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Stellungnahme des DGB zum EU-Sondergipfel “Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt” in Lissabon, 23.-24. März 2000

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Stellungnahme des DGB zum EU-Sondergipfel

“Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt”

in Lissabon, 23.-24. März 2000

Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten für die Länder der EU sind so gut wie lange nicht mehr. Die Inflation ist niedrig, die Defizite der öffentlichen Haushalte wurden erheblich abgebaut, und für die kommenden Jahre werden Wachstumsraten von mehr als drei Prozent erwartet. Trotzdem existieren die drängenden sozialen Probleme weiter: Hohe

Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und die Gefahr künftiger Ungleichgewichte in unseren Systemen der sozialen Sicherheit erfordern mutige Reformen jetzt.

Wer sich auf die Kraft des wirtschaftlichen Aufschwunges alleine verlässt und sich um die notwendigen strukturellen Reformen drücken will, erweist der Zukunftsfähigkeit des europäischen Modells keinen guten Dienst.

Der Zeitpunkt ist gekommen, die Rückkehr zur Vollbeschäftigung in der Union endlich zum strategischen Hauptziel zu machen und die gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinschaft auf dieses Ziel auszurichten.

Den Weg in eine neue, wissensbasierte Wirtschaft zu beschreiten, die nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialen Zusammenhalt sicherstellt – dies ist der Anspruch, an dem die politischen Entscheidungen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon gemessen werden.

Zu den detaillierten Vorschlägen des portugiesischen Ratsvorsitzes und der Europäischen Kommission nimmt der Deutsche Gewerkschaftsbund wie folgt Stellung:

1. Ein Wachstumsziel von drei Prozent als Untergrenze

Der DGB begrüßt die Initiative der portugiesischen Ratspräsidentschaft, eine nachhaltige Wachstumsrate von mindestens drei Prozent für die EU anzustreben. Wir fordern, dass dieses quantitative Ziel in den “Grundzügen der Wirtschaftspolitik” verankert wird, damit sich künftig alle wirtschaftspolitischen Akteure daran messen lassen können.

Wird das Wachstumsziel verfehlt, sollte eine detaillierte Ursachenanalyse unternommen werden, die auf der Bewertung der Politik der verschiedenen Akteure beruht, und aus der Vorschläge für die Zukunft abgeleitet werden.

In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass nun auch die Bundesregierung die Setzung von Wachstumszielen befürwortet.

2. Wirtschaftswachstum mit sozialem Zusammenhalt verbinden

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Der DGB begrüßt den portugiesischen Ansatz einer Gesamtstrategie, die sowohl das Wirtschaftswachstum als auch den sozialen Zusammenhalt fördert, neue und bessere Jobs schaffen soll und gleichzeitig die Preisstabilität wahrt. Sie muss dabei neue

Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähigere europäische Wirtschaft schaffen und gleichzeitig ein modernisiertes europäisches Sozialmodell bewahren, dass sich bewusst vom Wirtschaftssystem der Vereinigten Staaten abhebt.

Unter dem Leitgedanken einer optimalen Anwendung neuer Technologien und dem Aufbau einer europäischen Wissensgesellschaft steht und fällt der portugiesische Ansatz mit dem Bemühen, das soziale Umfeld und die natürliche Umwelt einzubeziehen und das Prinzip der Nachhaltigkeit auch über eine neue Beteiligungs- und Unternehmenskultur zu verwirklichen.

Europas Bürgerinnen und Bürger verfügen über genügend Innovationsfähigkeit und

Kreativität. Es gilt, diese Fähigkeiten endlich für ein nachhaltiges Wachstum und strukturellen Wandel nutzbar zu machen.

In seinen makroökonomischen Überlegungen schlägt der portugiesische Ratsvorsitz auch vor, die “multilaterale Beobachtung” der Haushaltspolitik auf weitere Bereiche auszudehnen (Stichwort: “Qualität der Ausgaben”), was der DGB genauso begrüßt wie die Beseitigung der seit langem bekannten Defizite in der Koordinierung der Steuerpolitiken. Der schädliche Steuerwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedsstaaten muss endlich aufhören.

Außerordentlich begrüßenswert ist der Vorschlag, eine gesamtwirtschaftliche Strategie zum Umgang mit asymmetrischen und globalen Schocks zu entwickeln. Der DGB schlägt vor, dieses Thema auf die Tagesordnung des Makroökonomischen Dialoges zu setzen.

3. Der Weg in die Wissensgesellschaft

Der DGB begrüßt den Ansatz von Kommission und Ratspräsidentschaft, sich den Herausforderungen des Strukturwandels mit einer ressortübergreifenden integrierten Strategie zu stellen, in deren Zentrum das Hervorbringen von Wissen und die Stärkung der Innovationsfähigkeit steht.

Dabei ist es jedoch noch kein Wert an sich, den technischen Wandel in Europa zu

beschleunigen. Nur durch umfangreiche soziale und institutionelle Reformen lässt sich das große Potential an Produkt- und Dienstleistungsinnovationen auch beschäftigungswirksam zu erschließen.

Entscheidende Bedeutung kommt dem “Rohstoff Wissen” bei der Bewältigung des

strukturellen Wandels zu. Hier verweist die Kommission zurecht auf eklatante Defizite in den Bildungssystemen der Mitgliedsstaaten, sowie bei der Medienkompetenz in weiten Kreisen der Bevölkerung. Die Absicht der Kommission, in diesem Bereich mit einem Aktionsplan und festen Zielvorgaben zu operieren und zur Verbreitung erfolgreicher Praktiken beizutragen, wird von uns unterstützt.

Die Idee einer “europäischen Lerngesellschaft” kann aber nur dann verwirklicht werden, wenn nicht nur in die technische Ausstattung, sondern auch in neue pädagogische Konzepte und die Qualifizierung der Lehrenden mehr investiert wird.

Berufliche Aus- und Weiterbildung und das lebenslange Lernen sind wichtige Elemente einer proaktiven Beschäftigungspolitik. Hier schließt sich die EU-Kommission unserer Meinung an, dass bei der Heranbildung einer qualifizierten Arbeitnehmerschaft den Sozialpartnern eine besondere Verantwortung zukommt. Das deutsche Bündnis für Arbeit ist ein positives

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Beispiel dafür, wie diese gemeinsame Verantwortung zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze für unsere Jugendlichen wahrgenommen wird.

Es ist richtig, dass der Einsatz von IuK-Techniken in neuen gesellschaftlichen Bedarfsfeldern nicht nur zusätzliche Beschäftigungspotentiale erschließt, sondern ganz allgemein zur Verbreitung der neuen Kommunikationstechniken beiträgt. Hier müssen staatliche Einrichtungen mehr als bisher sowohl als Nachfrager wie auch als Anwender zu echten Innovationsbeschleunigern werden. Als Beispiele seien hier der vermehrte IuK-Einsatz im öffentlichen Dienst, aber auch der kostenlose Internetzugang für die Bürgerinnen und Bürger in öffentlichen Einrichtungen genannt. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die

Gemeinschaftsinitiative “eEurope”, die sich ja den Netzzugang für alle zum Ziel gemacht hat.

Der DGB bedauert, dass in den Vorstellungen von Kommission und Ratspräsidentschaft nur wenig über die Bedeutung innovativer Formen der Arbeits- und Unternehmensorganisation zu finden ist, die zur Förderung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten unabdingbar sind.

Dies ist für uns umso unverständlicher, als hierzu bereits im Gefolge des EU-Grünbuchs

“Eine neue Arbeitsorganisation im Geiste der Partnerschaft” eine Vielzahl von Initiativen ergriffen worden sind. In diesem Zusammenhang möchte der DGB auch darauf hinweisen, dass die rapide Zunahme der grenzüberschreitenden Telearbeit dringend die Setzung sozialer Mindeststandards in diesem Bereich erforderlich macht.

Einen weiteren Mangel sehen wir darin, dass in den Kommissions-Vorschlägen nur vage Andeutungen darüber zu finden sind, wie man den Weg in eine Wissensgesellschaft mit einer aktiven Strategie für eine nachhaltige Entwicklung verbinden kann. IuK-Techniken können auch für eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft und Energieeinsparungen nutzbar gemacht werden und vollkommen neue Beschäftigungsfelder öffnen.

Verbraucherschutz, soziale Regulierung der Telekommunikation und die Sicherung der Meinungsvielfalt angesichts von Konzentrationsprozessen im Medienbereich sind Themen, die in den Vorschlägen für den Lissaboner Gipfel überhaupt nicht vorkommen. Gleichwohl werden in diesen Politikfeldern Rahmenbedingungen gesetzt, die darüber mitentscheiden, wie bürgernah die Konzepte der europäischen Lerngesellschaft wirklich sein werden.

4. Kein weiterer Prozess erforderlich

Kommission und Ratspräsidentschaft sind in ihrer Ansicht zu unterstützen, dass nach dem Luxemburg-Prozess (Beschäftigung), dem Cardiff-Prozess (Strukturwandel) und dem Köln- Prozess (Makroökonomische Koordinierung) in Lissabon kein weiterer Bedarf an

Institutionalisierung besteht. Der DGB ist der Meinung, dass dem Europäischen Beschäftigungspakt alle Instrumente zur Verfügung stehen, um die drei Prozesse

miteinander zu koordinieren und die neue Strategie zum Ausbau der Wissensgesellschaft umzusetzen.

Das “hochrangige Forum”, das Anfang Juni in Portugal stattfinden wird, und an dem neben der Kommission, der EZB und den Mitgliedsregierungen auch die Organisationen der Sozialpartner beteiligt sind, wird eine erste Gelegenheit bieten, die politischen Beschlüsse des Sondergipfels in die drei Säulen des Beschäftigungspaktes zu integrieren, quantitative Indikatoren für ihre Umsetzung zu vereinbaren und schließlich auch entsprechende

Vorschläge für die Bereitstellung von Ressourcen zu machen.

Der DGB begrüßt den Vorschlag, den “Grundzügen der Wirtschaftspolitik” mehr Gewicht als Rahmendokument zu verleihen und sie gegebenenfalls auch thematisch auszuweiten. Ein

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solcher politischer Beschluss muss aber zwingend mit einer Anpassung des bisherigen Verfahrens bei der Erstellung der Grundzüge einhergehen.

Wir warnen vor allem vor einer Entwicklung, wo andere Fachräte zwar ihren Beitrag leisten dürfen, die alleinige Entscheidung über die Verabschiedung der Empfehlungen aber weiterhin beim ECOFIN-Rat bleibt. Es muss stattdessen gewährleistet sein, dass die anderen Räte ihre spezifischen Kompetenzen in den verabschiedeten Texten angemessen wiederfinden.

Darüber hinaus sollte das Europäische Parlament stärker als bisher in die Erstellung der wirtschaftspolitischen Grundzüge eingebunden werden.

5. Rolle der Sozialpartner

Die Rolle der Sozialpartner wird sowohl im Dokument der portugiesischen

Ratspräsidentschaft als auch in den Vorschlägen der Kommission gewürdigt, ihre eigenständige Verantwortung bei Tarifverhandlungen und der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen anerkannt.

Innovation ist nicht nur ein technischer, sondern auch ein sozialer Prozess. Arbeitsstrukturen ändern sich und Arbeitszeiten werden neu gestaltet. Flexibilitätserfordernisse von

Unternehmen einerseits und das Bedürfnis von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach mehr Zeitsouveränität und sozialer Absicherung andererseits müssen einem fairen

Interessenausgleich unterliegen.

Wer aber in den Betrieben und Unternehmen den technischen und strukturellen Wandel mittragen soll, braucht auch mehr Beteiligungsrechte, Deshalb müssen die Richtlinie zur Information und Konsultation, die EBR-Richtlinie und die Reform des Statuts der

Europäischen Aktiengesellschaft endlich verabschiedet werden. Es reicht eben nicht aus, die Rolle der Sozialpartner zu würdigen, es müssen auch die rechtlichen Instrumente für eine wirksame Beteiligung zur Verfügung gestellt werden.

Dort, wo sich die europäischen Unternehmerorganisationen einer Verhandlungsregelung im Rahmen des sozialen Dialoges in Schlüsselbereichen der neuen Wirtschaft entziehen, fordern wir die Kommission auf, von ihrem legislativen Initiativrecht Gebrauch zu machen.

6. Stärkung des europäischen Sozialmodells

Das europäische Sozialmodell kennzeichnet vor allem seine Vielfalt. In Umfang, Funktionsweise und Finanzierung gibt es deutliche Unterschiede zwischen seiner

zentraleuropäischen, skandinavischen, mediterranen oder angelsächsischen Ausprägung.

Ihnen ist gemeinsam, dass die Systeme der sozialen Sicherung die mit dem Strukturwandel verbundenen sozialen Folgen in beachtlichem Umfang auffangen. Der Strukturwandel kann sich reibungsloser vollziehen, wenn individuelle Risiken abgefedert und die Chancen für einen beruflichen Neuanfang durch aktive arbeitsmarktpolitische Eingliederungsmaßnahmen erhöht werden. Insofern ist ein modernes System sozialer Sicherung Grundlage für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung.

Ein ausgebautes System sozialer Sicherung und industrieller Arbeitsbeziehungen ist nicht nur als Kostenfaktor, sondern auch als Standortvorteil im weltweiten Wettbewerb zu

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betrachten, zumal die sogenannten “weichen” Standortfaktoren für

Investitionsentscheidungen zunehmend ausschlaggebend werden und auch das Innovationsklima positiv beeinflusst wird.

Unbestritten ist die Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme neuen Entwicklungen anzupassen und beispielsweise die Absicherung unsteter Erwerbsbiografien oder die Einbeziehung neuer Beschäftigungsformen vorzusehen.

Dies muss jedoch stets unter der Zielsetzung geschehen, die Wirksamkeit der sozialen Sicherheitssysteme zu erhöhen und zu konsolidieren, wie es auch die portugiesische Ratspräsidentschaft betont.

Der Austausch von Erfahrungen über die Modernisierung unserer sozialen

Sicherungssysteme kann von großem Nutzen sein. Deshalb findet der Vorschlag, eine ständige Gruppe hochrangiger Sachverständiger zu diesem Zwecke einzusetzen, auch unsere Zustimmung.

Aber so vielfältig die Systeme des Sozialschutzes in der EU sind, so spezifisch werden die Vorschläge für ihre Reform sein müssen. Wir werden deshalb darauf achten, dass in diesem sensiblen Politikbereich strikt das Subsidiaritätsprinzip eingehalten und nationale

Zuständigkeiten respektiert werden.

Der DGB unterstützt die politischen Grundlinien des portugiesischen Ratsvorschlages für den Sondergipfel in Lissabon

• die Vollbeschäftigung als wirtschafts- und sozialpolitisches Kernziel

wiederherzustellen und die Arbeitslosigkeit auf den Stand der Länder mit der niedrigsten Arbeitslosenquote zu senken

• gegen Armut und soziale Ausgrenzung wirksam vorzugehen

• ein schnelleres und nachhaltiges Wachstum herbeizuführen und schließlich

• eine innovative und dynamische Wissensgesellschaft zu schaffen.

Die deutsche Bundesregierung fordern wir auf unsere kritischen Anmerkungen aufzugreifen und in die Beratungen in Lissabon einzubringen.

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