für normal halten, hielt Thielicke für verdammungswürdig. Da merkt man dann die Grenzen die- ser Argumentation. Man kann sie gegen alles wenden, was einem nicht passt.

Immerhin: Unser Psalm folgt dem skizzierten Muster nicht wirklich. Er setzt es zwar voraus, ignoriert es aber dann auch wieder, indem er Gott ganz allein auf sein Erbarmen und auf seine erneute Zuwendung anspricht:

„Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande […] der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns: Hilf uns […] und lass ab von deiner Ungnade über uns! Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn

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3 walten lassen für und für? Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?“

Martin Luther hat das Muster des Psalms in seiner Theologie aufgegriffen, indem er lehrte, dass die Erfahrung zwar nahelegt, dass es eine dunkle, zornige Seite Gottes gebe, dass man sich aber ganz allein an den gnädigen Gott zu wenden habe, der in Christus den Menschen sein freundliches Gesicht gezeigt habe. Über den dunklen Gott nachzudenken führe nicht wei- ter. Das Evangelium, der freundliche, der gnädige Gott allein ist die Adresse, an die wir uns wenden sollen. Dann werde Gott uns auch gnädig sein. Psalm 85 und die Lehre Luthers pas- sen also gut zusammen.

Nun sind unsere Zeiten doch auch anders als es die Zeiten Luthers waren. Vieles damals Selbstverständliche leuchtet heute nicht mehr ein. Spätestens seit dem verheerenden Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 ist die Öffentlichkeit skeptisch, was den Zusammenhang von Ka- tastrophen und göttlichem Tun anbelangt. Seit Lissabon vermutet man bei Katastrophen na- türliche Ursachen. Bei der Krankheit Aids in den 80er und 90er Jahren haben manche noch versucht, Aids als Lustseuche und Strafe Gottes zu verkaufen. Spätestens als dann aber ganz viele Bluter wegen verseuchter Blutkonserven an Aids starben, hatte sich das erledigt. Und damit niemand auf die Idee kommt, Covid19 in dieser Weise wieder für religiöse Zwecke zu missbrauchen, haben die Kirchen am Beginn der Pandemie an diesem Punkt gleich mal Pflö- cke eingehauen. Seuchen und Pandemien sind natürliche Ereignisse, die mit der gewachsenen Mobilität der Menschen wahrscheinlicher werden. Sie sind aber keine Strafe Gottes. Vielmehr hat uns Gott den Verstand gegeben, um gegen Pandemien wirksam vorgehen zu können. Im Fall der Pandemie handelt Gott also durch die medizinische Forschung und das Gesundheits- system.

3. Handelt Gott in der Geschichte?

In unserem Psalm wird eine Vorstellung erkennbar, die bis heute Anhänger findet: die Vor- stellung, dass Gott ganz unmittelbar in der Geschichte handelt. Beim Fall der Berliner Mauer konnte man so ein Gefühl bekommen oder bei der Abschaffung der Apartheid in Südafrika oder bei der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten. All das waren große Momente, die viele als historisch und weltbewegend erlebten, also ich jedenfalls. Es ist verführerisch hier Gottes Finger am Werk zu sehen. Aber wenn man das annimmt, dann muss man auch fragen,

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4 wo Gott bei der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler war oder bei den Anschlägen an 9/11 oder bei den Gräueltaten der Roten Khmer in Kambodscha.

Eine französische Rabbinerin hat dazu diese Woche in einer Arte-Dokumentation über jüdi- schen Humor folgenden Witz erzählt: „Zwei Opfer der Nazi sitzen im Himmel auf einer Wolke und erzählen sich Witze über die Zeit im Lager. Da kommt Gott vorbei, hört zu und empört sich: Wie könnt Ihr über diese schrecklichen Zeit Witze reißen?! Darauf die zwei zu Gott: Das verstehst Du nicht. Du warst ja nicht dabei.“ – Gott war in den KZs nicht dabei. Das ist eine radikale Anklage Gottes in der Form eines Witzes. Gott hat in den Lauf der Ge-

schichte nicht zum Guten eingegriffen. Tiefe Bitterkeit steckt darin, aber auch das genaue Wissen, dass die Gräuel der Nazis nicht Gottes Willen waren.

Aber wie passen das Böse und das Leiden in der Welt mit einem guten Gott zusammen? Diet- rich Bonhoeffers Lösung der Frage sieht so aus: Gott ist ein ohnmächtiger, ein mitleidender Gott. Er schickt nicht das Böse, sondern wird selbst Opfer der Menschen. Eine ähnliche Lö- sung des Problems bietet der jüdische Gelehrte Hans Jonas, von dem manche vielleicht sein ethisches Werk „Das Prinzip Verantwortung“ kennen. In einem Vortrag in Tübingen über den Gottesbegriff nach Ausschwitz vertrat Jonas die Ansicht, dass von den drei Gott zugeschrie- benen Eigenschaften Güte, Verstehbarkeit und Allmacht immer nur zwei zugleich zutreffen können. Wenn Gott allmächtig und verstehbar ist, dann kann man ihn nach Ausschwitz nur böse nennen. Wenn Gott allmächtig und gut ist, dann bleibt er angesichts des Bösen in der Welt rätselhaft. Beide Lösungen sind für Jonas nicht akzeptabel. Deshalb plädiert er dafür, Abstriche bei Gottes Allmacht zu machen. Wie Bonhoeffer plädiert auch Jonas für den leiden- den Gott, der selbst das Opfer menschlicher Bosheit wird und der mit den Opfern der Ge- schichte mitleidet.

