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Knickrehm, Wo stehen wir heute? Vor und nach der Entscheidung des BVerfG

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Wo kommen wir her? Wohin führt uns – oder besser die Politik die Entscheidung des BVerfG vom 5.11.20191 zu den Sanktionen im SGB II?

Zwischen diesen beiden Fixpunkten bewegt sich der folgende Beitrag, mit dem in das Kontaktseminar „Spezial-2021“ des Deutschen Sozialrechtsverbandes eingeführt worden ist und der die Basis für die weiteren Beiträge dieses Heftes bildet. Es werden die Konzeption des SGB II zwischen Arbeitsförderung und Fürsorge (I.), die einfachrechtliche Ausgangslage (II.), die tragenden Erwägungen des BVerfG (III.) und Folgerungen aus dieserEntscheidung – zwingende/optionale (IV.) dargelegt.

I.  Konzeption des SGB II zwischen Arbeitsförderung und Fürsorge

1.  HARTZ IV

Das BVerfG befasst sich in den Randnummern 2 bis 112 zur Einleitung seiner Entscheidung mit der „historischen“ Ent- wicklung des SGB II und bemüht dabei die Entwicklung des Fürsorgerechts von der Weimarer Republik über die Zeit des

Nationalsozialismus bis hin zur Bundesrepublik. Dieser Teil der Entscheidung bleibt solitär3, denn er ist letztlich weder in die verfassungsrechtliche Prüfung ansich integriert, noch hier- für zwingend erforderlich. Die Anknüpfung ausschließlich an das Fürsorgerecht verkürzt jedoch den Blick auf die Regelun- gen des SGB II. Denn schon die auch vom BVerfG erwähnte

„landläufige“ Bezeichnung HARTZ IV4 verdeutlicht, dass das SGB II ein Produkt der Hartz-Kommission ist, die Vorschläge für eine Modernisierung „am Arbeitsmarkt“ erarbeitet hat.

Deren Vorschläge besiegelten eine entscheidende Wende in der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik. Es war der Abschluss des Wandels von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarkt- Herausgeber:

Caritasverband für die Diözese Münster e.V.

Postfach 2120, 48008 Münster

Kardinal-von-Galen-Ring 45, 48149 Münster Telefon: 02 51/89 01-304

Telefax: 02 51/89 01-43 04 Redaktion:

Jeannette Breitkopf-Schönhauser, Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin), Münster; Dr. Sebastian Weber, Rechtsanwalt, München Alle Rechte vorbehalten.

Redaktionsbeirat:

Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Bernzen, Kanzlei Bernzen Sonntag, Hamburg; Rechtsanwalt Peter Frings, Münster; Heinrich Griep, Justitiar des Caritasverbandes für die Diözese Mainz; Dr. Christian Grube, Vorsitzender Richter am VG a. D., Hamburg; Prof. Dr. Ansgar Hense, Institut für Staatskir- chenrecht der Diözesen Deutschlands, Bonn/Dresden; Rechtsanwältin Dr. Eva Janotta, Kanzlei Brockerhoff Geiser Brockerhoff, Duisburg; Rechtsanwalt Markus Karpinski, Lüdinghausen; Sabine Knickrehm, Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht Kassel; Prof. Dr.  Katharina von Koppenfels-Spies, Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg; Dr. Thomas Meysen, Heidelberg; Rechtsanwalt Dr. Albrecht Philipp, München; Rechtsanwalt Dr.  Markus Plantholz, Kanzlei Dornheim, Rechtsanwälte und Steuerberater, Hamburg; Prof. Dr. Stephan Rixen, Professor an der Universität Bayreuth;

Prof. Dr. Andreas Siemes, Professor an der Fachhochschule Münster; Prof. Dr. Wolfgang Spellbrink, Vorsitzender Richter am Bundessozial gericht Kassel

Sonderheft 2021

25. Jahrgang, Seiten 169–224

SozialRecht

a k t u e l l

Zeitschrift für Sozialberatung

Wo stehen wir heute? Vor und nach der Entscheidung des BVerfG – Normkonzeption und -anwendung der Sanktionsregelungen des SGB II

Sabine Knickrehm, Kassel*

* Vorsitzende Richterin am Bundessozialgericht Kassel.

1 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23.

2 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23.

3 Vgl. Rixen, Das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 zu den Sanktionen im SGB II („Hartz IV“), SGb 2020, 1, 2.

4 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 11.

(2)

unabhängig davon welchen Maximen sie folgt – mit der Idee des „Förderns“ iS des die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit

„Beförderns“, das „Einhegen“ des Sanktionenregims begrün- den können. Nicht nur strikte Sanktionen, sondern Stärkung der Anreize sind ebenfalls „Aktivierung“.

II.  Einfachrechtliche Ausgangslage

1.  Gegenstand der Entscheidung des BVerfG

Der über 25-jährige Kläger des Ausgangsfall hatte in Kenntnis seiner Mitwirkungspflichten und ohne wichtigen Grund eine ihm angebotene zumutbare Beschäftigung abgelehnt. Auch war er einer Verpflichtung einen Aktivierungs- und Vermitt- lungsgutschein einzulösen, nicht nachgekommen. Die Sanktion wurde auf 60% des maßgebenden Regelbedarfs festgesetzt. Das BVerfG hatte damit nur über einen Teil der Sanktionsregelun- gen des SGB II zu entscheiden, insbesondere nicht über Sank- tionen für die Unter-25-Jährigen, nicht über Sanktionen wegen Meldeversäumnissen nach § 32 SGB II13 und Sanktionen iS des

§ 31 Abs. 2 SGB II. Gegenstand der Entscheidung des BVerfG war allein die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von § 31a SGB II iVm § 31 Abs. 1 SGB II und § 31b SGB II.

2.  Mitwirkungspflichten

Grundvoraussetzung ist in allen drei Fallkonstellationen des

§ 31 Abs. 1 SGB II:

n eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen oder Kenntnis des Leistungsberechtigten von diesen (so war es im Ausgangsfall) sowie,

n dass sie keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen können.

Bei den inkriminierten Pflichtverletzungen handelt es sich

n zum einen um die Weigerung die in der Eingliederungsver- einbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt festgelegten Pflichten zu erfüllen (im Ausgangsfall die Einlö- sung eines Aktivierungs- und Vermittlungsgutscheins) und politik5. Mit dem 4. Gesetz für Moderne Dienstleistungen am

Arbeitsmarkt erfolgte die Zusammenführung von Arbeitslosen- hilfe und Sozialhilfe, aus SGB III und BSHG. Der Blick allein auf „Sanktionen“ im SGB  XII ist daher unvollständig6. Das Sperrzeitenregime des SGB III folgt ähnlichen Regeln wie das Sanktionenregime des SGB II7 und steht diesem in Ausrichtung und Detailregelung näher als das des SGB XII oder des Asylb- Lrechts.

2.  Aktivierende Arbeitsmarktpolitik

Aktivierende Arbeitsmarktpolitik als Grundmodell der gesetzli- chen Konzeption ist eng mit dem (individuellen) „Fördern“ und dem die Sanktionen nach sich ziehenden (individuellen) „For- dern“ verbunden. Aktive Arbeitsmarktpolitik setzte hingegen am Arbeitsmarkt an, mit einem erheblichen Anteil an struktu- rellen Maßnahmen,8 die Einfluss auf den Arbeitsmarkt nehmen sollten. Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik geht davon aus, der Einzelne müsse zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit angeleitet, „aktiviert“ werden. In der Folge ist das SGB II mit einer Herabsetzung der Zumutbarkeitsanforderungen, gegen- über den bis dato nach dem SGB III auch beim Bezug von Alhi geltenden, verbunden. Ausdifferenzierte Mitwirkungspflichten sowie die Folgen deren Verletzung durch Sanktionen bis hin zur sog. „100%-Sanktion“ unterstreichen den Aspekt des Forderns, als Ausdruck des im Vordergrund der gesetzlichen Konzeption stehenden Aktivierungsverlangens.

3.  Nachranggrundsatz

Das BVerfG verortet die einfachrechtliche Legitimation der Sanktionen durch Minderung des Alg-II-Anspruchs wegen der Verletzung einer Mitwirkungspflicht in eben diesem Grund- satz des „Forderns“ in § 2 SGB II9. Diesen verbindet es dann mit dem die Sanktionierung rechtfertigenden „Nachrang- grundsatz“ als legitime gesetzgeberische Ausgestaltung des Sozialstaatprinzips des Art. 20 GG. In der Gemengelage zwi- schen „Fordern“ im Existenzsicherungsrecht und „Nachrang“

der existenzsichernden Leistungen betont das BVerfG, das GG kenne zwar keine allgemeinen Grundpflichten der Bürgerin- nen und Bürger. Insbesondere die Menschenwürde sei ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert10; sie müsse nicht erarbeitet werden, sondern stehe jedem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen sei Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG11. Diesen Auftrag verfehle der Gesetzgeber nicht, wenn er die Gewährung staatlicher Hilfe davon abhängig mache, dass Betroffene aufgrund von Mitwirkungspflichten angehalten seien selbst aktiv an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit mitzuwirken oder zu verhindern, dass diese eintrete12. Die Ak- tivierung mündet – wenn Betroffene nicht aktiv werden – in Sanktionen, ausgestaltet als Minderung des Alg-II-Zahlungs- anspruchs. Anstatt an dieser Stelle ausschließlich den fürsor- gerisch geprägten Nachranggrundsatz zu bemühen, hätte der Blick auf das SGB II als arbeitsmarktpolitische Maßnahme –

5 Vgl. S. Knickrehm in FS für Bieback, Arbeitsmarktpolitik in der Krise, 2010, 27, 31 ff; dieselbe, Arbeitsmarktpolitik und Sanktionen im SGB II und SGB III – Entwicklung, Auswirkungen und Wirkungen, ArbuR 2011, 237.

6 S. aber BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozialrecht aktuell 2020, 23, Rn. 10.

7 Das BVerfG erwähnt dies nur in zwei Sätzen BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozialrecht aktuell 2020, 23, Rn. 24 zur Abgrenzung der Mitwirkungspflichten nach § 140 SGB III, die im Gegensatz zu § 10 SGB II einen sog. „Berufsschutz“ kennen und Rn. 27 zur Wirkung des Ruhens des Alg-Anspruchs aufgrund einer Sperrzeitnach § 159 SGB III.

8 zB Strukturanpassungsmaßnahmen, produktive Arbeitsförderung Ost.

9 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, Rn. 11

10 vgl. BVerfG Bes. v. 20.10.1992 – 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209 <228>, NJW 1993, 1457.

11 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, Rn. 123.

12 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, Rn. 125, 126.

13 § 32 Abs. 1 S. 1 – 10% des maßgebenden Regelbedarfs und nach § 32 Abs. 2 Hinzutritt zu den Minderungen nach § 31a SGB II.

(3)

14 Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölf- ten Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 9.12.2020 (BT-Drucksache 19/22750 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Gesetzentwurf vom 4.11.2020 – BT-Drucksache 19/24034), BGBl 2020 I, 2855.

15 BVerfG Urt. v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, BVerfGE 125, 175, SozR 4-4200 § 20 Nr 12, BGBl I 2010, 193, Sozialrecht aktuell 2010, 69.

16 BVerfG Urt. v. 27.7.2016 – 1 BvR 371/11, BVerf_GE 142, 353, Rn. 37.

17 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 120; Vgl. ausführlich zur Rezeption der Le- bach-Entscheidung des BVerfG v. 5.6.1973 <1 BvR 536/72, BVerfGE 35, 202, 236, NJW 1973, 1227, juris Rn. 72> in diesem Kontext, Rixen, Das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 zu den Sanktionen im SGB II („Hartz IV“), SGb 2020, 1, 3.

18 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 127.

19 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 145.

20 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 147.

III.  Tragende Erwägungen des BVerfG 1.  Gewährleistung des Existenzminimums

Das Gericht hat sich zunächst auf bereits aus den Entscheidun- gen der Jahre 201015 und 201616 bekannte verfassungsrechtli- che Grundlegungen gestützt – auf die Ableitung des Anspruchs des Einzelnen gegen den Staat auf Gewährleistung des Existenz- minimums aus Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 1 GG.

Dem fügt das BVerfG – im Zusammenhang mit seiner Recht- sprechung zum Existenzsicherungsrecht  – „neue“ Aspekte hinzu. Zum einen stehe der Anspruch fundiert durch die Men- schenwürde, allen zu und gehe selbst durch vermeintlich „un- würdiges“ Verhalten nicht verloren17. Zum zweiten schließt das BVerfG staatliche Bevormundung durch ein Fürsorgesystem aus; etwa in Gestalt von Sanktionen, die auf den Versuch der Besserung gerichtet sind18.

2.  Verhältnismäßigkeit von Mitwirkungspflichten

Im Ausgangspunkt seiner Ausführungen bestimmt das BVerfG zunächst, was legitimes Ziel der Mitwirkungspflichten ist. Es erkennt es zur Durchsetzung des Nachranggrundsatzes, auch iS der Schonung der Mittel der Allgemeinheit, in der Ausschöp- fung aller Möglichkeiten zur Überwindung, Verringerung oder Vermeidung eigener Hilfebedürftigkeit durch Rückkehr zur Er- werbsarbeit. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten des

§ 31 Abs. 1 SGB II ist nach dem Urteil des BVerfG zur Errei- chung dieses Ziels geeignet, erforderlich und „zumutbar“. Von vornherein ungeeignete Mitwirkungspflichten, würden durch

§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB II in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße ausgeschlossen, wenn ein wichtiger Grund der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entgegengehalten werden könne. Der Gesetzge- ber überschreite auch nicht seinen Einschätzungsspielraum zur Erforderlichkeit. Denn es sei nicht evident, dass weniger belas- tende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dassel- be wie die Mitwirkungspflichten bewirken könnten19. Ebenso beachte das Gesetz, dass Mitwirkungspflichten zumutbar sein müssten. § 31 Abs. 1 SGB II setze die Zumutbarkeit der Mit- wirkung iS des § 10 SGB II voraus20.

n zum zweiten um die Weigerung eine zumutbare Arbeit (so der Ausgangsfall), Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach

§ 16d (Ein-Euro-Job) oder ein nach § 16e gefördertes Ar- beitsverhältnis aufzunehmen oder fortzuführen. Dasselbe gilt, wenn Leistungsberechtigte deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern.

n Als drittes ist sanktionsbewehrt, wenn Leistungsberechtig- te eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch ge- geben haben.

3.  Sanktionen

a.  § 31a SGB II – Höhe

n Nach dessen Abs. 1 mindert sich das Alg II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtig- te Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs.

n Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung  – innerhalb eines Jahres – beträgt die Minderung des Alg II 60 % des benannten Regelbedarfs, wie im Ausgangsfall.

n Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das AIg II vollständig.

Erklären sich Leistungsberechtigte allerdings nachträglich be- reit, ihren Pflichten nachzukommen, steht es im Ermessen des Leistungsträgers das vollständige Entfallen des Alg II ab dem Erklärungszeitpunkt auf eine Minderung von 60 % des maßge- benden Regelbedarfs zu reduzieren.

Kurz in Zahlen: Der maßgebliche Regelbedarf eines Allein- stehenden beträgt zurzeit 446 Euro14. Bei einer Minderung des Alg II um 30 % verbleiben davon 312,20 und bei 60 % 178,40 Euro im Monat.

n Wird diese Minderungsstufe von 30 % überschritten steht es im Ermessen des Leistungsträgers auf Antrag der Leis- tungsberechtigten in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erbringen.

n Verpflichtet ist der Leistungsträger hierzu, wenn Leistungsbe- rechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben.

n Bei einer Minderung des Alg II um mindestens 60 % des maßgebenden Regelbedarfs soll das Alg II, soweit es für den Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II erbracht wird, an den Vermieter oder andere Empfangsbe- rechtigte gezahlt werden.

b.  § 31b SGB II – Beginn und Dauer

n Die Minderung beginnt grundsätzlich mit dem Kalendermo- nat, der auf das Wirksamwerden des die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellen- den Verwaltungsaktes folgt. Allerdings ist die Feststellung der Minderung nur innerhalb von 6 Monaten ab dem Zeit- punkt der Pflichtverletzung zulässig.

n Der Minderungszeitraum beträgt 3 Monate.

n Der geminderte Zahlungsanspruch auf Alg  II  kann nicht durch Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB  XII er- gänzt werden.

(4)

21 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 154.

22 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 155.

23 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 158.

24 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 158, 164, 165 ff, 175.

25 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 182 f, 184f.

26 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 189, 193.

27 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 209.

28 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 215.

es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen an- gebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Ver- mögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, ob- wohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegen- stehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen27.“

IV.  Folgerungen aus der Entscheidung des BVerfG – zwingende/optionale

Das BVerfG hat die benannten Regelungen mit dem GG für un- vereinbar erklärt – nicht für nichtig. Dies bedeutet, sie sind mit den Vorgaben des BVerfG und nur bis zu einer vom Gesetzge- ber geforderten neuen Ausgestaltung der Sanktionsvorschriften iS der Entscheidung des BVerfG weiter anwendbar.

1.  Was muss aus dem Urteil des BVerfG folgen?

n Eine Sanktion von 30% des maßgebenden Regelbedarfs ist grundsätzlich verfassungsgemäß und kann einer Mitwir- kungspflichtverletzung weiterhin folgen.

n Die Sanktion in dieser Höhe muss allerdings verhältnismä- ßig sein, dh sie muss eine Verringerung des Umfangs und eine Verkürzung des Minderungszeitraums im Fall einer außergewöhnlichen Härte ermöglichen, der wichtige Grund des § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II reicht insoweit nicht.

n Sanktionen von mehr als 30 % des maßgebenden Regelbe- darfs oder das vollständige Entfallen des Zahlungsanspruch auf Alg II sind nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ver- fassungswidrig. Hier ist allerdings einschränkend hinzuzu- fügen, dass das BVerfG dies ausschließlich auf die wieder- holte Pflichtverletzung bezieht28. Inwieweit dies auch für Sanktionen nach Meldeversäumnissen gilt führt es aufgrund des beschränkten Streitgegenstandes nicht aus.

3.  Verhältnismäßigkeit von Sanktionen a.  30 %-Sanktion

Dem Grunde nach, so das BVerfG, verfolge der Gesetzgeber ein legitimes Ziel, wenn er Sanktionen zur Durchsetzung von Mit- wirkungspflichten gegenüber den Leistungsberechtigten einset- ze21. Insoweit folgten sie dem Konzept des „Förderns und For- derns“ mit Blick auf die Finanzierbarkeit des Grundsicherungs- systems22. Allerdings seien die Sanktionen nach §§ 31a und 31b SGB II nicht in jeder Hinsicht verhältnismäßig23.

Die in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II normierte Leistungsminderung um 30 % des maßgebenden Regelbedarfs sei auf der Grundla- ge plausibler Annahmen zwar hinreichend tragfähig begründet.

Die gesetzgeberische Entscheidung Sanktionen in dieser Höhe für grundsätzlich geeignet zu halten ihr Ziel zu erreichen, liege in seinem Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum24. Gleich- wohl könnten auch sie ungeeignet sein. Dies gelte wenn etwa von vornherein feststehe, das legitime Ziel, den Leistungsberechtigten zur Mitwirkung zu bewegen, könne nicht erreicht werden. Dem Jobcenter müsse mithin eine Möglichkeit zur Verfügung stehen, im Einzelfall nicht zwingend eine Sanktion in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs auszusprechen. Auch der bewusst starre Zeitraum der Minderung des Auszahlungsanspruchs von 3 Monaten nach § 31b SGB II verhindere, dass nur geeignete Sank- tionen ausgesprochen würden. Denn derzeit minderten sie das Alg II, unabhängig davon, ob die Betroffenen ihre Pflichten nach- träglich doch erfüllten oder sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärten künftig mitwirken zu wollen. Aus diesen Gründen äu- ßert das BVerfG auch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit der 30-%-Sanktion im engeren Sinne. Die zwingende Minderung ohne weitere Prüfung sei unzumutbar25.

b.  60- und 100-%-Sanktion

Die in § 31a Abs. 1 S. 2 SGB II im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II vor- gegebene Minderung der Leistungen in einer Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs ist hingegen ebenso wie der vollständige Wegfall des Alg II nach § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II mit dem Grundge- setz in der derzeitigen Ausgestaltung des SGB II in dieser gravieren- den Höhe nicht vereinbar. Insoweit bemängelt das BVerfG vor allem das Fehlen tragfähiger Erkenntnisse zur Eignung und Erforderlich- keit einer Sanktion in dieser Höhe26. Die Vorkehrungen des Gesetz- gebers das eklatante Unterschreiten des Existenzminimums durch eine derartige Sanktion abzumildern – hier sei erinnert: Dienst- und Sachleistungsangebote, sowie die Übernahme der Kosten der Unter- kunft und Heizung durch Direktzahlung an den Vermieter – reiche nicht aus. Es sei zwar dem Grunde nach nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber diese Ergänzungsleistungen zur Verfügung stelle. Es fehle jedoch an näheren gesetzlichen Vorgaben insoweit.

c.  Anspruchsvernichtende Verletzung der Mitwirkungspflicht Gleichwohl und etwas unvermittelt führt das BVerfG aus „An- ders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte

(5)

29 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 213.

30 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 185.

31 BVerfG Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, BGBl I, 2046, BVerfGE 152,68, Sozial- recht aktuell 2020, 23, Rn. 185.

32 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz. 31.1.

33 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.31.

34 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.34.

35 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.22.

36 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.18.

37 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.19.

38 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.46.

39 Bundesagentur für Arbeit, Fachliche Weisungen SGB°II §§ 31, 31a, 31b, Stand 3.12.2019, Rz.31.47.

Zur Sachverhaltsaufklärung wird auf die ggf. zu erfolgende persönliche Anhörung hingewiesen38. Dabei könnten auch al- ternative Formen der Kontaktaufnahme genutzt werden (z.B.

telefonische Kontaktaufnahme oder aufsuchende Formen, ein- schließlich Outbound)39.

4.  Was kann aus dem Urteil des BVerfG zukünftig folgen?

Es liegt ein Referentenentwurf des BMAS vor, der allerdings das Stadium des Gesetzentwurfs – bisher – nicht erreicht hat. Damit wird es wohl der neuen Bundesregierung nach der nächsten Wahl vorbehalten bleiben die vom BVerfG geforderte Neurege- lung zu treffen. Es sollen an dieser Stelle daher nur die Kerne- relemente dessen zusammengefasst werden, was der Referente- nentwurf beinhaltet:

n Leistungsminderungen wegen wiederholter Pflichtverletzun- gen und Meldeversäumnisse dürfen höchstens 30 Prozent des maßgebenden monatlichen Regelbedarfs betragen.

n Eine Leistungsminderung darf nicht erfolgen, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte füh- ren würde.

n Leistungsminderungen sind aufzuheben, wenn die Leistungs- berechtigten nachträglich glaubhaft erklären, ihren Pflichten nachzukommen oder die Mitwirkungspflicht erfüllen.

n Die bisherigen Sonderregelungen für die unter 25-Jährigen entfallen.

n Den Leistungsberechtigten wird die Möglichkeit eröffnet, die Umstände ihres Einzelfalls persönlich vorzutragen. Ver- letzen sie wiederholt ihre Pflichten oder versäumen Melde- termine, soll das Jobcenter sie persönlich anhören.

n Die Eingliederungsvereinbarung soll zum Kooperationsver- trag werden und mit einem § 15a eine eigenständige Vor- schrift zu den Mitwirkungspflichten geschaffen werden.

V.  Fazit

Im Spannungsfeld zwischen dem Auftrag der Verfassung an den Gesetzgeber das Existenzminimum eines jeden Bürgers in

n Ergänzende Leistungen sind genau zu bestimmen, im Hin- blick auf Inhalt und Umfang. Sie dürfen alsdann nicht ins Ermessen des Jobcenters gestellt werden.

2.  Welche Lösung bietet das BVerfG an?

n Der Gesetzgeber könne auf die Vorgabe der Leistungsmin- derungen als Sanktionen verzichten, anstelle von Sanktio- nen die Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen oder geldwerte Leistungen vorgeben29.

n Er könne auch eine Regelung schaffen, die bei einer Ver- letzung von Mitwirkungspflichten geringere als die bisher geregelten oder je nach Mitwirkungshandlung unterschied- liche Minderungshöhen vorsehe.

n Der Gesetzgeber könne die Sanktion in das Ermessen der zuständigen Behörde stellen, die dann von ihr absehen könne, wenn die Sanktion erkennbar ungeeignet sei30.

n Er könne die Zumutbarkeit der Sanktion im Einzelfall aber auch durch eine Härtefallregelung sicherstellen, die es der Behörde ermögliche, von einer unzumutbaren Sanktion ab- zusehen31.

n Auch habe der Gesetzgeber unterschiedliche Möglichkei- ten, um außergewöhnliche Härten zu verhindern, die durch eine zwingende Sanktionierung entstehen könnten. Zudem könne er die Dauer einer Sanktion unterschiedlich ausge- stalten, indem er nach Mitwirkungshandlungen oder auch zwischen nachgeholter Mitwirkung und der Bereitschaft, in Zukunft mitzuwirken, unterscheide.

3.  Was folgert die Bundesagentur aus dem Urteil des BVerfG?

Sie weist darauf hin, dass nach der Entscheidung des BVerfG die Minderung des Auszahlbetrags maximal 30 % des maßge- benden Regelbedarfs ausmache32, unabhängig davon, ob es sich um eine erste oder eine weitere Pflichtverletzung handele33. Dies gelte auch beim Hinzutritt eines weiteren Sanktionstatbestan- des, etwa durch eine Meldepflichtverletzung. Dieser wirke sich im Hinblick auf die Höhe des Minderungsbetrags nicht mehr aus34. Sie stellt fest, auch auf die Pflichtverletzungen nach § 31 Abs.  2 SGB  II fänden die Grundsätze der Entscheidung des BVerfG Anwendung35.

In die Handlungsanleitung der BA ist zudem der Aspekt der Verhältnismäßigkeit der Sanktion eingefügt worden36. Dabei umschreibt sie auch Fälle einer außergewöhnlichen Härte37. Ebenso hat sie Änderungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Minderungsbetrag bzw. die Verkürzung des Minderungszeit- raum nach nachträglicher Mitwirkung/Bereiterklärung zur Mitwirkung – und zwar für alle nach § 31 Abs. 1 SGB II festge- stellten Sanktionen – aufgenommen.

Zu den Unter-25-Järigen (Vollendung des 15. Lebensjahres bis Vollendung des 25. Lebensjahres) wird darauf hingewiesen, dass auf sie die Regelungen für Personen ab 25 Jahren ebenfalls Anwendung fänden, soweit dies nicht zu einer Schlechterstel- lung der Person unter 25 Jahren im Vergleich zur gesetzlichen Regelung des § 31a Absatz 2 SGB II führe.

(6)

40 Schifferdecker/Brehm, Sanktionsurteil des BVerfG: Befriedung eines erbitterten Konflikts, NZS 2020, 1, 6.

41 Rixen, Das Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 zu den Sanktionen im SGB II („Hartz IV“), SGb 2020, 1.

42 Sieper, Die Sanktionen nach dem SGB II  – Karlsruhe locuta, causa finita?, jM 2020,202, 208.

teil der unendlichen verfassungsrechtlichen Leidensgeschichte des SGB II ein neues Kapitel hinzugefügt habe41. Nun ist es am Gesetzgeber aus dieser Entscheidung eine verfassungsrechtlich tragfähige gesetzliche Reglung zu machen oder wie es Sieper bildlich beschreibt, ist der Ball beim Gesetzgeber42.

Deutschland zu gewährleisten und den, den Bürgern obliegen- den Mitwirkungspflichten, wenn sie existenzsichernde Sozial- leistungen beziehen, hat das BVerfG mit der Begrenzung der Sanktionshöhe auf zur Zeit maximal 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs und der Forderung nach flexiblen Anpassungs- möglichkeiten im Hinblick auf die Höhe und die Dauer der Sanktion unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ein gleichsam salomonisches Urteil gesprochen. Die Begrün- dung des Urteils atmet die Luft des Kompromisses. Schiffer- decker/Brehm formulieren, das BVerfG habe den Sanktionen den Strafcharakter genommen, ohne zugleich die Verhaltens- steuerung zu beseitigen40. Rixen meint allerdings dass das Ur-

Zukunft der Sanktionen (nicht nur) im SGB II – Anmerkungen aus rechtswissenschaftlicher Sicht

Prof. Dr. Stephan Rixen*

* Der Verfasser ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth. – Schriftliche Fassung eines Statements zu Beginn der Podi- umsdiskussion beim Kontaktseminar „spezial“ des Deutschen Sozial- rechtsverbandes am 22.2.2021.

1 BVerfGE 152, 68.

2 BVerfGE 125, 175.

3 Rixen, SGb 2020, 1 ff.

4 In erster Linie deshalb, weil das BVerfG mithilfe des Grundrechts auch evidente Unterschreitungen des Existenzminimums verhindern will, ohne allerdings Kriterien zu benennen, die präzise erkennen ließen, was eine evidente Unterschreitung ist (vgl. BVerfGE 125, 175 [226, 229 ff., 256]).

5 BVerfGE 152, 68, Rn. 128.

6 So ließe sich der Verweis in BVerfGE 152, 68, Rn. 135 auf BVerfGE 142, 353 (371, Rn. 39) verstehen, wo u.a. auch auf die „Selbstbestimmung […]

(Art. 2 Abs. 1 GG)“ hingewiesen wird. Dieser Verweis findet sich aber nicht an der Stelle, an der das BVerfG im Urteil vom 5.11.2019 von der

„Handlungsfreiheit“ spricht ( BVerfGE 152, 68, Rn. 128).

7 S. hierzu Davy, VVDStRL 68 (2009), 122 (140 ff.).

8 BVerfGE 152, 68, Rn. 135.

9 Wie noch in der Entscheidung BVerfGE 142, 353, Rn. 39 a.E.: „Eine Grenze kann die Anrechnung auch in der Selbstbestimmung der Beteiligten (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit in der Gestaltung des familiären Zu- sammenlebens (Art. 6 Abs. 1 GG) finden.“

auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ist oder eigenständig neben diesem Grundrecht steht,6 bleibt un- klar. M.E. spricht mehr dafür, von einem einheitlichen, um einen weiteren Garantiegehalt angereicherten Grundrecht auf Gewähr- leistung des menschenwürdigen Existenzminimums auszugehen.

Die Pointe dieses Grundrechts liegt ja darin, dass es sich gegen alle Versuche wendet, die einzelnen Teilbereiche des Existenzmi- nimums speziellen Grundrechten zuzuordnen.7

Diese Linie weicht das BVerfG in seinem Urteil vom 5.11.2019 auf, wenn es ausführt:8 Sanktionen „müssen […] zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten, die auf die eigenständige Existenzsiche- rung gerichtet sind, etwa dem Schutz der Familie aus Art. 6 GG, dem Schutz der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und dem Schutz der Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG Rechnung tragen.“

Das klingt nicht danach,9 dass die Grundrechtsbestimmungen als I.  Einleitung

Zur Diskussion über die Zukunft der Sanktionen im SGB II möchte ich aus rechtswissenschaftlicher Sicht einige Gedanken beisteuern. Zunächst sei kurz an den grundrechtlichen Hinter- grund erinnert, der mit dem Urteil des BVerfG vom 5.11.20191 noch komplexer geworden ist, als er es seit der „Hartz IV“- Leit entscheidung vom 9.2.20102 ohnehin schon war (dazu II.

1.). Dann will ich an den Sinn der Sanktionen im SGB II erin- nern, der sich mit der Entscheidung des BVerfG vom 5.11.2019 verändert hat (dazu II. 2.). Schließlich will ich erste Überle- gungen der gesetzesvorbereitenden Ministerialbürokratie, die Konsequenzen aus dem Urteil vom 5.11.2019 ziehen, näher betrachten (dazu II. 3.). Die Schlussbemerkung geht auf einige Aspekte ein, die mit der Rolle des BVerfG im Bereich der Sozial- politik und des Sozialrechts zu tun haben (dazu III.).

II.  Sozialpolitik als Verfassungsvollzug?

1.  Ein Grundrecht voller Überraschungen

Die Kritik am Urteil des BVerfG vom 5.11.2019, die ich ander- norts vorgelegt habe,3 will ich hier nicht in extenso wiederholen.

In aller Kürze nur so viel: Das Urteil des BVerfG erweitert das aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) hergeleitete Grundrecht auf Gewährleistung des menschen- würdigen Existenzminimums  – es ist in erster Linie4 ein auf stimmige Begründung der existenzsichernden Bedarfe durch den Gesetzgeber gerichtetes Leistungsgrundrecht – um eine abwehr- rechtliche Dimension. Das Gericht spricht insofern unspezifisch von der „Handlungsfreiheit“5, die es der einzelnen hilfsbedürfti- gen Person gestatte, unzumutbare Inpflichtnahmen, die mit der Gewährleistung des Existenzminimums verbunden sind, abzu- wehren. Ob diese Handlungsfreiheit Bestandteil des Grundrechts

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