BRIEFE DES ABU L-FADL IBN AL-^AMID AN ^ADUDADDAULA*
von Hans Daiber, Zandvoort
Vom literarischen Werk des 970 n. Chr. verstorbenen Buyidenwezirs Abü 1-Fadl
Ibn al-CAmid sind bisher nur Fragmente bekannt gewesen. Die arabische Literatur bringt Exzerpte hauptsächlich aus seinen poetischen Werken und aus seinen Briefen, aber auch aus naturwissenschafthchen Abhandlungen. In letzter Zeit sind mehrere
verschiedene Handschriften aufgetaucht, die Stücke aus dem umfangreichen Brief¬
wechsel enthalten, den Ibn al-CAmid mit zahlreichen Zeitgenossen geführt hat. Das
Referat konzentriert sich auf den von Yäqüt erwähnten Briefwechsel zwischen Ibn
al-CAmid und dem Büyiden Adudaddaula. Dieser ist in einer 1249 n. Chr. geschrie¬
benen Sammelhandschrift (Irakisches Museum Bagdad Nr. 594, S. 94-127) erhal¬
ten. Dort stehen sechs Briefe, die Ibn al-CAmid zwischen 962 und 970 n. Chr. als
Antworten auf naturwissenschaftliche Fragen an ^Adudaddaula geschrieben hat.
Der erste Brief bringt die aristotehsche Erklärung von Blitz und Donner sowie von Regen, Schnee und Hagel. - Der zweite Brief behandelt die Frage, warum die Fliege auf einer glasglatten, senkrechten Unterlage nicht ausgleitet. Dies wird mit dem Hafteffekt erklärt, den man bei zwei aneinandergepreßten Handflächen beobachten
kann. - Im dritten Brief geht es um die Frage, ob die Gestirne beseelt und ob sie
Lebewesen seien; es werden Piatos Timaeus und Aristoteles' De anima genannt. Ibn
al-CAmid neigt zur platonischen Lehre, modifiziert sie aber mit einem Hinweis auf Sure 22,18. - Der vierte Brief erklärt unter Rückgriff auf Aristoteles, wamm es auf
Meeresinseln Quellen mit trinkbarem Süßwasser gibt. - Im fünften Brief wird die
Frage behandelt, wamm es im Sommer in Ägypten so wenig, in Indien aber so viel
regnet. - Im sechsten Brief geht es zunächst um die Funktionsweise des astronomi¬
schen Instrumentes, das die Bestünmung von Ort und Zeit des Auf- und Untergangs der Sterne sowie die Festlegung der Himmelsmitte erlaube; es verbindet die Funk¬
tionen von Himmelsglobus und Armillarsphäre. - Zum Schluß wüd die aristoteli¬
sche Traumlehre referiert, die in ihren Modifikationen mittelplatonische und gale-
nische Elemente aufweist. - Bei allen Briefen - ausgenommen Brief Nr. 2 und 4 —
gibt es sporadische Berühmngen mit Schriften des Phüosophen al-Kindl. Sie zeigen Ibn al-CAmid nicht nur als einen Meister des inSä', sondern auch als Naturwissen¬
schaftler und Phüosoph.
* Ungekürzte Fassung erscheint in: , J)er Islam".
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 In Erlangen
DAS SCHWEIGEN DES GESETZGEBERS ALS MITTEL
DER RECHTSFORTBILDUNG IM BEREICH DES ISLAMISCHEN RECHTS*
von Konrad Dilger, Hamburg
Das Schweigen des Gesetzgebers dient im Bereich des islamischen Rechts heute
gelegentlich dann als Mittel der Rechtsfortbildung, wenn die Möglichkeit einer
kontinuierlichen Entwicklung offenstehen soll. Ohne das nach islamischer Auffas¬
sung von Gott gesetzte und daher unabänderlich geltende islamische Recht aus¬
drücklich anzutasten, wird auf diese Weise die Diskussion angeregt und eine „schöp¬
ferische Unmhe" geschaffen. Dadurch erweist sich das Schweigen des Gesetzgebers
als Mittel, modernen Entwicklungstendenzen im Recht zum Durchbruch zu verhel¬
fen, deren sofortige Verwirklichung konservative Kreise vor den Kopf stoßen müßte.
Ein Beispiel für ein solches Vorgehen des Gesetzgebers bildet das Erb verbot der Religionsverschiedenheit im tunesischen Recht: Ein wichtiger Gmndsatz un islami¬
schen Recht ist, daß bei Religionsverschiedenheit von Erblasser und Erben kein Erb¬
recht gegeben ist. Genauso wie ein Christ einen MusHm nicht beerben kann, kann
auch ein Muslim einen Christen nicht beerben.
In Tunesien ist die Erbunwürdigkeit in dem Personalstatutsgesetz vom 13.8.1956
geregelt (Art. 88): In Übereinstimmung mit dem islamischen Recht ist als Erbe
ausgeschlossen, wer den Erblasser vorsätzlich getötet oder zu töten versucht hat, namentlich etwa auch dadurch; daß er durch falsches Zeugnis gegen den Erblasser
dessen VemrteUung zur Todesstrafe und Hinrichtung verursacht hat. Weitere Erb-
ausschließungsgründe sind im Gesetz nicht genannt.
Das Schweigen des Gesetzgebers kann nun bedeuten, daß es keine weiteren Fälle
der Ausschließung von der Erbfolge gibt und insbesondere die Religionsverschieden¬
heit zwischen Erblasser und Erben in Abweichung vom islamischen Recht keinen
Erbausschließungsgrund mehr darstellt.
Das Übergehen der Religionsverschiedenheit kann statt einer stillschweigenden
Regelung aber auch eine echte Lücke im Gesetz bedeuten. Das wäre nichts Außer¬
gewöhnliches, da das tunesische Personalstatutsgesetz zahlreiche Lücken aufweist.
Im Unterschied zu anderen arabischen Ländern schweigt der tunesische Gesetzgeber allerdings darüber, wie (echte) Gesetzeslücken in dem Personalstatutsgesetz auszu¬
füllen sind. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Im Fall einer Lücke ist es entweder
möglich, auf islamisches Recht zurückzugreifen und damit am bisherigen Rechts¬
zustand festzuhalten; oder aber es ist denkbar, unter Anwendung moderner Rechts¬
gedanken Neuerungen einzuführen, die von der islamischen Rechtstradition ab¬
weichen.
• Eine erweiterte Fassung des Vortrages einschließlich der Anmerkungen erschemt an anderer Stelle.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen