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(1)Rezensionen Hans Rothfels: Carl von Clausewitz

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Rezensionen Hans Rothfels: Carl von Clausewitz. Politik und Krieg. Eine ideengeschichtliche Studie. Reprint der ersten Auflage, mit einem Nachwort von Joachim Niemeyer.

Bonn: Dümmler 1980. XII, 241 S.

Freiheit ohne Krieg? Beiträge zur Strategie-Diskussion der Gegenwart im Spiegel der Theorie von Carl v. Clausewitz. Hrsg. : Clausewitz-Gesellschaft e. V. Wiss. Be- arb.: Werner Hahlweg. Mit einem Vorwort von Ulrich de Maizière. Bonn: Dümm- ler 1980. 412 S.

Die ideengeschichtliche Studie »Carl von Clausewitz. Politik und Krieg« von Hans Rothfels, deren erster Teil als Dissertation im Januar 1918 der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg vorgelegt und 60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung 1920 nun von Joachim Niemeyer mit einem Nachwort versehen als Reprint herausgegeben wurde, ist eine auf die Biographie des Generals abgestützte Entstehungsgeschichte seines Haupt- werkes »Vom Kriege«. Dabei werden von dem Autor in einem sehr modernen Verständnis der Militärgeschichte die militärischen Entwicklungen im Zusammenhang mit den geistes- geschichtlichen Strömungen und gesellschaftlichen Verhältnissen des beginnenden 19.

Jahrhunderts gesehen. Er beschränkt sich in Darstellung und Analyse auf den Zeitraum bis 1815, da Clausewitz in diesen unruhigen Kriegsjahïen seiner vita activa die wesentlichen Beobachtungen und Erfahrungen für sein kriegstheoretisches Werk sammelte, die er in den folgenden Friedensjahren der unfreiwilligen vita contemplativa dann zu Erkenntnissen verarbeitet und mit Unterstützung seiner interessierten und geistig aufgeschlossenen Frau niedergeschrieben hat.

Rothfels gliedert seine Studie in zwei große Abschnitte. Der erste Teil »Jahre der Vorberei- tung« beschreibt auf 84 Seiten die Voraussetzungen und frühen Grundlagen für die spä- tere Tätigkeit und Bedeutung von Clausewitz. Im zweiten Abschnitt »In der preußischen Not und Erhebungszeit« werden Leben und Wirken des Generals auf 110 Seiten im Zu- sammenhang mit der Niederlage Preußens 1806 sowie den anschließenden Reformen und Befreiungskriegen behandelt.

Der Verfasser zeichnet einleitend die persönliche, dienstliche wie private Entwicklung Clausewitz' von den Jugendjahren über den Frieden von Basel 1795 bis zur Jahrhundert- wende mit feinen, psychologisch ungemein einfühlsamen Strichen. Dabei stellt er das Her- anreifen des Jünglings in den Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen und gei- stigen Strömungen der Zeit, die durch die Philosophie des Idealismus und die Bildungs- richtung des Neuhumanismus gekennzeichnet waren. Der junge Clausewitz wird uns als ein sicher auch in seiner Zeit nicht leicht einzuordnender Mensch mit großer charakterli- cher Spannweite vorgestellt, auf der einen Seite grüblerisch und empfindsam, daneben aber beseelt von dem Wunsch nach soldatischer Betätigung und kriegerischer Aktivität. So erscheint er in den Neuruppiner Jahren von 1795 bis 1801 als ein innerlich noch nicht ge- festigter junger Offizier, der — wohl aus Wißbegierde und um seine ungenügende Bildung zu verbessern — die »Generalprinzipien des Krieges und ihre Anwendung auf die Taktik und die Disziplin der preußischen Truppen«1 Friedrichs II. von Preußen sowie Tempel- hofs »Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland«2 las. Weitere Erkenntnisse über die damaligen Studien von Clausewitz hat leider auch Rothfels nicht gewonnen. Von tiefer Bedeutung ist dagegen, was der Autor über die enge geistige Verwandtschaft zwi- schen dem jungen Offizier und seinem Lehrer Scharnhorst seit 1801 schreibt. Wenn die kriegstheoretischen Überlegungen dieses späteren Reformers aufgrund der kriegerischen Ereignisse, seiner intensiven dienstlichen Inanspruchnahme und seines frühen Todes 1813 auch nicht schriftlich fixiert vorliegen, so sind die geistigen Bezüge zwischen ihm und Clausewitz doch unverkennbar3. Ihre militärgeschichtliche Erforschung bleibt ein Deside- rat der Wissenschaft.

