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Julia Lossau Die Politik der Verortung

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Julia Lossau

Die Politik der Verortung

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Die Geographin Julia Lossau (Dr. rer. nat.) promovierte im Jahr 2001 an der Universität Bonn. Zur Zeit ist sie Marie-Curie-Fellow an der University of Glasgow.

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Julia Lossau

Die Politik der Verortung

Eine postkoloniale Reise zu einer anderen Geographie der Welt

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Lossau, Julia:

Die Politik der Verortung : eine postkoloniale Reise zu einer anderen Geographie der Welt / Julia Lossau. - Bielefeld : Transcript, 2002

Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-933127-83-1

© 2002 transcript Verlag, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld

Druck: DIP, Witten ISBN 3-933127-83-1

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

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Inhalt

Vor der Reise:

Das Denken der »Ei(ge)nen Welt« 9

Ausgangspunkt und Zielbestimmung 9

Ausrüstung und Reiseroute 19

1. Etappe:

Unterwegs zu einem ANDEREN Denken 27

Einleitung 27

Das »Eine« und das »Andere« 33

Das Ende der einen Wirklichkeit und der einen Wahrheit 34 Andere Wirklichkeiten, andere Wahrheiten 41

Das »Eigene« und das »Andere« 46

Das Ende des souveränen Subjekts und des

allgemeinen Wesens des Menschen 47

Andere Subjekte, andere Identitäten 52

Inmitten vieler Widersprüche – Ein Denken des Dazwischen 59

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2. Etappe:

Geographie ANDERS denken 69

Einleitung 69

Imaginative Geographien: Geographie als Diskurs 73 Imaginationen der Geographie: Der geographische Diskurs 82

Die Welt der Geographie 85

Die Welten der »raumontologisch revolutionierten

Geographie« und weitere geographische Wirklichkeiten 95

»Was ist eigentlich Geographie?« –

Bemerkungen aus dem Zwischen-Raum 102

3. Etappe:

Auf dem Weg aus der kultur-räumlichen Denkfalle 111

Einleitung 111

»Geopolitik« revisited: Eine erkenntnistheoretische

Verunsicherung der Politischen Geographie 117

»Hände weg von der Geopolitik!« – Einige Bemerkungen zur Trennung von Politischer Geographie und Geopolitik 118 Politische Geographie im Spiegel einer anderen

Geopolitik: Zwei Vorschläge 125

Welt-Ordnung vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt:

Das Beispiel der deutschen Türkei-Politik 131

Zur diskursiven Verortung der Türkei 135

Das diskursive Dreieck der deutschen Türkei-Politik 141

»The New World Disorder« – Zur (Un-)Möglichkeit einer

anderen Geopolitik 146

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4. Etappe:

Auf der Suche nach einer ANDEREN

Geographie der Welt 153

Einleitung 153

Fallstricke der Globalisierungsdebatte 158

Die Globalisierungsdebatte als Rede von

der Globalisierung 161

Auf der Welt-Ausstellung: »Die große Familie

der Menschen«? 169

Differente Verortungen, andere Welt-Bilder 175 Global denken, lokal handeln? – Lokal denken, global handeln! 183

Nach der Reise:

Zwischen vielen Welten denken(d) 193

Fazit: Für eine Verunsicherung des geographischen Blicks 193 Ausblick: Ein »Nach-der-Reise« gibt es (nicht) … 200

Danksagung 206

Literatur 207

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Vor der Reise:

Das Denken der »Ei(ge)nen Welt«

Ausgangspunkt und Zielbestimmung

Die Insel Kiloland liegt im Süden der Azoren vor der afrikanischen Westküste. Obwohl sie auf den ersten Blick wie eine ganz normale In- sel anmutet, hat es mit ihr eine besondere Bewandtnis: Sie wurde erst im Frühjahr 2000 »entdeckt« – und geriet prompt in die Schlagzeilen.

So berichtete etwa die »Süddeutsche Zeitung«, dass es auf Kiloland zu Spannungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit der Adonia und der Minderheit der Butonia gekommen sei (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 22.2.2000). Angesichts der bürger- kriegsähnlichen Zustände, so der Bericht weiter, habe die Regierung Kilolands die Vereinten Nationen zu Hilfe gerufen. Die Vereinten Na- tionen wiederum hätten die Entsendung einer internationalen Friedens- truppe beschlossen und der NATO sowie der Westeuropäischen Union (WEU) ein entsprechendes Mandat erteilt. Aber wie der Zufall es wollte, war die NATO zu diesem Zeitpunkt schon anderweitig en- gagiert. Dies zumindest war der Wochenzeitung »DIE ZEIT« zu ent- nehmen, die zu berichten wusste, dass der »Schurkenstaat« Yellowland Südeuropa mit Massenvernichtungswaffen bedrohe und die ganze Aufmerksamkeit des nordatlantischen Bündnisses für sich in An- spruch nehme (vgl. Stelzenmüller 2000). Also habe die WEU nach Ab- sprache mit der Allianz beschlossen, den Frieden auf Kiloland unter Rückgriff auf NATO-Mittel im Alleingang wiederherzustellen.

Die Meldungen bezüglich des ersten Einsatzes der europäischen Militärorganisation waren widersprüchlich: Während in der »Süddeut- schen Zeitung« zu lesen war, es seien zunächst 10.000 Soldaten zum

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Einsatz gekommen, berichtete »DIE ZEIT«, der Einsatz habe mit der Offenbarungsfrage geendet, wer derzeit überhaupt in der Lage sei, Soldaten zu stellen. Zudem, so »DIE ZEIT« weiter, sei es über den Al- leingang der WEU zu schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten im NATO-Rat gekommen. Besonders strittig seien dabei die Fragen gewesen, ob der stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber in Europa im Falle einer Ausleihe an die WEU als »NATO-Einrichtung« gelte und ob die NATO wegen des eigenen Einsatzes ein jederzeitiges Rückrufrecht beanspruchen dürfe. Im Eifer dieser Wortgefechte geriet das kaum entdeckte Kiloland wieder in Vergessenheit. Über den Ver- lauf der Auseinandersetzungen zwischen den »Volksgruppen« wurde an prominenter Stelle nie wieder berichtet, und auch das Schicksal ei- ner kleinen Gruppe »europäischer Zivilisten«, die Gefahr gelaufen wa- ren, zwischen die Fronten zu geraten, schien bis auf den heutigen Tag keiner weiteren Meldung wert. Zudem darf angenommen werden, dass von der Insel Kiloland – wie vom »Schurkenstaat« Yellowland – auch in Zukunft nicht mehr allzu oft die Rede sein wird. Denn auch wenn diese Insel zunächst wie eine ganz normale Insel anmutet, so existiert sie nicht »wirklich«. Vielmehr stellen die ethnische Mehrheit der Ado- nia und die ethnische Minderheit der Butonia, stellen Kiloland und Yellowland nichts anderes als Konstruktionen dar – konstruiert für eine gemeinsame Übung von NATO und WEU, die im Frühjahr 2000 unter dem Codenamen CMX/Crisex 2000 auf dem NATO-Intranet Chronos »durchgespielt« wurde.

Das »Krisenmanagement-Spiel« CMX/Crisex 2000 bringt die der- zeitige Verfasstheit der Weltpolitik auf den Punkt. Auch die in seinem Rahmen einmal mehr zu Tage getretenen Differenzen zwischen der EU einerseits und den USA andererseits passen ins Bild der neuen Unübersichtlichkeit, die Benedict Anderson als »New World Disor- der« (Anderson 1992) bezeichnet hat und in der um nicht weniger als um eine neue Weltordnung gerungen wird. Den letzten Fixpunkt der nun schon über zehn Jahre währenden Ordnungssuche stellt »1989«

dar – eine Zahl, die freilich nicht ausschließlich der Fixierung eines Zeitpunkts dient. Sie wird oft zur Bezeichnung des Prozesses verwen- det, in dessen Zuge das Koordinatensystem der »alten Weltordnung«

seine Ordnungsfunktion schon auf Grund der Tatsache verloren habe, dass eine seiner beiden Achsen, der real existierende Sozialismus, schwächer geworden und schließlich zusammengebrochen sei. Damit

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habe der Kapitalismus ebenso endgültig gesiegt, wie das durch ideolo- gisch-politische Kriterien charakterisierte Prinzip der alten Ordnung hinfällig geworden sei. An seine Stelle seien, so wollen es nicht nur die Architektinnen und Architekten von CMX/Crisex 2000, zivilisato- risch-kulturelle Konflikte getreten.

Es ist aber nicht nur die angewandte Außen- und Sicherheitspolitik, die zivilisatorisch-kulturelle Unterschiede als neuen (Un-)Ordnungs- faktor der internationalen und globalen Politik ausgemacht hat. Die Rede von der Wirkungsmacht kultureller Demarkationslinien findet sich auch in einer Vielzahl (politik-)wissenschaftlicher Publikationen.

Ob Bassam Tibi (1995) den »Krieg der Zivilisationen« diagnostiziert oder ob Francis Fukuyama (1995) von einem »Konflikt der Zivilisa- tionen« spricht: die Idee eines neuen kulturellen Koordinatensystems scheint sich insbesondere innerhalb der (Teil-)Disziplin der Interna- tionalen Beziehungen großer Popularität zu erfreuen. Den entschei- denden Impuls dürfte der Politikwissenschaftler Samuel Huntington gegeben haben, der die neue Wirklichkeit der internationalen Bezie- hungen in seinem Aufsatz »The clash of civilizations?« (Huntington 1993) ebenso apodiktisch wie öffentlichkeitswirksam auf den Punkt brachte. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so Huntington, sei dieje- nige Bruchlinie wieder relevant geworden, die bereits um 1500 das westliche vom orthodoxen Christentum sowie dem Islam getrennt ha- be. Der »Samtene Vorhang der Kultur« habe den »Eisernen Vorhang der Ideologie« ersetzt, der allerdings – wie die Entwicklungen in Jugo- slawien gezeigt hätten – keineswegs buchstäblich »samten« sei: »As the events in Yugoslavia show, it is not only a line of difference; it is also at times a line of bloody conflict« (ebd.: 31). So sei abzusehen, dass große Konflikte künftig entlang denjenigen kulturellen fault lines auf- träten, die die großen Zivilisationen voneinander trennten.

Wirft man einen Blick auf die neue globale (Un-)Ordnung, so hat es den Anschein, als treffe Huntingtons Diagnose ins Schwarze. Denn es ist nicht nur der Blick auf das ehemalige Jugoslawien, der sieht, dass die neuen Bruchlinien tatsächlich kultureller Art sind; dass »die Kultur«

tatsächlich an die Stelle »der Ideologie« getreten ist. Auch anderswo auf der Welt scheint diese Diagnose die objektiv richtige zu sein. Sei es an der indisch-pakistanischen Grenze, sei es in Indonesien, sei es im Sudan oder sei es in Nigeria: täglich scheinen kulturelle Identitäten entlang blutigen Konfliktlinien »aufeinanderzuprallen«. So nimmt es

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kaum Wunder, dass latente und manifeste Konflikte seit dem Ende des Kalten Krieges zunehmend in kulturellen Begrifflichkeiten ge- fasst werden – wobei das Vokabular von der scheinbar harmlosen und wertneutralen Bezeichnung des »ethnischen Konflikts« bis hin zur drastischen, Assoziationen an die Lingua Tertii Imperii (Klempe- rer 1975) hervorrufenden Katachrese der »ethnischen Säuberung«

reicht.

Gerade die Rede von »ethnischen Säuberungen« vermag den Ein- druck, dass »wir« in einer Welt von »aufeinanderprallenden Kulturen«

leben, noch zu verstärken. Dennoch bleibt die Diagnose einer kultu- rellen Fragmentierung der Welt nicht unumstritten: Die Ausführungen Huntingtons haben eine breite Diskussion hervorgerufen. Zwar kann von den Kritikerinnen und Kritikern der These vom clash of civiliza- tions kein homogenes Bild gezeichnet werden – reichen die Erwartun- gen doch von einem verstärkten internationalen bzw. interkulturellen Austausch, d.h. von der Versöhnung, der Geselligkeit und der harmo- nischen Reziprozität zwischen einzelnen Nationen und Kulturen, über die tendenzielle bis hin zur vollständigen Auflösung kultureller Unter- schiede im »globalen Dorf« der »Weltgesellschaft«. Was allerdings vie- le, die der These vom »Kampf der Kulturen« skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, zu einen scheint, ist der positive Bezug auf einen Be- griff, dessen Popularität vom Stammtisch über die Nachrichtensen- dung bis hin zum sozialwissenschaftlichen Seminar ihresgleichen sucht:

den Begriff der Globalisierung.

Die diversen Bilder des Ausgleichs, der Vernetzung oder der »Ent- grenzung«, die im Rahmen der Globalisierungsdebatte gezeichnet werden, können ebensowenig überraschen wie das konflikthafte Welt-Bild »aufeinanderprallender Kulturen« – schließlich sind Prozes- se der Entgrenzung und des Ausgleichs auf den ersten Blick ebenso evident wie solche der Fragmentierung. So hat es etwa in ökologischer Hinsicht den Anschein, als sei mittlerweile offensichtlich geworden, was mindestens zwei Generationen von Ökologiebewegten vergeblich zu vermitteln suchten: dass sich Umweltprobleme weder auf national- staatliche Territorien noch auf einzelne Kontinente beschränken las- sen. Gleiches gilt für den Bereich der (elektronischen) Kommunika- tion: Auch hier spekulierte der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits zu Beginn der 1960er Jahre über das kommunikationsbedingte Zusammenwachsen der Erde zum »globalen Dorf« (McLuhan 1962).

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Aber erst heute, in den Zeiten von flat rates und start ups, wird sicht- bar, »wie klein die Welt doch ist«.

Am offensichtlichsten scheinen schließlich die ökonomischen For- men globaler Vernetzung. Zumindest sind sie es, die am intensivsten diskutiert werden – was damit zusammenhängen mag, dass die wirt- schaftliche Globalisierung für Probleme verantwortlich gemacht wird, deren Lösung bzw. Unlösbarkeit als besonders dringlich bzw. schmerz- lich erachtet wird. Aber auch im Rahmen der Politik(-Wissenschaft) geraten Prozesse der »Entgrenzung« und des »Zusammenwachsens«

zunehmend in den Fokus des Interesses. Der Politologe Werner Wei- denfeld etwa hält in expliziter Opposition zu Huntington fest, dass ein engeres Zusammenfinden der Kulturen sowie die Erstellung gemein- samer Konfliktlösungsmechanismen ein bestimmendes Thema der Agenda internationaler Politik seien (vgl. Weidenfeld 1999: 3). Dabei gelte es darauf zu achten, »dass die unterschiedlichen Anpassungsge- schwindigkeiten an die Globalisierungsprodukte nicht im Sinne von Macht- und Dominanzinstrumenten missbraucht werden« (ebd.).

Kurz: Interventionen gegen die These vom »Kampf der Kulturen«

werden überall dort artikuliert, wo es um mögliche Zukünfte politi- scher, gesellschaftlicher und ökonomischer Welt-Ordnung geht. Aber vielleicht kann der hoffnungsvolle Tenor, der die Einschätzungen Weidenfelds kennzeichnet, als symptomatisch für diejenigen Positio- nen gelten, die im Rahmen der sozialwissenschaftlichen bzw. soziolo- gischen Debatten zum Tragen kommen. Dort scheint unter dem Stichwort der Globalisierung weniger der »Kampf der Kulturen« als vielmehr der »Ausgleich zwischen den Kulturen« antizipiert zu wer- den (vgl. Nassehi 1998). Mit anderen Worten: Gerade die sozialwis- senschaftlichen Beiträge sind vielfach durch die Hoffnung gekenn- zeichnet, die Welt sei im Zuge der Globalisierung zu derjenigen »Ei- nen Welt« zusammengewachsen, deren Bild (wenn auch als Provoka- tion) bereits in den 1970er Jahren von den Ökologie- und »Dritte- Welt«-Bewegungen gezeichnet wurde – oder zumindest durch die Hoffnung, diese »Eine Welt« könne in nicht allzu ferner Zukunft Wirklichkeit werden, wenn nur die Maxime »Global denken, lokal handeln!« konsequent in die Tat umgesetzt werde.

Doch so »schön« das Bild oder die Vision einer Welt, in der die Kulturen im Dialog begriffen sind, auf den ersten Blick auch sein mag:

Es stellt sich die Frage, ob diejenigen, die Huntington vorwerfen, er

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lege kulturelle Arroganz an den Tag, wo »eigentlich« Verständnis und Ausgleich herrschen sollten, letztlich über die Thesen des von ihnen Kritisierten hinauskommen können. Damit sei nicht angedeutet, die Kritikerinnen und Kritiker Huntingtons argumentierten nicht »bes- ser« im Hinblick auf eine »aufgeklärte« Moral. Im Gegenteil: Ihre Einwände beruhen meist auf den Grundsätzen einer universalistischen Liberalität, die eine an partikularistischen, (national-)kulturellen Inte- ressen orientierte Machtpolitik ausschließen und ihr die wohlwollende Achtung anderer ethnischer Traditionen entgegensetzen möchte – ganz im Sinne der Gleichheit und Freiheit aller Menschen.

Wenn also die Frage gestellt wird, ob die Kritikerinnen und Kriti- ker Huntingtons über die Thesen des von ihnen Kritisierten hinaus- kommen können, dann nicht deshalb, weil ihnen eine Verfehlung hu- manistischer Ansprüche unterstellt würde. Was ihnen hingegen unter- stellt wird, ist das Folgende: Obwohl (oder, besser gesagt, gerade weil) sie vor dem Hintergrund einer universalistisch-aufklärerisch-humani- stischen Folie argumentieren, tun auch sie letztlich nichts anderes, als essentialistische (National-)Kulturen zu verorten, d.h. an einen be- stimmten, »eigenen« und »eigentlichen« Raum zu binden. Auch sie unterstellen wie selbstverständlich die ontologische Existenz verschie- dener Kulturen; auch sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die jeweilige »Kultur«, die jeweilige »Zivilisation« oder auch die jewei- lige »Gesellschaft« eine ontologische Einheit darstellt: einen identitäts- stiftenden, normativ stärker oder schwächer integrierten, letztlich aber durch gesellschaftliche Gemeinschaft harmonisierten Zusammenhang.

Konzepte, die das Konstrukt gesellschaftlicher Gemeinschaft und In- tegriertheit transportieren, können aber nicht dazu beitragen, (natio- nal-)kulturelle Grenzen zu überwinden. Sie müssen im Gegenteil dazu beitragen, kulturelle Demarkationslinien aufrechtzuerhalten – und zwar insofern, als die Möglichkeit eines »kulturellen Konflikts« in die- sem Konstrukt unter der Hand immer schon angelegt ist: »Wie die al- ten Lobsänger der Rasse halten die gegenwärtigen Fanatiker der kultu- rellen Identität den Einzelnen im Gewahrsam seiner Zugehörigkeit«

(Finkielkraut 1989: 111). Damit müssen sich die Konzepte des Aus- gleichs zwischen den Kulturen letztlich als Bestandteil desjenigen Pro- blems erweisen, das zu lösen sie angetreten sind.

