• Keine Ergebnisse gefunden

Eckart Koester

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Eckart Koester "

Copied!
10
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Eckart Koester

,Kultur' versus Zivilisation':

Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschaulich-ästhetische Standortsuche*

Im Novemberheft 1914 der „Neuen Rundschau" veröffentlichte Thomas Mann einen Essay mit dem Titel „Gedanken im Kriege". Gegenstand dieser Gedanken war u.a. das Verhalten, das seine Schriftstellerkollegen - und er selbst - nach Kriegsbeginn an den Tag gelegt hatten:

„Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde! Und sie hatten den Frieden zu lieben geglaubt, sie hatten ihn wirklich geliebt, ein jeder nach seiner Menschlich- keit^...] Nun sangen sie im Wettstreit den Krieg, frohlockend, mit tief aufquellendem Jauchzen - als hätte ihnen und dem Volke, dessen Stimme sie sind, in aller Welt nichts Besseres, Schöneres, Glücklicheres widerfahren können.'"

Hier scheint in der Tat eine Diskontinuität, ein schwer verständlicher Bruch mit für verläßlich gehaltenen Anschauungen und Verhaltensweisen vorzuliegen. Nicht nur Th. Mann und viele Zeitgenossen zeigten sich von diesem Phänomen überrascht, es brachte auch die spätere Literaturwissenschaft, die das künstlerische Werk und die po- litische Biographie der Autoren miteinander in Einklang zu bringen versuchte, in Schwierigkeiten.

Es wäre übrigens verfehlt, aus Thomas Manns zitierter Äußerung einen kritischen oder gar selbstkritischen Unterton heraushören zu wollen. Wenige Zeilen später weist der Autor ein solches, sicher mögliches Mißverständnis mit Entschiedenheit zurück:

„Es wäre leichtfertig und ist völlig unerlaubt, dies Verhalten der Dichter auch nur in den unter- sten, bescheidensten Fällen als Neugier, Abenteurertum und bloße Lust an der Emotion zu deu-

Die Ausführungen gründen sich im wesentlichen auf die 1977 erschienene Dissertation des Referenten. Aus Zeitgründen konnte die neuere für den Themenbereich relevante Literatur nicht aufgearbeitet und berücksichtigt werden: D.V. bittet dies nicht als Geringschätzung miß- verstehen zu wollen. Im Unterschied zur Fragestellung dieses Referats untersuchte die Disserta- tion d.V. neben den Beiträgen der Kriegsbefürworter auch die Motive und Begründungszusam- menhänge der literarischen Opposition gegen den Krieg.

Vgl. Eckart Koester; Literatur und Weltkriegsideologie. Positionen und Begründungszusammen- hänge des publizistischen Engagements deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (Theorie- Kritik-Geschichte 15, Kronberg 1977).

1 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, zuerst in: Die Neue Rundschau 25 (1914), hier zit. nach der ersten Buchveröffentlichung in: Thomas Mann, Friedrich und die große Koalition (Berlin 1915) 7-31, 11 f. Im folgenden zitiert: Mann, Gedanken.

(2)

2 5 0 Eckart K o e s t e r

ten. A u c h waren sie niemals Patrioten im H u r r a - S i n n e u n d .Imperialisten', schon deshalb nicht, weil sie selten Politiker sind."2

O b m a n T h o m a s Manns Entschuldigung auch „in den untersten [...] Fällen" (man d e n k e an die oft unsägliche Kriegslyrik zweitrangiger Literaten) z u s t i m m e n kann, sei dahingestellt. Richtig ist aber zweifellos der zweite Teil des Zitats: U n t e r den ernstzu- n e h m e n d e n Vertretern der Vorkriegsliteratur hatte es wirklich k a u m Hurrapatrioten oder Imperialisten gegeben; u n d zwar schon deshalb nicht, weil den meisten von ih- nen d e r Bereich der Politik als eher trivial u n d damit der Beschäftigung k a u m würdig erschienen war. D a m i t ist das zentrale P r o b l e m im Z u s a m m e n h a n g m i t d e m Kriegs- e n g a g e m e n t deutscher Schriftsteller angesprochen: Wie ist dieser scheinbar plötzliche G e s i n n u n g s w a n d e l v o n der Friedensliebe zur Kriegsbegeisterung, vom politischen Desinteresse z u m dezidierten Engagement zu erklären? D e r Widerspruch stellt sich teilweise in n o c h schärferer Form. Schriftsteller, deren Z u r ü c k h a l t u n g gegenüber der Politik als A u s d r u c k einer ästhetischen Opposition zum wilhelminischen Staat bzw.

zur K u l t u r u n d Mentalität seiner Eliten verstanden w o r d e n war, trugen n u n bei zur propagandistischen U n t e r s t ü t z u n g dieses Staates u n d seiner Kriegspolitik.

In germanistischen U n t e r s u c h u n g e n über die betreffenden Schriftsteller ist m a n der Erklärungsnot vielfach dadurch entgangen, daß m a n a priori jede K o n t i n u i t ä t zwi- schen der Vorkriegsposition des Schriftstellers (die als integer angesehen wurde) u n d seiner als irritierend e m p f u n d e n e n Haltung im Kriege ausschloß. Nationaler Über- schwang, ausgelöst d u r c h das .August-Erlebnis', u n d politische U n e r f a h r e n h e i t m u ß - ten als Erklärung herhalten. W e n n , um ein b e z e i c h n e n d e s Beispiel dafür zu zitieren, Erich Heller ü b e r den Kriegspublizisten T h o m a s M a n n bemerkt, er habe „verwirrt von den Wirrnissen d e r damals gegenwärtigen Katastrophe"3 politisiert, so ist damit z u m Verständnis der recht profilierten Position, die T h o m a s Mann im Krieg vertrat, wohl nichts g e w o n n e n . A h n l i c h e W e n d u n g e n , hinter d e n e n sich nicht i m m e r apolo- getische A b s i c h t e n verbergen müssen, die aber k a u m Bereitschaft zur ernsthaften Analyse des schriftstellerischen Kriegsengagements e r k e n n e n lassen, k ö n n t e n aus ei- ner Vielzahl von Monographien, etwa über Gerhart H a u p t m a n n , Musil, H o f m a n n s t h a l u.a.m., zitiert werden4. Dieser Betrachtungsweise, die m a n als „Diskontinuitätstheo- rie" apostrophieren k ö n n t e , sollen hier - bevor detaillierter auf das Beispiel der T h o - mas M a n n s c h e n Kriegsschriften eingegangen wird - einige allgemeine T h e s e n z u m schriftstellerischen Kriegsengagement entgegengesetzt w e r d e n :

1. D e r publizistische Beitrag deutscher Schriftsteller zur Kriegspropaganda ist weder hinsichtlich seiner Motive n o c h seiner Inhalte angemessen zu verstehen, w e n n m a n in i h m primär das Resultat nationaler bzw. politischer ,Aufgewühltheit' und Leidenschaf- ten sieht. In i h m reflektieren sich vielmehr vor allem die Erfahrungen, die die Schrift- steller zuvor mit ihren ureigensten Problemen der literarischen K o m m u n i k a t i o n u n d W i r k u n g in der d e u t s c h e n Vorkriegsgesellschaft g e w o n n e n u n d konzeptiv verarbeitet

2 Ebd.

J Erich Heller, T h o m a s M a n n . D e r ironische D e u t s c h e ( F r a n k f u r t a.M. 1959) 139.

4 Vgl. dazu etwa: Eberhard Hielscher, Gerhart H a u p t m a n n (Berlin 1969) 312 ff.; Wilfried Berg- hahn, R o b e r t Musil (Reinbek 1963) 63 f.; Helmut Gumtau, R o b e r t Musil (Berlin 1967) 26 f.; Willy Haas, H u g o von H o f m a n n s t h a l (Berlin 1964).

(3)

. K u l t u r ' versus .Zivilisation' 251 hatten. Aspekte politischer u n d militärischer Art, also z. B. die diplomatische Vorge- schichte des Krieges, die - realen - Kriegsziele der beteiligten Staaten, die Situation auf den Schlachtfeldern u.a., haben für die Literaten einen signifikant geringen Stel- lenwert. Statt dessen finden sich in ihren Beiträgen z.T. sehr intensive Überlegungen über K u n s t und Gesellschaft in Deutschland und in den Gegnerstaaten. Dabei nutzen viele Schriftsteller das ihnen n u n in größerem U m f a n g entgegengebrachte öffentliche Interesse dazu aus, eigene Status- und Rollenansprüche zu formulieren. Vor allem aber exponieren sie ihre Kulturanschauungen u n d Kunstideale, die sie mit .echtem' Deutschtum identifizieren. Diese Gleichsetzung ermöglicht nicht nur die kriegspro- pagandistische Verwendung solcher Anschauungen, sie wertet sie zugleich auch auf und gibt ihnen quasi kanonischen Rang.

2. W e n n also Kontinuität insofern besteht, als die Schriftsteller auch bei ihrer W a h r - n e h m u n g und D e u t u n g des Kriegsgeschehens fast ausschließlich von ästhetischen und kulturellen, oder allgemeiner gesprochen: ideellen Kriterien ausgehen, so gibt es doch unverkennbar auch wesentliche Momente der Diskontinuität. Bei vielen Autoren stellt das unmittelbare und unzweideutige politische Bekenntnis bereits ein N o v u m dar, zumal dann, wenn es im profanen Medium der Tagespresse verbreitet wurde.

Noch bemerkenswerter aber ist ein offensichtlicher Funktionswandel mancher Inhalte des schriftstellerischen Kulturräsonnements. Im neuen Argumentationskontext — Rechtfertigung bzw. Unterstützung der deutschen Position im Kriege - verlieren kul- turtheoretische Anschauungen und Wertmuster, die ihrer H e r k u n f t nach kritisch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des wilhelminischen Deutschland bezogen waren (wie Antimodernismus und romantischer Antikapitalismus, das Postulat von Idealis- mus u n d Innerlichkeit usw.), ihre ursprüngliche Stoßrichtung und werden n u n affir- mativ zur Legitimation des eigenen, vormals oft wenig geliebten Staates eingesetzt.

Das kritische Potential dieser Anschauungen und Ideologeme richtet sich nun exklu- siv gegen die angeblich verflachte Zivilisation' der westlichen Kriegsgegner, während Deutschland als Verteidiger ,tiefer' und idealistischer Kulturwerte g e r ü h m t wird.

3. W e n n man dieses .Umdenken' vieler Schriftsteller, d.h. das kriegsgerechte U m - funktionieren kulturkritischer Topoi und Wertmuster, nicht auf bloßen Opportunis- mus zurückführen will - was voreilig und wohl auch ungerecht wäre - m u ß m a n nach zumindest subjektiv verständlichen G r ü n d e n eines solchen Verhaltens suchen. Hier bieten sich im wesentlichen folgende zwei Erklärungsmöglichkeiten an:

a) Die Schriftsteller könnten a n g e n o m m e n haben, der August 1914 habe ein bekla- genswertes Kapitel deutscher Geschichte beendet und werde zu einer neuen Blüte ,echter' deutscher Kultur führen. In ihren Kriegsbeiträgen finden sich in der Tat af- fektgeladene Äußerungen, in d e n e n mit den dominierenden Tendenzen der vergange- nen ,Friedenswelt' abgerechnet und der Krieg vor allem deshalb begrüßt wird, weil er - so die Meinung - eine ,Reinigung' und ,Befreiung' der deutschen K u n s t von den

^ersetzenden' Elementen der Vorkriegskultur m i t sich bringen werde.

b) Im Z u s a m m e n h a n g mit dieser Verurteilung der .Friedenswelt' mag die ehrliche Uberzeugung eine Rolle gespielt haben, daß alles das, was die deutsche Kultur vor 1914 gefährdet oder deformiert habe, letzten Endes gar nicht genuin deutsch gewesen sei, sondern seinen Ursprung in der ganz andersartigen Lebensform und Kultur des

(4)

2 5 2 Eckart Koester

westlichen Auslands gehabt habe. Die Antithese von ,Kultur' und .Zivilisation', wie sie mit brillanter, aber auch etwas penetranter Beredsamkeit vor allem von Thomas Mann in seinen Kriegsschriften beschrieben wird, kennzeichnet formelhaft diese These von der völligen Andersartigkeit der deutschen gegenüber der westlichen Lebensart und Denkweise.

Betrachten wir im folgenden exemplarisch einige Aspekte aus Manns kriegspublizi- stischen Schriften. In den bereits genannten „Gedanken im Kriege" gibt der Autor gleich zu Beginn eine assoziationsreiche Definition der Begriffe Kultur und Zivilisa- tion:

„Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Kultur. Niemand wird leugnen, daß etwa Mexiko zur Zeit seiner Entdeckung Kul- tur besaß, aber niemand wird behaupten, daß es damals zivilisiert war. Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Ma- gie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafes, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, - Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist. Das Genie, namentlich in der Gestalt des künstlerischen Talentes, mag wohl Geist und die Ambition des Geistes besitzen, [ . . . ] - das ändert nichts daran, daß es nach Wesen und Herkunft ganz auf die andere Seite gehört, - Ausströmung ist einer tieferen, dunkleren und heißeren Welt, deren Verklärung und stilistische Bändigung wir Kultur nennen."5

Bei flüchtiger Lektüre könnte ein heutiger Leser fast den Eindruck haben, Thomas Mann wolle den Begriff,Kultur' denunzieren, da manche Beispiele ,stilvoller Wildheit' wohl eher schockierend und abstoßend wirken. Natürlich ist das Gegenteil der Fall:

Dies wird spätestens dort offenbar, wo der Schriftsteller „das Genie, namentlich in der Gestalt des künstlerischen Talentes" definitiv der Sphäre der Kultur und nicht des zi- vilisierten ,Geistes' zuschlägt. Was veranlaßte Thomas Mann überhaupt dazu, sich über die Begriffe zu äußern? Gab es so kurz nach Kriegsbeginn nicht wichtigere Themen?

Hören wir den Autor selbst: Im Gebrauch der Schlagworte, so monierte er, herrsche - namentlich in der Tagespresse - „große Ungenauigkeit und Willkür"6. Sein eigener Vorschlag zur „Definition dieser vieldeutigen und viel mißbrauchten Wörter"7 zielte allerdings auch nicht darauf ab, die Begriffe aus dem politischen Meinungsstreit her- auszuhalten, sondern verschärfte eher den unter ihrer Verwendung geführten Disput.

Hatte sich die deutsche Tagespresse zumeist damit begnügt, Deutschland ein höheres Recht zur Verteidigung der ,Kultur' zu attestieren als den Gegnerstaaten (die immer- hin noch als Kulturnationen, wenn auch als solche geringeren Ranges, angesehen wurden), so glaubte Mann, daß nur die Deutschen beanspruchen dürften, die Idee der

5 Mann, Gedanken, 7 f.

6 Ebd.

7 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (Berlin 1918) 143; im folgenden zitiert:

Mann, Betrachtungen.

(5)

.Kultur' versus .Zivilisation' 253

.Kultur' zu vertreten. Aus der zitierten Textstelle ist dies noch nicht unmittelbar her- auszulesen, es wird aber im weiteren Verlauf des Kriegsaufsatzes deutlich. Indem der Autor dort .Kultur' und Deutschtum miteinander identifiziert, wird alles, was er über den Vorrang der ,Kultur' ausführt, automatisch zu einem Argument für die deutsche - und gegen die westliche - Position im Kriege.

Das Wissen um die propagandistische Komponente der Mannschen Reflexionen könnte die Vermutung nahelegen, es handele sich um eine kriegsbedingte Improvisa- tion, um „eine Ausgeburt also der Kriegspsychose"8, wie Mann selbst es ironisch for- muliert, als er später, in den „Betrachtungen eines Unpolitischen", einen in diese Richtung gehenden Vorwurf Rollands zurückweist. Seine Versicherung, er habe

„längst vor dem Kriege" seine „Bestimmung der beiden Begriffe in aphoristischer Form öffentlich mitgeteilt"9, ist zwar nicht ganz korrekt - in Wahrheit handelte es sich um unveröffentlichte Vorstudien zu einem geplanten Essay1 0 - , diese Notizen je- doch nehmen tatsächlich die im Krieg vorgestellte Fassung der Begriffsantithese vor- weg. Auch die folgende Relativierung der eigenen schöpferischen Leistung ist reali- stisch und spricht gegen den Improvisationscharakter der Kriegsgedanken:

„Ich wäre ja fast kein deutscher Schriftsteller, wenn ich niemals dieses Thema variiert, niemals auch meinerseits eine ,endgültige' Definition dieser [...] Wörter zu liefern versucht hätte. Hun- dertfach ist dies vor mir in Deutschland versucht worden, von Denkern und Dichtern.""

Es ist hier nicht die Gelegenheit, ausführlicher zu belegen, daß Manns abschließende Feststellung keineswegs übertrieben ist. Betrachtungen über den angeblichen Antago- nismus von Kultur und Zivilisation haben in Deutschland damals schon eine über hundertjährige Tradition. Ursprünglich - im 18. Jahrhundert - lag ihnen die Erfah- rung eines sozialen Gegensatzes zugrunde, der allerdings den Kern eines nationalen auf merkwürdige Weise in sich trug: des Konflikts nämlich zwischen dem politisch einflußlosen, durch kulturelle Leistungen sich legitimierenden Bürgertum und dem nach französischen Mustern zivilisierten' höfischen Adel1 2.

Aus diesem Erfahrungszusammenhang mag, wie Norbert Elias feststellte, „die Bil- dung solcher Gegensatzpaare wie .Tiefe' und .Oberflächlichkeit', ,Aufrichtigkeit' und .Falschheit', .äußere Höflichkeit' und .wahre Tugend'", und schließlich auch die sie summierende „Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur"1 3 hervorgegangen sein. Nach Elias wurde dann mit dem Aufstieg des deutschen Bürgertums zum Träger des Nationalgedankens aus der vorwiegend sozialen eine vorwiegend nationale Anti- these. Elias gibt allerdings keine wirklich überzeugende Erklärung dafür, wie es zum Umschlag vom sozialen zum nationalen Gehalt der Antithese kommen konnte, und

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Die vollständigen Notizen zu dem Essay wurden erstmals 1967 von Hans Wysling veröffent- licht; vgl. Hans Wysling, Geist und Kunst. Thomas Manns Notizen zu einem Literatur-Essay, in:

Paul Scherrer, ders., Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns (Thomas Mann-Studien 1; Bern, München 1967) 123-233; im folgenden zitiert: Geist und Kunst.

11 Mann, Betrachtungen, 143.

12 Vgl. Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes (Bern, München 21969) 8 ff.

13 Ebd. 36.

(6)

254 Eckart Koester

zwar m.E. deshalb, weil er d e n veränderten Stellenwert übersieht, den das W o r t .Zivili- sation' nach 1789 erhielt. Es stand nun n i c h t länger f ü r den Sittenkodex d e r französi- sierten Aristokratie, s o n d e r n für die Ideen d e r Revolution (die französische Nation f ü h l t e sich als Avantgarde der ,civilisation', da sie sich zur V o r k ä m p f e r i n der Men- s c h e n r e c h t e gemacht hatte). D e r jakobinische Terror und die Expansionspolitik Na- p o l e o n s trugen verständlicher Weise dazu bei, den egalitären u n d universellen .Zivili- sations'-Begriff zu diskreditieren. Er k o n n t e sich nun - in pejorativer A b s i c h t - gegen die französische Nation, gleichzeitig aber auch gegen alle - aus konservativer Sicht - b e d r o h l i c h e n demokratischen u n d revolutionären T e n d e n z e n richten, ja, gegen die Politisierung des öffentlichen u n d kulturellen Lebens überhaupt. W i r w e r d e n sehen, daß M a n n insbesondere an diese Denktradition anknüpft.

K o m m e n wir aber kurz n o c h einmal zu d e n zitierten K u l t u r d e f i n i t i o n e n aus den

„ G e d a n k e n im Kriege" zurück. A n h a n d z.T. wörtlicher Ü b e r e i n s t i m m u n g e n läßt sich nachweisen, daß sie wesentlich von Nietzsche inspiriert w u r d e n1 4. Was hatten die irra- tional-vitalistischen A n s c h a u u n g e n des Philosophen m i t Manns eigener künstlerischer Praxis zu tun? Eine Begeisterung für S c h ö n h e i t schaffende Barbarei hatte der Schrift- steller vor Kriegsbeginn gewiß nicht zu e r k e n n e n gegeben. Nietzsches A p o t h e o s e des .Lebens' auf Kosten des ,Geistes' findet sich bei ihm, etwa im „Tonio Kröger", allen- falls in ironisch gebrochener, gleichsam verbürgerlichter F o r m - was m a n fast als Pa- rodie auffassen k ö n n t e .

G e n a u hier dürfte aber auch ein Schlüssel z u m Verständnis d e r zitierten Ä u ß e r u n - gen liegen. Gegen T h o m a s Manns K ü n s t l e r t u m war in der Vorkriegszeit wiederholt d e r Vorwurf der Kälte, der artifiziellen .Mache' erhoben w o r d e n1 5. W e n n er sich n u n in d e n „Gedanken im Kriege" gegen das „Intellektualistische"1 6 in der K u n s t aus- sprach, so setzte er damit frühere B e m ü h u n g e n fort, seine Person u n d sein W e r k von e i n e m Mißverständnis zu befreien. Schon in den erwähnten Vorstudien zu e i n e m Es- say ü b e r ,Geist u n d K u n s t ' aus den Jahren 1 9 0 9 - 1 3 hatte er sich v o m Typus des n u r - kritischen, .zersetzenden' Literaten abzugrenzen versucht. Dabei hatte er sich in typo- logische Antithesen verrannt (Geist-Kunst; Schriftsteller-Dichter; sentimental-naiv;

Kritik-Plastik etc.), wobei er zweifellos d e m jeweils zweiten Glied der A n t i t h e s e n k e t t e den Vorzug einräumen wollte, eine entschiedene A b w e r t u n g des ersten aber n o c h scheute. Er mag - dies ist wohl der G r u n d für die NichtVeröffentlichung des Essays - e r k a n n t haben, daß die kunsttypologischen Gegensätze allein n i c h t geeignet waren, seine ästhetische Position präzise darzustellen. Das entscheidende Kriterium, das i h m dieses zu ermöglichen schien, rückte - im Z u s a m m e n h a n g mit der Kultur-Zivilisa- tions-Antithese - erst in den Kriegsschriften in den Mittelpunkt der Erörterung: das Kritierium nämlich, wie sich die künstlerische Tätigkeit z u r Sphäre von Politik u n d Gesellschaft verhalte. In einer k n a p p e n Notiz d e r Essay-Studie deutete sich bereits der G e d a n k e an, daß K ü n s t l e r t u m abstrakt u n d u n f r u c h t b a r werden müsse, w e n n es sich in d e n Dienst b e s t i m m t e r politischer Bestrebungen stelle. Mann reflektiert hier über

14 Belege hierzu bei Koester; a.a.O., 2 5 7 f f .

15 Vgl. dazu Klaus Schröter, T h o m a s Mann im Urteil seiner Zeit. D o k u m e n t e 1 8 9 1 - 1 9 5 5 ( H a m - b u r g 1969) 3 7 - 4 6 .

16 Mann, G e d a n k e n , 8.

(7)

,Kultur' versus Zivilisation' 255

den Typus des ,Literaten', der vom .naiven' Künstler geschieden sei durch „sittliche Reizbarkeit, Reinheit, Güte, Humanität, was" - und nun folgt die entscheidende Ein- schränkung des scheinbar positiven Urteils - „bei politischer Teilnahme zu einem fast trivialen, fast kindlichen Radicalismus und Demokratismus führen kann. Heinrich."1 7

Mit Heinrich ist natürlich der ältere Bruder gemeint, dessen literarischer Aktivismus Thomas Mann schon damals mißfiel. In den „Betrachtungen eines Unpolitischen" ist der Bruder - nur dürftig getarnt unter der Chiffre des ,Zivilisationsliteraten' - Haupt- adressat erbitterter und äußerst polemischer Tiraden.

Gegenüber dem Typus des politisch engagierten Literaten versucht Thomas Mann nun im Krieg sein eigenes, vermeintlich apolitisches, antiutopisch-realistisches Künst- lertum als höherwertig darzustellen. Der Kriegssituation trägt diese ästhetische Selbst- reflexion insofern Rechnung, als sie das Kriterium der nationalen Verwurzelung mit ins Zentrum der Betrachtungen rückt. In der Antithese von Kultur und Zivilisation glaubt Thomas Mann gleichermaßen den Gegensatz von .unpolitischer' Kunst und politischer Literatur wie von deutscher und undeutscher Gesinnung zum Ausdruck zu bringen. „Deutschtum", so statuiert er in den „Betrachtungen", „das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur."1 8

„Wessen Bestreben es wäre", heißt es an anderer Stelle der „Betrachtungen", „aus Deutschland einfach eine Demokratie im römisch-westlichen Sinn und Geiste zu ma- chen, der würde ihm sein Bestes und Schwerstes, seine Problematik nehmen wollen, in der seine Nationalität ganz eigentlich besteht; der würde es langweilig, klar, dumm und undeutsch machen wollen und also ein Anti-Nationalist sein."1 9 Ohne Kenntnis der vorhin in knappen Umrissen entwickelten Traditionslinien deutschkonservativer Zivilisationskritik wäre man wohl geneigt, derartige Ausführungen einfach als apodik- tischen Unfug abzutun. Für Mann liegen in derartigen Gegensätzen jedoch nicht we- niger als die „geistigen Wurzeln"2 0 des Krieges. Der Krieg nämlich, so führt er es in den „Betrachtungen" aus, beruhe auf dem „eingeborenen und historischen ,Protestan- tentum' Deutschlands"2 1, darauf, daß „Deutschland seinen Willen und sein Wort nie- mals mit dem der römischen Zivilisation (habe) vereinigen wollen"2 2. „Die Herr- mannsschlacht, die Kämpfe gegen den römischen Papst, Wittenberg, 1813, 1 8 7 0 "2 3: Alle diese Ereignisse seien nur Vorstufen des gegenwärtigen deutschen ,Protests' ge- gen den Weltherrschaftsanspruch der romanischen Zivilisation gewesen. In seiner neuzeitlichen Form äußere sich der „Imperialismus der Zivilisation"2 4 „im Willen zur Ausbreitung des bürgerlich politisierten und literarisierten Geistes"2 5, eines Geistes, der wesentlich französischen Ursprungs sei. Es sei „der Geist, der in der Revolution seine hohe Zeit hatte [...], der im Jakobiner zur scholastisch-literarischen Formel, zur

17 Geist und Kunst, (wie Anm. 10), 119 f-, Hervorhebung durch den Autor.

18 Mann, Betrachtungen, XXXIII.

19 Ebd. 16.

2 0 Ebd. 7.

21 Ebd.

2 2 Ebd. 10.

23 Ebd. 13.

24 Ebd. 12.

25 Ebd.

(8)

2 5 6 Eckart Koester

m ö r d e r i s c h e n D o k t r i n , z u r t y r a n n i s c h e n S c h u l m e i s t e r p e d a n t e r i e e r s t a r r t e "2 6 u n d d e r a u c h in d e r „neue(n) revolutionäre(n) F o r m e l d e r a l l m e n s c h l i c h e n V e r e i n i g u n g "2 7 - g e m e i n t ist w o h l d e r M a r x i s m u s - sein W o r t spreche.

A n g e s i c h t s e i n e r derart spekulativen u n d s c h e m a t i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n h i s t o r i s c h e r u n d politischer V o r g ä n g e k ö n n t e m a n auf d e n G e d a n k e n k o m m e n , d e r Titel v o n M a n n s u m f a n g r e i c h s t e r Kriegsschrift, d e r „ B e t r a c h t u n g e n eines U n p o l i t i s c h e n " , sei vielleicht selbstironisch o d e r selbstkritisch g e m e i n t . Beides wäre g l e i c h e r m a ß e n falsch:

D e r Titel ist e r n s t g e m e i n t . D i e E r k l ä r u n g liegt in M a n n s speziellem Politikbegriff.

D i e s e r wird z u n ä c h s t exklusiv d e r S p h ä r e d e r .Zivilisation' z u g e o r d n e t („Sie ist Politik d u r c h u n d d u r c h , ist die Politik selbst"2 8), u m d a n n in s e i n e m B e d e u t u n g s g e h a l t e n t - s c h e i d e n d e i n g e s c h r ä n k t zu w e r d e n : „ M a n ist Politiker o d e r m a n ist es n i c h t . U n d ist m a n es, so ist m a n D e m o k r a t . D i e politische G e i s t e s e i n s t e l l u n g ist die d e m o k r a t i s c h e ; d e r G l a u b e an die Politik d e r a n die D e m o k r a t i e , d e n c o n t r a t social."2 9 , U n p o l i t i s c h ' s t a n d also f ü r u n d e m o k r a t i s c h , oder b e s s e r : a n t i d e m o k r a t i s c h . M a n n s c h e u t e sich n i c h t , in d i e s e m S i n n e e i n d e u t i g Farbe zu b e k e n n e n .

D a s Motiv f ü r die a n t i d e m o k r a t i s c h e n A u s l a s s u n g e n d e s Schriftstellers ist aber w o h l w i e d e r u m n i c h t u n m i t t e l b a r in d e r a k t u e l l e n K r i e g s g e g n e r s c h a f t zu d e n w e s t l i c h e n D e m o k r a t i e n zu s u c h e n , s o n d e r n lag - a u c h p e r s ö n l i c h — n ä h e r : Es war die Selbstver- t e i d i g u n g d e s e i g e n e n K ü n s t l e r t u m s g e g e n das d e m o k r a t i s c h e L i t e r a t u r p r o g r a m m des ,Zivilisationsliteraten'. S o n t h e i m e r b e m e r k t , T h o m a s M a n n h a b e n i c h t g e g e n die D e - m o k r a t i e als Realität p o l e m i s i e r t , s o n d e r n g e g e n ein „quasi-abstraktes G e d a n k e n g e - bilde", n ä m l i c h g e g e n das „radikal-literarische A b z i e h b i l d der D e m o k r a t i e "3 0, wie es in d e n .politischen U t o p i e n ' H e i n r i c h M a n n s e r s c h e i n e .

D i e s e I n t e r p r e t a t i o n m e i n t etwas Richtiges, m a c h t es sich aber m . E . etwas zu leicht.

G e w i ß ist T h o m a s M a n n s Widerwille g e g e n die D e m o k r a t i e d u r c h die v o n i h m als naiv u n d a n a c h r o n i s t i s c h e m p f u n d e n e V e r h e r r l i c h u n g d e r D e m o k r a t i e i m W e r k sei- n e s B r u d e r s provoziert w o r d e n . Richtig ist a u c h , d a ß T h o m a s M a n n die „ d e m o k r a t i - s c h e H e i l s l e h r e "3 1 des ,Zivilisationsliteraten' ü b e r t r i e b e n ernst n a h m , aber e r n a h m sie e r n s t als politische Ideologie u n d verwechselte sie keineswegs m i t d e r Realität d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n D e m o k r a t i e n . Seine P o l e m i k trifft d a h e r n i c h t n u r die K a r i k a t u r des ,Zivilisationsliteraten', s o n d e r n e n t h ä l t d u r c h a u s e r n s t z u n e h m e n d e A r g u m e n t e z u r K r i t i k d e r w e s t l i c h e n Staatsverfassungen, etwa w e n n sie feststellt, d a ß sich das h u m a - n i t ä r e P a t h o s d e r e n g l i s c h e n u n d französischen D e m o k r a t i e n u r allzu g u t m i t i m p e r i a - listischer H e r r s c h a f t vertrage u n d daß es „Moral u n d G e s c h ä f t , H u m a n i t ä t u n d A u s - b e u t u n g , T u g e n d u n d N u t z e n "3 2 auf e r s t a u n l i c h e W e i s e m i t e i n a n d e r zu v e r b i n d e n wisse. Diese F e s t s t e l l u n g wird d u r c h k e n n t n i s r e i c h e Exkurse ü b e r die Praxis des briti-

26 Ebd. 11 f.

27 Ebd. 2.

28 Ebd. 34.

29 Ebd. 31.

30 Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen (Frankfurt a.M. 1965) 57.

31 Ebd. 31

32 Mann, Betrachtungen, 352.

(9)

,Kultur' versus .Zivilisation' 257

sehen Imperialismus in Indien und Irland belegt3 3. Allerdings - und insofern meint Sontheimer etwas Richtiges - scheint nicht das Kritisierte selbst für Thomas Mann besonders wichtig zu sein, sondern vielmehr die sich aus ihm ergebende Gelegenheit zur Denunziation seines literarästhetischen und ideologischen Gegenspielers, des ,Zi- vilisationsliteraten'.

Der Schriftsteller hätte die Demokratie auch dann abgelehnt, wenn ihre zeitgenös- sischen Erscheinungsformen ihm weniger Gelegenheit zur Kritik geboten hätten. Sein Widerspruch richtet sich gegen das demokratische Prinzip schlechthin. Mit Nietzsche macht er die Demokratie als „literatenhaftes Mitgerede von Jedermann über Jegli- ches"3 4 verächtlich. Beifällig zitiert er Disraeli: „Die Versuche des Volks, selbst seine Rechte zu behaupten, werden nur mit Leiden und Verwirrung endigen", um dann fortzufahren:

„Ich müßte ein Lügner und Heuchler sein, wenn ich meine überzeugte Zustimmung zu diesen Worten [...] verleugnen wollte. Mein Gott, das Volk! Hat es denn Ehre, Stolz - von Verstand nicht zu reden? Das Volk ist es, das auf den Plätzen singt und schreit, wenn es Krieg gibt, aber zu murren, zu greinen beginnt und den Krieg für Schwindel erklärt, wenn er lange dauert und Ent- behrungen auferlegt. Womöglich macht es dann Revolution, aber nicht aus sich; denn zu Revo- lutionen gehört Geist, und das Volk ist absolut geistlos. Es hat nichts als die Gewalt, verbunden mit Unwissenheit, Dummheit und Unrechtlichkeit."3 5

Auch der reaktionärste deutsche Politiker hätte sich kurz vor Kriegsende (die „Be- trachtungen" erschienen erst 1918) wohl nicht getraut, derartiges öffentlich zu verlaut- baren. Das gilt auch für die Art und Weise, in der sich Mann als „tief überzeugt" be- kannte, „daß der vielverschrieene .Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volk angemes- sene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt."36

„Ich will die Monarchie", heißt es an anderer Stelle der „Betrachtungen", „ich will eine leidlich unabhängige Regierung, weil nur sie die Gewähr politischer Freiheit, im Geistigen wie im Ökonomischen bietet. [...] Ich will nicht Politik. Ich will Sachlich- keit, Ordnung und Anstand."37 Die abschließenden Sätze sind in ihrer fast aktuell er- scheinenden .Politikverdrossenheit' verräterisch: Natürlich ist Mann nicht beschränkt genug, um sich wirklich mit der Hohenzollernmonarchie identifizieren zu können.

Sie erscheint ihm nur als das kleinere Übel im Verhältnis zur demokratischen Politi- sierung der Gesellschaft. Im übrigen besitzt er genügend Realitätssinn, um die histori- sche Aussichtslosigkeit seiner politischen Option zu erkennen: „Die Entwicklung Deutschlands ins immer Massengerecht-Primitivere, ins Radikal-Demokratische", so meinte er, sei „festzustellen und mit jener Achtung, die man dem Verhängnis schul- det, anzuerkennen"3 8. Aus der Unvermeidlichkeit der Demokratisierung folgert er, und nun wird wiederum der zentrale Antrieb seiner Kriegsgedanken deutlich, „die Notwendigkeit, das geistige Leben vom politischen zu trennen, dieses seine eigenen fatalen Wege gehen zu lassen und jenes über solche Fatalität zu heiterer Unabhängig-

3 3 Vgl. ebd. 352 ff.