Wenden wir das auf die Pandemie an und das Leiden und Sterben so vieler Menschen, dann ist Gott solidarisch mit den Kranken und Trauernden. Er nimmt Anteil, indem er durch Pfle- gende und Ärzt*innen hilft und rettet, indem Menschen einander beistehen, aneinander den- ken, den Kontakt halten, nach Wegen zur Besserung suchen. Auf diese Form der Nähe Gottes haben die Kirchen übrigens von Anfang an hingewiesen. Das schien aber vielen zu weltlich zu sein und zu wenig religiös. Deshalb meinten sie, die Kirche habe nichts Wegweisendes ge- sagt. Vielleicht liegt das Problem also auch an den Erwartungen der Öffentlichkeit. Man hätte gerne jemanden, der so richtig was Wegweisendes sagt, am besten vom Himmel herab und so,

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5 dass alles leichter und klarer wird und alle wissen, wo es lang geht. Diese Erwartungen aber mussten enttäuscht werden. Gegen Pandemien hilft Impfen besser als Predigen.

4. Soziodizee statt Theodizee

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat vor einigen Tagen ein Buch mit dem Titel „Un- behagen“ veröffentlicht. Er reflektiert darin die Überforderung der modernen Gesellschaft mit sich selbst. Das Problem bei der Pandemie ist, dass man zu hohe Erwartungen an die Gesell- schaft hat. Man wünscht gerne einen Ruck und die eine große Lösung. Aber komplexe Prob- leme wie eine Pandemie löst man eher mit Durchwursteln als mit großen Gesten. Nassehi war in mehreren Beratergremien während der Pandemie. Er weiß wovon er redet.

Die Gesellschaft, das ist eine schöne Pointe des Buches von Nassehi, tritt in der Moderne da- bei an die Stelle Gottes, was die Schuldfrage betrifft. An die Stelle der Theodizeefrage rückt die Soziodizeefrage: Nicht: Wie kann Gott, sondern: Wie kann die Gesellschaft, die so viel kann und weiß, so eine Katastrophe wie die Corona-Pandemie zulassen? Sie hat doch schein- bar alle Mittel sie in den Griff zu bekommen. Dass das eine Täuschung ist und warum die Lage viel komplizierter ist, erklärt Nassehi in seinem Buch überzeugend. Und angesichts des- sen war es vielleicht wirklich besser, dass die Kirchen nicht als die großen Pandemieerklärer aufgetreten sind.

5. Gott seriatim erfahren

Aber zurück zur religiösen Frage und zu unserem Psalm. Er nimmt ganz direkt Gott für das Ergehen der Menschen in Anspruch. Gott wirkt konkret in der Geschichte und in meinem Le- ben. Wir haben diese Vorstellung kritisch betrachtet und kennen alle Einwände. Aber allen Einwänden zum Trotz: Unser Psalm ist stark. Er hat eine kräftige, bilderreiche Sprache, er ar- tikuliert Erfahrungen, die wir kennen, bei denen wir uns verstanden fühlen und spontan mitbe- ten:

„Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen […]. Seine Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue.“

In diesen Bitten des Psalms klingt auch unser Hoffen mit. Wie können wir uns als moderne, kritisch prüfende Menschen diesen Psalm aneignen? – Ich will Ihnen die Lösung des

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6 jüdischen Gelehrten David. R. Blumenthal vorstellen. Sie hat sich in der Seelsorge immer wieder bewährt. (Christoph Morgenthaler, Seelsorge, 207). David Blumenthal regt im An- schluss an eine mittelalterlich-rabbinische Tradition an, Gott „seriatim“, also der Reihe nach zu verstehen. Gott ist, was er ist. Aber wir Menschen können immer nur verschiedene Facet- ten seines Wesens verstehen. Wir schwanken zwischen einander widerstreitenden Wahrneh- mungen. Gott erscheint abwechselnd zugewandt und abweisend, freundlich, aber auch feind- lich, heilsam aber auch gewalttätig. Die Erfahrungen wechseln also, Blumenthal nennt das se- riatim. Unser Psalm 85 benennt genau diese wechselnde Erfahrung mit Gott.

In systematischer Hinsicht ist das zwar etwas unbefriedigend, wenn Gott mal so mal so erfah- ren wird. Das Gottesbild wird dadurch uneinheitlich. Aber die Erfahrung der Seelsorge bestä- tigt, dass die Menschen mit uneinheitlichen Gottesbildern eigentlich kaum ein Problem haben.

Die intellektuelle Seite belastet niemand wirklich. Es ist die emotionale Seite, die belastet.

Menschen können gut mit logischen Widersprüchen leben, solange sie sich mit ihrer Not, ih- rem Leid, auch mit ihrer Wut und Enttäuschung an Gott wenden können. So bleibt Gott nah- bar und ein Gegenüber. Und genau darin liegt der große Trost, dass Gott ein starkes Gegen- über ist, das unsere Fragen, unseren Schmerz, unsere Trauer aushält.

Verstehen wir Gott mit Blumenthal seriatim, so macht es uns keine Mühe, angesichts der vie- len Opfer der Pandemie in die Worte des Psalmisten einzustimmen und mit ihm zu beten:

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande: Hilf uns, Gott, und lass ab von dei- ner Ungnade über uns! Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil! – Amen.

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