Vor diesem Hintergrund drängen sich nicht nur gegenüber dem Konfliktszenario eines Samuel Huntington, sondern gerade auch ge-

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genüber den »besseren«, auf Ausgleich bedachten Argumentationen seiner Kritikerinnen und Kritiker zwei Fragen auf: Sollte die offen- sichtliche Existenz unterschiedlicher politisch-kultureller Räume oder Regionen, die vermeintlich natürliche Politische Geographie der Erde also, tatsächlich die Stifterin einer gleichsam naturgegebenen Wahrheit sein? Und zweitens: Stellen (National-)Kulturen tatsächlich selbstge- nügsame Entitäten dar, ausgestattet mit gesellschaftlicher Gemein- schaft und integriert durch spezifische kulturelle Deutungsmuster?

Diese Fragen drängen insbesondere dann auf, wenn in Betracht gezo- gen wird, dass es sich ebensogut ganz anders verhalten könnte. Daher sei an dieser Stelle gefragt: Wäre es nicht ebensogut möglich, dass die vermeintlich natürliche Ordnung der internationalen Politik nicht per se ist, sondern im Zuge der Verortung von Objekten und Identitäten erst produziert wird – produziert wird als die vermeintlich natürliche Wirklichkeit einer Welt, in deren Mittelpunkt entweder die universelle Menschheit oder das partikulare »Eigene« steht, dessen Interessen es gegenüber den »Anderen« zu sichern gilt? Anders gefragt: Wäre es nicht ebensogut möglich, dass nicht bloß Kilo- und Yellowland Kon- struktionen darstellen, die nicht sind, sondern erfunden wurden?

Wurden und werden nicht auch Deutschland und Frankreich immer wieder aufs neue erfunden; wurden und werden nicht auch Amerika und Europa immer wieder aufs neue (re-)produziert? Und stellt nicht letzten Endes auch die Welt eine geographische Imagination dar, die insofern durch ihre Bezeichnung bedingt ist, als schlicht nichts gedacht werden kann, was vor seiner Bezeichnung von Bedeutung wäre?

Der rhetorische Charakter all dieser Fragen soll erst gar nicht ge- leugnet werden. Im Gegenteil: Das übergeordnete Ziel dieses Buches besteht darin, den Glauben an die Natürlichkeit von Welt-Bildern im allgemeinen und des neuen kulturellen Koordinatensystems im beson- deren zu erschüttern – oder auch, diesen Glauben zu dekonstruieren.

Wenn nämlich tatsächlich nichts gedacht werden kann, was nicht durch seine Bezeichnung bedingt wäre, dann muss bezweifelt werden, dass die neue Ordnung kultureller Art ist. Denn dann können auch die empirischen Evidenzen der (je nach Standpunkt) im Konflikt oder in harmonischem Ausgleich begriffenen kulturellen Entitäten »den Ma- kel jenes Privilegs der Bezeichnung vor der vermeintlich empirischen Wahrheit, die selbst wiederum nur bezeichnet werden kann, nicht loswerden« (Nassehi 1997: 191).

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In diesem Kontext verfolgt das Buch ein weiteres Interesse. Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Geopolitik. Mit dieser Formel sei die Revitalisierung des Geopolitik- begriffs bezeichnet, der zunächst im Historikerstreit und verstärkt seit Ende der 1980er Jahre wieder in die Schlagzeilen zurückgekehrt ist.

Zwar mag die aktuelle Popularität dieses Begriffs, der auf Grund seiner legitimierenden Funktion im Rahmen der nationalsozialistischen Blut- und Boden-Ideologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu- nächst nicht weiter verwendet wurde, unterschiedliche Ursachen ha- ben. Doch es ist anzunehmen, dass der vermeintlichen Ordnungsfunk- tion der Vorsilbe »Geo« eine nicht unwesentliche Bedeutung zu- kommt. Jedenfalls vermag es der Geopolitikbegriff in besonderem Maße, jene scheinbar natürliche Ordnung und Orientierung zu sugge- rieren, deren Dekonstruktion im Zentrum dieses Buches steht.

Die deutsche fachwissenschaftliche Geographie hat diese Entwick- lung zunächst weitgehend ignoriert bzw. schweigend zur Kenntnis genommen. Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Politischen Geographie tun sich immer noch schwer, die Revitalisierung des Geo- politikbegriffs öffentlichkeitswirksam zu kommentieren. Ihre Zurück- haltung steht im Zusammenhang mit der nachkriegszeitlichen Vergan- genheits-»Bewältigung«, die sich weit mehr an der Sicherung einer (forschungs-)ökonomischen Zukunft als an einer offenen Auseinan- dersetzung mit eben jener Vergangenheit orientierte. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Bemühungen Carl Trolls und Peter Schöllers zu, die »Politische Geographie als Teilgebiet der geographi- schen Wissenschaft« von der »nationalsozialistischen Geopolitik« zu trennen (Schöller 1957; Troll 1947). Durch diese Trennung war die Po- litische Geographie lange Zeit nicht nur durch eine Ausblendung der globalen Maßstabsebene, die mit der verfemten Geopolitik assoziierte wurde, gekennzeichnet, sondern auch durch eine Negation ihres poli- tischen Gehalts (vgl. Sandner u. Oßenbrügge 1992). Zwar entstanden im Verlauf der 1980er Jahre einige Arbeiten, die diese Defizite insbe- sondere durch Bezüge zur Friedens- und Konfliktforschung zu über- winden versuchten. Insgesamt aber sind engagierte und kritische Bei- träge, die sich in offener Auseinandersetzung mit dem Geopolitikbe- griff den Feldern der internationalen und globalen Politik widmen, eine Seltenheit geblieben.

Hinter der politisch-geographischen Sprachlosigkeit verbirgt sich

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nicht selten die Überzeugung, durch vornehme Zurückhaltung bzw.

lautes Schweigen bezüglich (disziplin-)politisch heikler Fragen könne eine Art »politische Abstinenz« erzielt werden. Gerhard Sandner und Jürgen Oßenbrügge (ebd.) zufolge zeichnete sich die deutsche Politi- sche Geographie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu- letzt durch einen Rückzug auf die Position des (sozialtechnokrati- schen) detached observer aus, der, gleichsam auf einem Feldherrenhü- gel sitzend, die geographische Ordnung der Dinge objektiv erfasst, ohne deren politische, soziale und ökonomische Voraussetzungen zu bedenken. Allein – es stellt sich nicht nur die Frage, ob vornehme Zu- rückhaltung bei Fragen der gesellschaftlichen Verhandlung von Wissen und (politischer) Macht das Tor zu einem rein wissenschaftlichen und apolitischen Reich öffnet. Es stellt sich auch die Frage, ob es einen frei- schwebenden Hochsitz, von dem aus rein wissenschaftliche und ob- jektive Erkenntnis zu erzielen wäre, überhaupt geben kann.

Es ist im Sinne dieser Fragen, in dem das Buch (über eine Ausein- andersetzung mit dem Geopolitikbegriff) auf eine erkenntnistheoreti- sche Verunsicherung der Politischen Geographie und letztlich auf eine Reformulierung der politisch-geographischen Forschungsstrategien abzielt. Diesem Ziel liegt die Überzeugung zugrunde, dass es einer Teildisziplin, die sich Politische Geographie nennt, gut zu Gesicht stünde, den Zusammenhang von Macht und (geographischem) Wissen nicht auszublenden und auch die Wirkungsmacht der eigenen Argu- mentation zu reflektieren. Denn wissenschaftliches Sprechen, und da- zu gehört auch lautes Schweigen, bedeutet immer auch, von einem be- stimmten politischen Standpunkt aus zu argumentieren (und sei es auch »nur« derjenige einer Negation des politischen Gehalts der »ei- genen« Argumentation) – und damit zwangsläufig ein bestimmtes Welt-Bild zu (re-)produzieren.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich der Zusammenhang, der zwi- schen einer Verunsicherung des disziplinären Diskurses der (Politi- schen) Geographie und der übergeordneten Zielsetzung – einer De- konstruktion der vermeintlichen Natürlichkeit geographischer Welt- Bilder – besteht: Für die praktische Umsetzung der übergeordneten Zielsetzung spielt es letztlich keine Rolle, ob die Verhandlung geogra- phischer Imaginationen nun innerhalb oder außerhalb der fachwissen- schaftlichen Geographie stattfindet. Denn die Verortung essentialisti- scher Entitäten auf vermeintlich natürlicher Grundlage, sei sie nun

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(sicherheits-)politischer, (politik-)wissenschaftlicher, geographischer oder »ganz alltäglicher« Art, führt immer dazu, dass kontingente lokale Wirklichkeiten auf geographische Abstraktionen reduziert bzw. in eine überschaubare Ordnung gebracht werden. Und zwar in eine Ordnung, die vor dem Ordnen (in dieser Form) nicht bestanden hat – und nicht zuletzt in eine Ordnung, die andere Ordnungen ausschließt und andere Wahrheiten marginalisiert.

Der letzte Satz macht noch einmal deutlich, was schon das Beispiel Kiloland gezeigt hat: Geographische Imaginationen stellen keine be- liebig zu pflückenden Blumen auf einer semantischen Spielwiese dar.

Im Gegenteil: »Wissen ist Macht – geographisches Wissen ist Welt- macht« (zit. etwa in Brogiato 1998). Noch pointierter hat der französi- sche Geograph Yves Lacoste den Zusammenhang zwischen Macht und geographischem Wissen formuliert: »La géographie, ca sert, d’abord, à faire la guerre« (Lacoste 1985). Zwar vermag die Rhetorik von CMX/3

Crisex 2000 den Anschein zu erwecken, als sei »la guerre«, der Krieg also, im (sicherheits-)politischen Vokabular der EU mittlerweile durch

»die Krisenbewältigung« ersetzt worden. Euphemismen dieser Art sollten aber nicht über den Zweck der Crisis Management Exercises (CMX) hinwegtäuschen. Denn einige Monate nach der Entdeckung Kilolands, auf der Herbsttagung der NATO-Außenminister im De- zember 2000, wurde erneut deutlich, dass die EU anstrebt, Krisen zukünftig in »eigener Verantwortung« zu bewältigen (vgl. Bergdoll 2000) und wohl auch potentielle »Kollateralschäden« in Kauf zu neh- men.

Auch wenn also die aktuelle Rede von der Wirkungsmacht kulturel- ler Unterschiede im folgenden als die Rede von der Wirkungsmacht kultureller Unterschiede entlarvt werden soll, so müssen doch eben- falls die realen Effekte betrachtet werden, die diese Rede zeitigt. Die Betrachtung dieser Realität des Diskursiven aber verführt förmlich da- zu, der geplanten Dekonstruktion der geographischen Wirklichkeit eine Bewegung der Rekonstruktion folgen zu lassen. Daher wird es im folgenden letztlich auch darum gehen, dem konflikthaften Welt-Bild eines Samuel Huntington ein anderes und wenn möglich besseres Bild der Welt entgegenzusetzen. Dass es sich dabei nicht um dasjenige han- deln kann, das von den auf kulturellen Ausgleich bedachten Kritike- rinnen und Kritikern Huntingtons gezeichnet wird und in dessen ge- dachter Mitte das »Idealsubstrat« (Diederichsen 2000) Mensch steht,

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dürfte nach den bisherigen Ausführungen auf der Hand liegen. Dieses Buch kann folglich als imaginative Reise gelesen werden: als Reise von einem fragmentierten Welt-Bild, in dessen Mittelpunkt die partikula- ren Interessen des »Eigenen« stehen, über das universelle Welt-Bild, wie es von den Apologetinnen und Apologeten des kulturellen Aus- gleichs gezeichnet wird, hin zur einer anderen Geographie der Welt, die letztlich ohne Mittelpunkt auskommt. Damit laden die folgenden Ausführungen ein, vom Mittelpunkt der Erde zu einer anderen Geo- graphie der Welt zu reisen. Der Erdmittelpunkt, eine vermeintlich schlicht »da-seiende«, erdräumlich lokalisierbare Gegebenheit, stellt nicht umsonst den imaginativen Ausgangspunkt dar – ist es doch nicht zuletzt der Glaube an (physisch-)geographische Evidenzen, der im Laufe der Reise erschüttert werden soll. Dies bedeutet freilich nicht, dass ausschließlich Geographinnen und Geographen zur Mitreise ein- geladen sind. Eingeladen sind vielmehr alle, die sich nicht nur für die vielfältigen Strategien der Verräumlichung des Sozialen und Politi- schen interessieren, sondern auch wissen möchten, warum sich hinter dem Slogan »Lokal denken, global handeln!« mehr als eine heilsame Provokation verbergen kann.

Ausrüstung und Reiseroute

Wie alle Reisen, so erfordert auch die Reise zu einer anderen Geogra- phie der Welt eine bestimmte Ausrüstung. In diesem speziellen Fall handelt es sich dabei um ein anderes Denken, das der Reise ebenso zugrunde liegt, wie es im Verlauf der Reise erst entwickelt wird. Und ganz ähnlich, wie dieses Denken sowohl die Grundlage als auch das zu entwickelnde »Werkzeug« darstellt, so versteht es sich nicht nur als Erkenntnistheorie, sondern auch als engagierte, normative Gesell- schaftstheorie. Dies klingt paradox – und tatsächlich kann ein solch anderes Denken als ein Denken von bzw. in Paradoxien gelten. Schon aus dem Begriff »Theorie« resultiert ein weiterer Widerspruch. Denn streng genommen kann dieses Denken gerade nicht als theoretisch be- zeichnet werden – und zwar deshalb, weil mit »Theorie« nicht nur in der Alltagssprache ein Essentialismus bzw. eine Schließung, d.h. die Festlegung eines Sachverhalts auf ein wesentliches Ist, verbunden wird (vgl. Graham 1990). Es mag sein, dass in dieser Aufladung die griechi-

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schen Wurzeln des Wortes nachwirken – zeigt sich die abschließende Ausrichtung auf ein sichtbar Seiendes doch schon im Wort »Theorie«

selbst: »through the Greek thea (›outward appearance‹) and horao (›to look closely‹) of ›theory‹ itself« (Gregory 1994: 16). Demgegenüber nimmt ein anderes Denken eine essentialismuskritische Position für sich in Anspruch. Dass es dennoch – und damit zurück zu seiner Wi- dersprüchlichkeit – als »Theorie« gelten kann, geht auf einen Autor zurück, der den Theoriebegriff für ein anderes Denken nutzbar ge- macht hat: Es ist der Literaturwissenschaftler Edward Said, der mit Hilfe des Begriffs der »traveling theory« auf den situierten, partiellen, vorläufigen und voraussetzungsreichen Charakter jeder Theorie bzw.

jedes Wissens aufmerksam machte (Said 1984). Traveling theory, eine

»Theorie unterwegs«, steht einerseits für die Einsicht, dass (theoreti- sches) Wissen nicht als wahr und allgemeingültig im Sinne eines we- sentlichen Ist gelten kann, sondern ebenso vor dem Hintergrund »sei- nes« räumlichen und zeitlichen Kontexts begriffen werden muss, wie es

»seinen« Kontext umgekehrt nie voll und ganz zu erfassen vermag.

Andererseits verweist der Begriff der traveling theory nicht allein auf das abstrakte Feld der Theorie, sondern kann auch im Sinne einer Pra- xis gelesen werden: der Praxis empirischer Ortswechsel. Und in der Tat steht das Denken des »postkolonialen Migranten« Edward Said – ebenso wie dasjenige anderer Theoretikerinnen und Theoretiker des sogenannten Postkolonialismus – nicht zuletzt unter dem Eindruck konkreter Lebenserfahrungen (Said 2000; vgl. hierzu auch Bronfen u.

Marius 1997).

Es ist denn auch die theoretisch-praktische Kritik des Postkolonia- lismus, die dieses Buch maßgeblich prägt und als wichtigste Ausrü- stung für die im folgenden zu unternehmende Reise gelten kann. Be- zogen auf den speziellen Bereich der disziplinären Politischen Geo- graphie bzw. deren Verunsicherung wird zusätzlich das Gedankenge- bäude der critical geopolitics zu Rate gezogen, das gegen Ende der 1980- er Jahre im Kontext der angelsächsischen Politischen Geographie entwickelt wurde (Dalby 1988, 1990, 1991; Ó Tuathail 1989, 1994).

Die Betonung liegt hier auf »zusätzlich«, denn zwischen beiden An- sätzen finden sich insofern Parallelen, als die Inhalte der critical geopo- litics stark von der postkolonialen Kritik beeinflusst sind: »If there is a single text that has influenced the existing critical geopolitics literature more than any other, it is probably Said’s (1978) Orientalism« (Dodds

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u. Sidaway 1994: 516) – jenes Buch über die Produktion des Orients durch die kolonialen Diskurse also, das weithin als intellektueller Ur- sprung und Katalysator des Postkolonialismus betrachtet wird (vgl.

Gandhi 1998; Williams u. Chrisman 1994).

Folglich verbergen sich hinter beiden Ansätzen gleiche (oder zu- mindest sehr ähnliche) Zugänge zur Ordnung der Dinge. Allerdings können den großen Gemeinsamkeiten auch kleine, aber feine Unter- schiede entgegengesetzt werden. Denn insofern es sich bei ihren grundlegenden Einstellungen insbesondere um diejenigen des Post- strukturalismus/Postmodernismus einerseits und des Marxismus ande- rerseits handelt, findet sich eine große Anzahl unterschiedlicher Posi- tionen – auch innerhalb der beiden Ansätze. Diese Anzahl ist so groß, dass es ratsam erscheint, den Begriff des Postkolonialismus (wie auch diejenigen des Postmodernismus, des Poststrukturalismus und des Marxismus) noch vor Beginn der Reise zu streichen bzw. durch ihre jeweiligen Pluralformen zu ersetzen – rebellieren doch alle hier ange- sprochenen Positionen gegen jenen machtvollen Akt, der Heterogenes, Komplexes und Vielfältiges zwangsweise fixiert und auf einen gemein- samen Nenner bringt. Die theoretisch-praktische Kritik an diesem

»Gestus der Begriffsherrschaft«, die umgekehrt immer auch eine De- monstration für Widerspenstigkeit und die Anerkennung irreduzibler Vielfalt beinhaltet, hat Judith Butler in einem grundlegenden Beitrag über Feminismus und Postmoderne wie folgt formuliert:

»Der Gestus der Begriffsherrschaft (…) inszeniert in gewissem Sinn nur eine bestimmte selbstherrliche List der Macht. (…) Denn dieser Akt unterstellt, dass irgendein Textstück repräsentativ ist, bzw. für das Phänomen als solches ein- steht und dass sich die Struktur ›solcher‹ Positionen bequem in der Struktur der einen ausmachen lässt. (…) Doch was rechtfertigt eine solche vorgängige An- nahme? Wir müssten von Anfang an davon ausgehen, dass sich die Theorien gleichsam in Bündeln oder in organisierten Gesamtheiten darbieten und dass ein Komplex strukturell ähnlicher Theorien historisch als Ausdruck für eine bestimmte geschichtliche Bedingung menschlicher Reflexion in Erscheinung tritt. Diese Hegelsche Trope (…) unterstellt jedoch von Anfang an, dass Theo- rien untereinander austauschbar sind, weil sie als unterschiedliche Symptome für ein gemeinsames strukturelles Anliegen gelesen werden können. Doch ge- nau davon können wir nicht mehr ausgehen, weil gerade die Hegelsche Unter- stellung, dass die Synthese von Anfang an erreichbar ist, von einigen der Posi-

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tionen, die man so glücklich unter dem Zeichen der Postmoderne vereinigt hat, in unterschiedlicher Art und Weise bestritten wird« (Butler 1993: 34-35).