3 4 Ebd. 266.

3 5 Ebd. 366.

3 6 Ebd. X X X I I .

3 7 Ebd. 246.

3 8 Ebd. 255.

(10)

2 5 8 Eckart Koester

keit zu erheben."3 9 Diese Äußerung relativiert die Parteinahme für den autoritären Staat endgültig. Sie verrät nämlich, daß die Sorge des Schriftstellers nur mittelbar der Konservierung der in Deutschland bestehenden Herrschaftsverhältnisse, primär aber der Erhaltung der durch sie - wie er meinte - vorbildlich gewährleisteten Trennung von Politik und Kultur galt. U m ihretwegen wurde er zum Parteigänger eines politi- schen Systems, dessen Abgelebtheit er nicht übersah.

Fassen wir zusammen: Thomas Manns kriegspublizistisches Werk, einschließlich seiner massiv antidemokratischen Auslassungen, resultiert also wesentlich aus kultur- politischen Anschauungen und Motiven. Es enthält - darauf konnte hier nicht näher eingegangen werden - auch weniger polemische und mit Gewinn zu lesende Ausfüh- rungen über die geistigen Prämissen des eigenen Künstlertums (zu nennen sind insbe- sondere die Kapitel „Bürgerlichkeit" und „Ironie und Radikalismus" der „Betrachtun- gen"). All dies gibt freilich keinen Anlaß, die staatspolitischen Aussagen der „Betrach- tungen" als „überspitzt und daher etwas ungeschickt"4 0 zu bagatellisieren, wie es Sont- heimer tut. Auch der Autor selbst meinte noch 1923 in seinem Brief an Félix Bertaud, diese rechtfertigen zu können, indem er sie rückblickend als „Kriegsprodukt" be- zeichnete, an dem ihm selbst „heute manches Periphäre unhaltbar" erscheine, „dessen apolitische Humanität aber nur grobes Mißverstehen ins politisch Reaktionäre" habe umdeuten können4 1. Es konnte wohl nicht nur ein „grobes Mißverstehen" darstellen, wenn die antidemokratische Rechte der Weimarer Republik den Autor zum Kron- zeugen ihrer politischen Anschauungen machte, um dann mit W u t darauf zu reagie- ren, als dieser seine Einstellungen offenkundig - und mit radikaler Konsequenz - än- derte. Einige Zeilen aus einem im Januar 1933 an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme gerichteten Brief legen Zeugnis darüber ab, wie vollkommen und gründlich Thomas Mann die in den Kriegsschriften vertretenen Auffassungen revi- diert hatte. Der Autor bekannte sich in dem Brief dazu, „daß der geistige Mensch bür- gerlicher Herkunft heute auf die Seite des Arbeiters und der sozialen Demokratie ge- hört", um dann fortzufahren:

„Als Mensch dieser Art empfinde ich tief das Falsche und Lebenswidrige einer Haltung, die auf die soziale, politische und gesellschaftliche Sphäre hochmütig herabblickt und sie als zweiten Ranges bezeichnet im Verhältnis zu der Welt der Innerlichkeit, der Metaphysik, des Religiösen usf. [...] Das Politische und Soziale ist ein Bereich des Humanen. [...] Ich spreche als Künstler, und auch diese Form der Vertiefung ins Menschliche, die man Kunst nennt, ist eine Sache des humanen Interesses, der leidenschaftlichen Anteilnahme am Menschen."42

3 9 Ebd.

40 Sontheimer, a.a.O., 41.

41 Thomas Mann, Briefe 1889-1936, hrsg. von Erika Mann (Frankfurt a.M. 1961) 207.

42 Thomas Mann, Bekenntnis zum Sozialismus: Brief an Adolf Grimme, dat. München v. 12. 1.

33, in: Sämtliche Werke in 13 Bänden, Bd. 12 (Frankfurt a.M. 21974) 678-684.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Gleich dem Weibe, dessen seelisches Emp- finden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren Sehnsucht nach er- gänzender Kraft und

 Die BuT-Lernförderung kann in kleinen Gruppen mit nicht mehr als sechs Schüler*innen unter Einhaltung der Abstandsregeln mit Mund-Nasen-Bedeckung durchgeführt werden (Stufe orange

Aber nicht nur die Abfolge des Dialogs ist an- ders: Im Mystère d’Adam beginnt die Szene »mit einem vergeblichen Versuch des Teufels, Adam zu verführen; der Teufel macht sich

Staiger betont: „Mit größter Vorsicht sei dies gesagt.“ Und dann folgt eine für sein literarisches Weltbild bemerkenswerte Wendung: „Wenn nämlich irgendwo, so möchte man

slows r&b rock funk lila Rythm & Blues, Rock Q,R i love rock'n roll joan jett and the blackhearts x. slows r&b rock funk lila Rythm & Blues, Rock Q,R it's my life

„An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedung und

Mit einem neuen Handbuch-Assistenten sollen noch mehr Schülerinnen und Schüler für eine Teilnahme an den Bun- desjugendspielen gewonnen werden.. Den Lehrerinnen und Lehrern

[r]