Dass im Kontext der postkolonialen Kritik problemlos die Interven- tionen Butlers als einer Vertreterin der sogenannten gender studies oder (Post-)Feminismen zitiert werden können, deutet auf die weitge- henden Übereinstimmungen zwischen beiden Gedankengebäuden hin.

Und in der Tat werden (Post-)Feminismen und Postkolonialismen trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte immer wieder »in einem Atemzug« genannt. Sie gelten als »erkenntnistheoretische Geschwi- ster« (Nassehi 1999: 350) oder auch als explizit »politische« Varianten der postmodernen/poststrukturalistischen Kritik (vgl. Bloedner 1999;

Butler 1993) – was insbesondere daher rührt, dass in den entsprechen- den Beiträgen zu zeigen versucht wird, dass gesellschaftliches Wissen stets in Fragen von Herrschaft und Diskriminierung verwickelt ist.

Dabei operieren beide Ansätze letztlich vor einem Hintergrund, demzufolge alles ebensogut ganz anders sein könnte. Ihre »kontingen- ten Grundlagen« (Butler 1993) hindern die Vertreterinnen und Vertre- ter eines anderen Denkens aber nicht daran (und hier zeigt sich einmal mehr dessen Widersprüchlichkeit), diejenigen Positionen sichtbar zu machen, die vom »Fakten-Denken« der modernen Rationalität margi- nalisiert worden sind. Dabei handelt es sich um jene Positionen, die sich gleichsam im blinden Fleck des universellen westlichen Blicks be- fanden und vielfach immer noch befinden. Während die (Post-)Fe- minismen dabei auf die besonderen Erfahrungen von Frauen abzielen, geht es der postkolonialen Kritik um die vielfältigen Erscheinungs- formen kolonialer Marginalität, die auch nach der formalen Entkolo- nialisierung noch nicht der Vergangenheit angehören (vgl. Gandhi 1998; Grimm 1997; Williams u. Chrisman 1994). Verhandelt werden allerdings nicht die »natürlichen«, essentialistischen Kategorien des Geschlechts bzw. der Rasse oder der Ethnie, sondern solche, die im Laufe langer Kämpfe um Repräsentation konstruiert wurden. Damit rekonstruieren die Vertreterinnen und Vertreter beider Ansätze parti- elle, fragmentierte Identitäten, die jenseits des essentialistischen Ge- gensatzes vom »Eigenen« und »Anderen« liegen (vgl. Hall 1994; Ha- raway 1995). Wenn also der Schwerpunkt im folgenden auf den Post- kolonialismen (bzw. den critical geopolitics) liegt, so bedeutet dies nicht, dass es zwischen der postkolonialen Kritik und den gender stu-

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dies keine Übereinstimmungen gäbe. Der eher postkoloniale Charak- ter dieses Buches ist dem thematischen Schwerpunkt der zu unter- nehmenden Reise geschuldet – widmet sich die postkoloniale Kritik doch den »ungleichen und ungleichmäßigen Kräften kultureller Reprä- sentation, die am Kampf um politische und gesellschaftliche Autorität im Rahmen der modernen Weltordnung teilnehmen« (Bhabha 1996:

345).

Entsprechend wird in der ersten Etappe der Versuch unternommen, einige der grundlegenden Widersprüche eines anderen Denkens aus- zuloten. Dabei soll das »Gebot« der irreduziblen Vielheit beachtet werden – was auch bedeutet, ein anderes Denken nicht zu beschrei- ben, sondern als work in progress zu konzeptualisieren und eine »de- konstruktiv-rekonstruktive Brille« zu erarbeiten, mit deren Hilfe die weiteren Etappen ebenso bestritten werden, wie sie selbst im weiteren Verlauf der Reise immer wieder verändert wird. Im Rahmen der zwei- ten Etappe soll durch diese Brille auf die Geographie geschaut werden.

»Geographie« ist dabei in jenem zweifachen Sinne zu verstehen, der schon im ersten Teil dieser Einleitung angeklungen ist: zum einen im Sinne der »allgemeinen« (politischen) Geographien bzw. geographi- scher Imaginationen und zum anderen im Sinne der fachwissenschaft- lichen Geographie.

Während die ersten beiden Etappen eher abstrakter und theoreti- scher Art sind, führt die dritte Etappe in empirische Gefilde: In ihrem ersten Teil soll der verunsichernde Blick durch die andere Brille auf den fachwissenschaftlichen Diskurs der Politischen Geographie ge- lenkt werden. Dabei wird die Brille mit dem bereits thematisierten

»Filter« der critical geopolitics »aufgerüstet«. Mit Hilfe dieses Filters kann ein anderer Begriff von Geopolitik entwickelt werden, der es erlaubt, jene »kultur-räumlich« geprägten Raumordnungs-Strategien zu dekonstruieren, die innerhalb des allgemeinen geopolitischen Dis- kurses vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt zum Tragen kom- men. Der zweite Teil dieser Etappe besteht in dem Versuch, die bis dahin gesammelten Einblicke an einem konkreten Beispiel zu veran- schaulichen: am Beispiel der deutschen Türkei-Politik seit 1989.

Demgegenüber weist das übergeordnete Ziel der vierten Etappe eher rekonstruktiven Charakter auf. Es besteht darin, den reduktionis- tischen Welt-Bildern des kultur-räumlichen Ordnungsdiskurses eine andere Geographie der Welt entgegenzusetzen. Zu diesem Zweck

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werden zunächst die Bilder des kulturellen Ausgleichs – und damit jene Bilder, die vielfach im Zusammenhang mit der Globalisierungs- debatte (re-)produziert werden – einer kritischen »Eignungsprüfung«

unterzogen. Da diese Prüfung aufzeigen wird, dass sich die harmoni- schen Bilder der globalisierten Welt strukturell nicht von den konflikt- haften Bildern der fragmentierten Welt unterscheiden können, kann eine andere und bessere Geographie der Welt nur in einer Bewegung der doppelten Abgrenzung skizziert werden.

Im Anschluss an den Versuch, eine solche Skizze anzufertigen, wird schließlich auf eine Frage eingegangen, die auf dieser Reise »eigent- lich« nicht zu beantworten ist. Dabei handelt es sich um die Frage, war- um die Rede von der Wirkungsmacht kultureller Unterschiede – sei es in ihrer konflikthaften oder sei es in ihrer auf Ausgleich bedachten Form – ausgerechnet heute, im »Hier und Jetzt«, mit einer solchen In- tensität vorgetragen wird. Dass sie trotz der Unmöglichkeit ihrer Be- antwortung, wenn auch vorläufig, beantwortet werden soll, hat vor allem einen Grund: Ihre Beantwortung bietet die Möglichkeit, die Rei- se zu ihrem ebenso unmöglichen wie notwendigen Abschluss zu brin- gen.

Die Spannung, die der Formulierung des »ebenso unmöglichen wie notwendigen Abschlusses« innewohnt, erinnert wieder an die grund- sätzlichen Widersprüche eines anderen Denkens. In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass die folgenden Ausführungen geradewegs in ein Dilemma führen werden – in ein Dilemma, aus dem auch nach Abschluss der Reise kein Ausweg gefunden werden kann. Dieses Di- lemma resultiert aus der theoretisch-praktischen Vorgabe, derzufolge ein anderes Denken immer wieder different sein möchte, anders sein möchte; dass es ebensowenig auf Einheitliches oder »Eigentliches« re- duziert werden sollte, wie es selbst Einheitliches und »Eigentliches«

(re-)produzieren möchte. Wenn dies die Vorgabe ist, dann muss einer- seits verunsichert werden; d.h. es darf nicht auf den Punkt gebracht, nicht identifiziert und nicht fixiert werden. Andererseits aber besteht die Notwendigkeit, genau das zu tun – und sei es nur, um die Ausfüh- rungen verständlich und nachvollziehbar zu gestalten.

Dieses Dilemma offenbart sich nicht nur in bezug auf ein anderes Denken »an sich«. Es offenbart sich auch in bezug auf die im Laufe dieser Reise zu verhandelnden Autorinnen und Autoren: Ebensowe- nig, wie es im Sinne eines anderen Denkens sein kann, »große« und

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berühmte Protagonistinnen und Protagonisten wie romantische Hel- dinnen und Helden zu behandeln, kann es darum gehen, einzelne Au- torinnen und Autoren als Antagonistinnen und Antagonisten zu brandmarken und stellvertretend für das Übel der modernen Rationa- lität an einen begrifflichen Pranger zu stellen. Denn die »Grenzen ei- nes Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlusspunkt hinaus, über seine innere Konfigu- ration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in ein System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen:

ein Knoten in einem Netz« (Foucault 1981: 36). Aber auch wenn sol- che Reduktionen im folgenden »eigentlich« vermieden werden sollen, so wird doch immer wieder der Eindruck entstehen, sie seien »inten- diert«. Denn sie müssen zwangsläufig vorgenommen werden – und zwar schon allein deshalb, weil die Sprache es nicht gestattet, »über den Begriff hinauszugelangen« (Adorno 1982: 27), und weil jeder Satz3

mit einem Punkt schließt, der das »Immer-auch-anders-sein-Können«

der Bedeutungen radikal reduziert. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben das aus dieser Reduktion resultierende Dilemma und insbeson- dere die Schwierigkeiten seiner Überwindung in ihrer Beschreibung des »rhizomatischen« Denkens in selbstkritischer Weise auf den Punkt gebracht:

»Das Viele erfordert eine Methode, mit der man es wirklich machen kann; kein typographischer Trick, kein lexikalisches Geschick, weder Wortmischung noch -schöpfung, auch nicht syntaktische Kühnheit können sie ersetzen. (…) Typographische, lexikalische oder syntaktische Wortschöpfungen sind nur notwendig, wenn sie nicht mehr zur Ausdrucksform einer verborgenen Einheit gehören, sondern selbst eine der Dimensionen der jeweiligen Vielheit werden;

wir kennen nur wenige Fälle, wo dies gelungen ist. Wir haben es nicht ge- schafft« (Deleuze u. Guattari 1977: 35-36).*

* Zwar können – wie Deleuze und Guattari schreiben – »typographische Tricks« das Viele nicht ersetzen. Aber auch wenn dies wohl insbesondere für den Fußnoten-Trick gilt, so stellt sich umgekehrt die Frage, ob sie gro- ßen Schaden anrichten können. Vielleicht können sie ja ein wenig dazu beitragen, die folgenden Ausführungen verständlicher zu machen. Aus dieser Hoffnung heraus werden bestimmte Worte und Begriffe dort in

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So bleibt auch an dieser Stelle nichts weiter übrig, als alle Mitreisenden einzuladen, sich trotz (oder gerade wegen) der widrigen Umstände in einem anderen Denken zu üben und die folgenden Ausführungen nicht als Ausdruck von »Eigentlichkeit« und Einheitlichkeit, sondern als ein Werkzeug zur Anerkennung von Vielheiten zu lesen, wie es ein Denken in Differenzen bereitstellen möchte.

besonderer Art und Weise hervorgehoben, wo es – aus welchen Grün- den auch immer – besonders ratsam erscheint, sie nicht im »eigentlichen«

Sinne, sondern im Sinne der Vielheit – was auch immer das im einzelnen heißen mag – zu lesen.

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1. Etappe:

Unterwegs zu einem

ANDEREN

Denken

Einleitung

»Viele Wege führen nach Rom«. Dieses Sprichwort paßt insofern zur Situation am Ausgangspunkt dieser Reise, als die aktuelle sozial- und geisteswissenschaftliche Landkarte eine Vielzahl von Wegen zeigt, auf denen eine andere Geographie der Welt erreicht werden könnte.

Hierzu zählen nicht nur systemtheoretische Wege, wie sie im Rahmen der deutschsprachigen Geographie etwa von Helmut Klüter gegangen werden (vgl. Klüter 1986). Auch das auf strukturationstheoretischer Grundlage entstandene Regionalisierungskonzept Benno Werlens böte vielfältige Ausgangsmöglichkeiten, und zwar nicht allein auf dem Feld der »normativ-politischen Regionalisierungen« (Werlen 1997: 329- 377). Auf dieser Reise aber wird eine andere Richtung eingeschlagen.

Es sollen solche Wege gegangen werden, die sich insofern inmitten vie- ler Widersprüche befinden, als sie sich im Spannungsfeld von postmo- dernen/poststrukturalistischen Perspektiven einerseits und marxisti- schen Perspektiven andererseits auftun.

Schon nach ein paar Schritten zeigt sich, daß die erste Etappe ab- wechslungsreich zu werden verspricht – besteht sie doch aus einer Vielzahl einzelner Pfade, die sich an einigen Stellen im Dickicht ihrer Widersprüche aufzulösen drohen, um andernorts aufgrund ihrer Ge- radlinigkeit beinahe an eine Schnellstraße zu erinnern. Weniger meta- phorisch gesprochen: Die hier gewählten postkolonialen Zugänge lie- gen – wie auch die mit der postkolonialen Kritik verwandten gender studies – nicht nur quer zu den konventionellen wissenschaftssyste- maren Grenzen. Sie liegen auch quer zu den etablierten wissenschafts-

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theoretischen Grenzen und entziehen sich der disziplinären »Arbeits- teilung« ebenso wie allen Versuchen der Definition. Und nicht zu- letzt vereinen sie unter ihren Namen eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und (disziplin-)politischer Einstellungen – allerdings we- niger in Harmonie als in produktiver Differenz. Daher wirft nicht nur die bereits vor Beginn der Reise vorgenommene Streichung des Singu- lars die Frage auf, inwieweit es überhaupt zu rechtfertigen ist, ein Denken des Dazwischen auf einen begrifflichen Nenner zu bringen.

Aufgrund der kleinen, aber schwerwiegenden Differenzen ist es »ei- gentlich« unmöglich, einen solchen Nenner zu formulieren. Zudem steht das »oberste Gebot« eines anderen Denkens, das doch immer wieder anders und auf Unterschiede bedacht sein möchte, der Formu- lierung eines solchen Nenners diametral entgegen. Nicht von ungefähr wendet sich Judith Butler, wenn auch in bezug auf das postmoderne Denken, gegen den identifizierenden Gestus, der Heterogenes gewalt- sam auf eines hin wendet:

»Wenn Lyotard den Terminus ›Postmoderne‹ verwendet, wenn man ihn halb- wegs passend mit einer Reihe von Theoretikern zusammenfassen und in seinen Werken einige problematische Zitate aufweisen kann, folgt dann daraus, daß diese Zitate als Beispiel für das ›postmoderne Denken‹, also als symptomatisch für das Ganze gelten können?

Wenn ich (…) das Projekt des postmodernen Denkens wenigstens teilweise richtig verstehe, besteht es gerade darin, die Verwendung solcher ›Beispiele‹

und ›Paradigmen‹ zu hinterfragen, die das, was diese Begriffe klären sollen, un- terwirft und auslöscht. Denn das Ganze, das Feld des postmodernen Denkens in seiner angeblichen Breite, wird in Wirklichkeit erst durch das Beispiel, das als Symptom und Beispiel für das Ganze stehen soll, hervorgebracht. Wenn wir glauben, daß uns das Beispiel von Lyotard eine Repräsentation der Post- moderne liefert, haben wir nur gewaltsam das Gesamtfeld durch das Beispiel ersetzt, bzw. das Gesamtfeld gewaltsam auf ein Teilstück reduziert (…)« (But- ler 1993: 34).

Wenn also im folgenden von einem Denken des Dazwischen die Rede ist, dann sollte immer mitgedacht werden, daß dies ausschließlich aus heuristischen Gründen der Fall sein kann; und ausschließlich deshalb, weil nicht die kleinen Unterschiede, sondern die großen Gemeinsam- keiten (gewaltsam) in den Vordergrund gerückt werden.

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Die wohl größte dieser Gemeinsamkeiten besteht in einer kritischen Auseinandersetzung mit grundlegenden Aspekten der modernen west- lichen Rationalität. Das moderne Denken, so formulieren es zumin- dest die radikaleren Vertreterinnen und Vertreter eines anderen Den- kens, sei an sein Ende gelangt. Dabei handele es sich um ein unrühmli- ches Ende, »ein Ende, das unabweisbar davon zeuge, daß die im Zei- chen der Vernunft und Emanzipation stehende Moderne längst in das Gegenteil ihrer Antriebe und Hoffnungen umgeschlagen sei und da- durch allerdings erst ihr ›wahres Gesicht‹ zu erkennen gegeben habe:

kaum mehr und anderes als zunehmende Verdinglichung und Verwal- tung, Herrschaft und Macht, Zwang, Gewalt und Destruktion seien die entscheidenden Charakteristika der von diesem wirkungsmächti- gen Projekt bestimmten Geschichte und Gegenwart« (Straub 1991: 49).

Auch wenn diese Einschätzung aufgrund ihrer Schärfe nicht von allen anderen Denkerinnen und Denkern geteilt wird, so macht sie deutlich, daß die hier zur Diskussion stehenden Perspektiven weit da- von entfernt sind, wissenschaftlichem Purismus in einem akademi- schen Elfenbeinturm zu frönen. Im Gegenteil: In diesem Denken ver- binden sich (erkenntnis-)theoretische mit zeitdiagnostischen und ethisch-normativen Aspekten, und manche Beiträge, wie etwa das fe- ministisch-marxistische »Manifest für Cyborgs« (Haraway 1995), er- innern eher an gesellschaftspolitische Plädoyers als an das, was ge- meinhin als wissenschaftliche Abhandlung bezeichnet wird. Zwar wird damit der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – freilich in anderem als empirisch-analytischem oder objektivistischem Sinne – nicht zwangs- läufig aufgegeben. Aber wichtiger als die Frage nach Wissenschaftlich- keit erscheint diejenige nach den politischen, den machtbezogenen Aspekten des Wissens.

Auf die nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten, aber auch auf die Potentiale, die sich aus der gezielten Vermengung von im weitesten Sinne gesellschaftspolitischen und gesellschaftstheoretischen – mit nor- mativen und zeitdiagnostischen Aspekten verbundenen – Ansprüchen einerseits und erkenntnistheoretischen Ansprüchen andererseits erge- ben, wird im Verlauf dieser Reise noch des öfteren zurückzukommen sein. Zunächst sei jedoch der Frage nachgegangen, welche Felder des modernen Denkens im Rahmen postmoderner/poststrukturalistischer/

postkolonialer Perspektiven denn überhaupt bearbeitet werden. Aus der Vielzahl der möglichen hebt Jane Flax die folgenden hervor:

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»(1) contemporary Western culture – its nature and the best way to understand it; (2) knowledge – what it is, who or what constructs and generates it, and its relations to power; (3) philosophy – its crisis and history, how both are to be understood, and how (if at all) it is to be practiced; (4) power – if, where, and how domination exists and is maintained and how and if it can be overcome;

(5) subjectivity and the self – how our concepts and experiences of them have to come to be and what, if anything, these do or can mean; and (6) difference – how to conceptionalize, preserve, or rescue it« (Flax 1990: 188).

Da es im Rahmen dieser Etappe nicht geleistet werden kann, auf all diese »Gegenstände der Konversation« detailliert einzugehen, muß nach einer Art »kleinstem gemeinsamen Nenner« gesucht werden, der es ermöglicht, die vielen Facetten eines anderen Denkens zu erschlie- ßen. Dieser Nenner kann beschrieben werden als die Kritik der Re- duktion von Vielheiten und der Ausgrenzung des Differenten. Was aber soll das heißen – die »Ausgrenzung des Differenten«?

Wiederum auf eine Kurzversion gebracht, könnte es heißen, daß in einer bestimmten historischen Phase, die meist als Beginn der Neuzeit bezeichnet wird, »ein Wechsel im Legitimationsmodus diskursiver, ins- besondere wissenschaftlicher Aussagen« (Engelmann 1990: 13) statt- fand. Dieser Wechsel kann als eine Folge der Verdrängung Gottes aus dem Zentrum des Universums betrachtet werden: Während die Gül- tigkeit von wissenschaftlichen Aussagen bis dahin insofern gesichert war, als Gott die Einheit und den inneren Zusammenhang der zu un- tersuchenden Phänomene garantiert hatte, mußte die Gültigkeit von Aussagen über die Ordnung der Wirklichkeit nun auf andere Art und Weise sichergestellt werden. Der Mensch kam dieser Notwendigkeit nach, indem er sich selbst – gleichsam als Gottes Sachverwalter – als erkennendes Subjekt konstituierte. Das Moment der Beherrschung und Aneignung, das dieser Konstitution zugrunde liegt, findet seinen trefflichen Ausdruck bei Descartes, »wenn er den Menschen die Auf- gabe zuschreibt, sich zu ›maîtres et possesseurs de la nature‹ zu ma- chen« (Waldenfels 1990: 57). Am Ende dieses Aneignungsprozesses stand die Subjekt-Objekt-Relation, innerhalb derer das erkennende Subjekt zum Antagonisten dessen geworden ist, was ihm als Objekt gegenübersteht bzw. von ihm zum Objekt gemacht wurde. Diesem

»subjektzentrischen Ordnungsgestus der Neuzeit« (Engelmann 1990:

14) liegt eine zweifache Abstraktion zugrunde:

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»Auf der einen Seite wird das Subjekt seit Descartes als Denken gefaßt, um über die phänomenale Vielheit der Menschen hinwegzukommen und sicherzu- stellen, daß die Wahrheit für alle Menschen gleichermaßen verbindlich ist. Die- se Abstraktion ist zugleich eine Reduktion auf eine, vergleichbare Eigenschaft aller Menschen.

Die ursprüngliche Abstraktion auf der Seite des Subjekts hat auf der Gegen- seite eine vergleichbare Abstraktion zur Folge. Der auf das Subjekt des Den- kens reduzierte Mensch nimmt die Phänomene als gedachte auf. In dieser Ab- straktion liegt die Gleichmachung der Dinge beschlossen, die zugleich auch Reduktion ihrer Vielheit an Eigenschaften ist. Der Ausschluß von Heterogeni- tät oder Differenz gehört also zur Konstitutionsbewegung neuzeitlicher Wis- senschaft und der durch diese verallgemeinerten szientistischen Rationalität.

Das Subjekt als Denkendes und das Objekt als Gedachtes bezeichnen die Pole der neuzeitlichen Rationalität, die von der Wissenschaft aus alle Bereiche der modernen Gesellschaft als Norm durchdringt und sie formiert« (ebd.).

Die neue, nun nicht mehr göttliche Ordnung basiert also auf der Über- zeugung, daß die menschliche Vernunft als zentrale Instanz Vielheit zu überbrücken und Heterogenität zu vereinheitlichen vermag. Diese Überzeugung charakterisiert, wie Engelmann (1990) weiter schreibt, nicht nur die naturwissenschaftlich-technische Rationalität, die sich im Anschluß an Descartes entwickelt hat, sondern – mit Einschränkun- gen – auch die sozial- und geisteswissenschaftliche Wissenschaftlich- keit, die sich am Hegelschen Modell wissenschaftlicher Diskursivität orientiert. Mit Einschränkungen deshalb, weil Hegel die subjektzen- trierte Rationalität einer radikalen Kritik unterzog und das cartesiani- sche Subjekt durch eine »fiktive Allgemeinheit des Geistes, ein objek- tiviertes Subjekt« (ebd.: 15) ersetzte. Dennoch kann argumentiert wer- den, daß die Struktur dieser Rationalität auch im Rahmen der dialekti- schen Logik, die bei Hegel an die Stelle der zweiwertigen Logik der positiven Wissenschaft tritt und »das Wissen zu einem geschlossenen System« (ebd.) verknüpft, erhalten blieb. Damit kann letztlich von bei- den Arten der modernen Rationalität behauptet werden, daß sie auf der Suche nach der Einheit von Einheit und Vielheit unweigerlich die Einheit privilegieren – oder anders formuliert: daß ihnen auf ihrer Su- che nach Einheit unweigerlich die Vielheit aus dem Blickfeld gerät, so daß sich »von irreduzibler Verschiedenheit und Vielheit (…) kaum ei- ne Spur« (Waldenfels 1990: 44-45) findet.

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Diese Tradition des ad unum vertere, d.h. der Vernichtung von Vielheiten durch deren Wendung auf das Eine hin, ist es, der gegen- über ein anderes Denken den Vielheiten und Heterogenitäten zu ih- rem Recht verhelfen möchte. Der in diesem Rahmen vielfach vorgetra- genen These, daß die Tradition des identifizierenden Denkens histo- risch weitaus früher anzusetzen sei – bei Platon etwa –, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Ebensowenig sollen die unterschiedli- chen Ausformungen der entstehenden modernen Ordnung – Bernhard Waldenfels etwa unterscheidet zwischen totalen, formalen, traditiona- listischen und positivistischen Ordnungsformen (ebd.: 15-27) – weiter differenziert werden. Denn relevanter als die »richtige« Datierung des

»Einheits-Denkens« (oder auch dessen Varianten) scheint, wie – mit welchen theoretisch-praktischen Mitteln – und vor allem warum – aus welchen theoretisch-praktischen Gründen – ein Denken des Dazwi- schen versucht, Vielheiten und Heterogenitäten zu ihrem Recht zu verhelfen.

Diese Fragen sollen im folgenden anhand einer Darstellung der (Dekonstruktions-)Arbeit beantwortet werden, die auf den beiden zentralen »Terrains der Verstörung« (Höller 1996) geleistet wurde.

Dabei handelt es sich zum einen um die Verstörung der neuzeitlichen Vernunft in derjenigen Hinsicht, die weiter oben bereits thematisiert wurde und im weitesten Sinn auf rationale Welt-Ordnung und -An- eignung abzielt. Zum anderen handelt es sich um die Bearbeitung des Statthalters bzw. der Statthalterin dieser Vernunft: des stabilen, selbst- identischen Subjekts selbst. Die Differenzierung dieser beiden Felder ist freilich nur in analytischer Hinsicht möglich – sind doch Welt- Ordnung einerseits und stabiles Subjekt andererseits im Rahmen des modernen Denkens untrennbar miteinander verbunden. Zum Zwecke der besseren Nachvollziehbarkeit scheint es dennoch sinnvoll, zwi- schen diesen beiden Momenten der modernen Rationalität zu unter- scheiden. So soll im Rahmen des nun folgenden zweiten Teilstücks vornehmlich die Logozentrik der Moderne kritisiert werden. Hier steht die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch das welt-ordnende und -aneignende Subjekt zur Disposition. Dieses Subjekt bleibt »ein- zig und allein, solange es sich auf die erhabene Rolle des Jedermann beschränkt« (Waldenfels 1990: 72). Läßt es sich aber »dazu herab, in die irdische Rolle eines Jemand zu schlüpfen, so bekommt es Konkur- renz in Form von Mit- und Gegensubjekten« (ebd.). In dieser Kon-

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kurrenz zeigt sich das zweite, das egozentrische Moment der moder- nen Rationalität insofern, als das selbst-identische Subjekt Jemand sei- ne »Anderen« nur in Abgrenzung vom »Eigenen« verhandeln kann.

Das Terrain dieser Egozentrik ist es, das innerhalb des dritten Teil- stücks bearbeitet wird. Im vierten Teil wird es schließlich darum ge- hen, einige grundlegende Inhalte eines anderen Denkens festzuhalten und damit den Rahmen der dekonstruktiv-rekonstruktiven Brille zu formen, mit deren Hilfe die weiteren Etappen dieser Reise bestritten werden sollen.

Das »Eine« und das »Andere«

Der Aussage, daß es Aufgabe einer Wissenschaft sei, wahrheitsfähige Aussagen über ihren Gegenstand zu treffen, den ihr »anvertrauten«

Ausschnitt der Wirklichkeit zu beschreiben und je nach Paradigma zu erklären bzw. zu verstehen, würden wohl nur die wenigsten wider- sprechen – am allerwenigsten vielleicht die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der feh- lenden göttlichen Ordnungsgarantie scheint der Glaube, die Wirklich- keit könne mimetisch, d.h. natur- bzw. originalgetreu wiedergegeben werden, immer noch tief in ihren Köpfen eingegraben zu sein. So be- steht ihr Ziel vielfach darin, objektives und rationales Wissen über ih- ren Gegenstand zu sammeln und die Ergebnisse ihrer Sammlungen in allerlei Vorträgen oder Publikationen an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Und nicht selten wird die Qualität der Ergebnisse danach bemessen, inwieweit es den Betreffenden gelungen ist, die Wirklichkeit unverfälscht oder objektiv abzubilden.

Die Vertreterinnen und Vertreter eines anderen Denkens hingegen wenden sich gegen die wissenschaftliche (wie »alltägliche«) Überzeu- gung, Wirklichkeit mimetisch und universal gültig repräsentieren zu können. Denn ihre »Vorfahren« haben darauf aufmerksam gemacht, daß Repräsentationen keinen Anspruch auf Universalität beanspru- chen, sondern nur innerhalb bestimmter Codierungen als gültig be- trachtet werden können; daß Repräsentationen nicht wertfrei, sondern immer in Fragen nach Macht und Herrschaft eingelassen sind, und daß das, was innerhalb eines bestimmten Kontexts als wahr gilt, nicht per se (oder von Natur aus) wahr ist, sondern auch ganz anders sein könn-

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te. Im folgenden soll ein Abstecher zu diesen »Vorfahren« unternom- men werden – auch wenn das Zurückführen auf sichere Ursprünge in einem anderen Denken »eigentlich« als problematisch erachtet wird (vgl. Göttlich 1999: 52). Dieser Abstecher wird deutlich machen, auf welcher theoretisch-praktischen Grundlage der Gedanke an die eine Wirklichkeit und die eine Wahrheit verabschiedet wird. Anschließend soll aufgezeigt werden, warum und wogegen die Vertreterinnen und Vertreter eines anderen Denkens »eigentlich« versuchen, Vielheiten (und damit auch anderen Wirklichkeiten und anderen Wahrheiten) zu ihrem Recht zu verhelfen.

Das Ende der einen Wirklichkeit und der einen Wahrheit

Als »Katalysator« der Diskussionen auf dem ersten Terrain kann – die Problematik des Benennens von Protagonistinnen, Protagonisten oder

»Vorfahren« immer im Blick behaltend – der Linguist Ferdinand de Saussure gelten (Saussure 1967). Er beschäftigte sich mit der Frage,2

auf welche Art und Weise das Verhältnis zwischen Sprache einerseits und den menschlichen Vorstellungen von Welt andererseits zu kon- zeptualisieren sei. Im Zuge seiner Überlegungen brach er – ähnlich wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein 1999a) – mit der12

auch heute noch verbreiteten Auffassung, die Sprache stelle ein Medi- um dar, mit dessen Hilfe die Realität natur- und originalgetreu reprä- sentiert werden könne. Er kam zu der Überzeugung, daß Sprache kein Drittes darstellt, das, wie Richard Rorty formuliert, »in einer festge- legten Beziehung zu zwei anderen Einheiten, dem Selbst und der Rea- lität, steht« (Rorty 1999: 37). Demgegenüber hielt er fest, daß es die5

Sprache ist, durch die Bedeutung überhaupt erst produziert wird. Von entscheidender Bedeutung für diese Sichtweise war die Entwicklung eines wissenschaftlichen Begriffs »von Sprache als einem abstrakten, geregeltem Zeichensystem« (Keller 1997: 311). Diese langue war es, auf die Saussure seine Überlegungen insofern konzentrierte, als er auf dem Standpunkt stand, daß nur sie aufgrund ihrer Regelhaftigkeit wis- senschaftlicher Betrachtung zugänglich sei. Die Ebene der konkreten sprachlichen Äußerungen, die parole, klammerte er hingegen weitge- hend aus seinen Betrachtungen aus. Auf dieser Grundlage trennte Saussure die Form (das Wort oder den Signifikanten) eines sprachli-

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chen Zeichens von der mit dieser Form assoziierten Idee (dem Kon- zept oder Signifikat). Zwar seien, so Saussure, beide Teile notwendige Bestandteile der Bedeutungsproduktion. Aber die Beziehung, die zwi- schen ihnen bestehe, sei nicht natürlich oder essentiell, sondern resul- tiere aus spezifischen kulturellen Konventionen. Die Bedeutung »woh- ne« also nicht in den Zeichen, sondern ergebe sich aus einem bestimm- ten System von binären Oppositionen zwischen den Signifikanten; sie entstehe durch die Unterschiede, die Worte innerhalb einer bestimm- ten gesellschaftlichen Konvention bzw. eines bestimmten sprachlichen Codes aufweisen.

Diese Überlegungen bildeten einen Ausgangspunkt der »linguisti- schen Wende« innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften, denn sie hatten gezeigt, daß Sprache nicht als Medium zwischen den Dingen und ihrer Bedeutung aufzufassen ist, sondern Bedeutungen erst pro- duziert. Im Rahmen dieser »Wende« machten sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen u.a. daran, Saussures Konzeption weiterzuentwickeln. Jacques Derrida etwa suchte Saussure insofern zu

»überbieten«, als er – aufbauend auf dessen Ausschluß des empirischen Referenten aus dem Zeichenprozeß im engeren Sinne – das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat problematisierte. In den Worten des Literaturwissenschaftlers Sven Strasen: »Nach dem Verhältnis zwi- schen Signifikant und Referent wird nun das zwischen Signifikant und Signifikat problematisiert« (Strasen 1996: 26). Damit stellte Derrida dem abschließenden und binären Moment im strukturalistischen Kon- zept Saussures den Prozeß einer unkontrollierbaren und unendlichen Bedeutungsverschiebung entgegen (vgl. Engelmann 1991). Diese per- manenten Bedeutungsverschiebungen, das legendäre »freie Flottieren der Signifikanten« also, werden in der poststrukturalistischen Literatur gern mit dem Verweis auf den Versuch veranschaulicht, »die Bedeu- tung eines unbekannten Signifikanten im Wörterbuch nachzuschlagen oder die Fragen eines Kleinkinds zu beantworten« (Strasen 1996: 26).

Dieser Versuch lehrt, daß »das Signifikat nur in Form eines weiteren Zeichens, also eines neuen Signifikanten, der seinerseits wieder mit ei- nem Signifikat korreliert, zugänglich ist« (ebd.). Als »Zeichen« für die prinzipielle Unmöglichkeit, den Signifikanten stabile Bedeutungen zu- zuschreiben, führte Derrida die différance ein: die französische Diffe- renz mit einem ebenso unhörbaren wie regelwidrigen »a«.

Die différance sieht sich freilich mit einem unausweichlichen Di-

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lemma konfrontiert: Sie stellt eine Bezeichnung dar und darf doch »ei- gentlich« nichts bezeichnen. Obwohl (oder gerade weil) dieses Di- lemma nicht aufzulösen ist, möchte sie weder »ein Wort noch ein Be- griff« (Derrida 1990a: 82) sein, sondern als »Strategie (…) ohne Finali- tät« (ebd.: 81) begriffen werden, mit deren Hilfe nichts eindeutig aus- gesagt werden kann – außer vielleicht der Unmöglichkeit, irgend etwas eindeutig auszusagen. Denjenigen Raum schließlich, in dem Wirklich- keit, ganz im Sinne der différance, ein Gewebe oder eine Verkettung von Differenzen markiert, bezeichnet Derrida als Text:

»Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. (…) Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes, der ohne Grenzen ist – ich habe deshalb gesagt, auch als scherzhafte Bemerkung, es gäbe kein Außerhalb des Textes –, folglich setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Mo- ment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre, et- was, das nicht es selbst wäre, markiert durch die textuelle différance, durch den Text als différance mit einem ›a‹« (Derrida zit. in Engelmann 1991: 73).

Ähnlich radikale Erweiterungen des Feldes sprachphilosophischer Erwägungen über den Bereich der Linguistik hinaus finden sich in denjenigen Ansätzen, die in Anlehnung an den anderen Kulturwissen- schaftler Stuart Hall als semiotische und diskursive bezeichnet werden sollen (Hall 1997a, 1997b). Beide stellen die Möglichkeit eines forma- len Zugangs zu Sprache und Repräsentation, wie Saussure ihn gesucht hatte, durch die verstärkte Einbeziehung interaktiver und dialogischer Elemente in Frage. Während eine semiotische Herangehensweise dabei in erster Linie auf die Analyse von Zeichen bzw. deren Funktion als Bedeutungsträger – also auf das Wie der Repräsentation – abzielt, geht ein diskursive Ansatz weiter. Indem er sich auch den Effekten und Konsequenzen von Repräsentation zuwendet, rückt er nicht die »Poe- tik der Sprache«, sondern die »Politik der Sprache« in den Mittelpunkt des Interesses:

»There are some similarities, but also some major differences between the se- miotic and the discursive approaches (…). One important difference is that the

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