Die Behandlung der militärischen Studien und historisch-politischen Betrachtungen aus den »Jahren der Vorbereitung« (Kap. 2) geschieht auf der Grundlage des Wehrwesens und der Kriegführung im Absolutismus. Darauf aufbauend erläutert Rothfels die Kriegstheo- rien um die Jahrhundertwende (S. 30—44) sowie die taktischen und strategischen Lehren der kriegstheoretischen Vorgänger Berenhorst, Bülow, Jomini und Scharnhorst 157 M G M 2/ 8 0 (S. 44—54), um so den eigenständigen Wert der Auffassungen von Clausewitz zu verdeut-

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lichen. Ausgehend von diesen Exkursen stellt der Verfasser lapidar fest, daß es Clausewitz vorbehalten geblieben sei, einen kriegstheoretischen Neubau aufzuführen. Für diesen seien Fundament und Gerüste bereits in der ersten theoretischen Schrift, der Kritik an den stra- tegischen Auffassungen Bülows aus dem Jahre 1805, gelegt worden (S. 29, 54). Diese Ar- beit stellt Rothfels als ersten Bestandteil des Werkes »Vom Kriege« (2. Buch, Kap. 1) her- aus. Die darin enthaltene klassische Definition »Taktik ist der Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, Strategie der Gebrauch der Gefechte zu dem Endzweck des Krieges« bezeich- net er zutreffend als »eine Art geistiges Programm« (S. 56). Die H e r k u n f t dieser Defini- tion von Scharnhorst stellt er jedoch in Abrede, ohne d a f ü r einen schlüssigen Beweis lie- fern zu können.

Gründlich behandelt der Verfasser die frühe geistige Entwicklung ·! . , jungen Offiziers zum politischen und staatsphilosophischen Denker. Dabei verweist er auf dessen ebenfalls bis 1806 in spürbarem geistigen Ringen um gedankliche Klarheit und sprachliche Prägnanz erarbeitete »Historisch-politische Auszüge und Betrachtungen«, die er seiner Arbeit dankenswerterweise als Anhang angefügt hat (S. 197 ff.). Auch dies geschieht in ei- ner imponierenden geistesgeschichtlichen Gesamtschau.

Auch im zweiten Abschnitt verbindet Rothfels persönliches Schicksal sowie private und be- rufliche Empfindungen Clausewitz' aufs engste mit dem politischen und militärischen Ge- schehen im Herbst 1806 und während der Kriegsgefangenschaft von 1807. In diesem Zeit- raum entstand, wie der Autor bemerkt, der typisch Clausewitzsche Ausdruck »Friktion«, der ein grundlegendes Element f ü r die Ausgestaltung seiner Kriegstheorie geworden ist.

Reizvoll auch, wie die drei Briefe über die Kriegsereignisse vom Dezember 1806 und Fe- bruar 1807 interpretiert werden, in denen der junge Offizier Rechenschaft über das preu- ßische Versagen abzulegen versuchte. Dabei reichte sein breites geistiges Spektrum bei sei- ner unfreiwilligen »Bildungsreise« nach Frankreich von der Beschäftigung mit der Kriegs- theorie Macchiavellis bis zu landeskundlichen Problemen. Diese Aufgeschlossenheit f ü r alle Eindrücke nennt der Verfasser mit Recht eine wichtige Voraussetzung f ü r das Entste- hen des Werkes »Vom Kriege«. Andere Voraussetzungen, wie ein analytischer Verstand und eine reiche Berufserfahrung durch verschiedene Verwendungen in Frieden und Krieg, mußten sich freilich dazugesellen.

Nach einem längeren geistesgeschichtlichen Exkurs über Nation und Staat anhand von zwei 1807 entstandenen Schriften über Frankreich behandelt Rothfels die Stellung von Clausewitz in der preußischen Staats- und Heeresreform. Er war an ihr als jüngster der militärischen Reformer, als Adjutant und engster Führungsgehilfe Scharnhorsts beteiligt, wenn auch »ein originaler Anteil an der R e f o r m im engeren, organisatorischen Sinne nicht nachzuweisen und auch nicht wahrscheinlich ist« (S. 125). D a ß das Fehlen eines »origina- len Anteiles« und schöpferischen Mitwirkens an den Reformen auf Clausewitz' »Zuviel an gradliniger Energie« (S. 128) z u r ü c k z u f ü h r e n ist, m u ß allerdings bezweifelt werden. Seine Jugend und seine nachgeordnete dienstliche Stellung spielten dabei gewiß eine wesentliche Rolle.

Eindrucksvoll schildert Rothfels den national gesinnten Offizier, der mit leidenschaftlicher Energie eine kriegerische Erhebung gegen die französische Herrschaft herbeisehnte. In der berühmten Denkschrift mit den drei Bekenntnissen von 1812 fand dies seinen kämpfe- risch-literarischen Niederschlag. Für die Erarbeitung seiner Kriegstheorie aber w a r es be- deutsamer, daß er von 1810 bis 1812 als Lehrer an der »Kriegsschule zu Berlin« den Kron- prinzen Friedrich Wilhelm (IV.) in den Militärwissenschaften unterrichtete. So fand er Ge- legenheit, seinen kriegstheoretischen Gedankenschatz zu erweitern, zu ordnen und auszu- formulieren: wichtige Vorarbeit f ü r das W e r k »Vom Kriege«.

Zu Beginn des Kapitels »Der Befreiungskampf« geht Rothfels dann den Gründen nach, warum sich Clausewitz nicht zu einem allseits anerkannten Führer oder Führergehilfen entwickelt hat. Diese Frage vermißt man nahezu in der gesamten einschlägigen Literatur, weil die Bedeutung von Clausewitz als zeitlos gültigem Kriegstheoretiker und die Ausein- andersetzung mit seiner Theorie alles andere überdeckte. So ist auch seine Rolle als Chef des Generalstabes unter den Generalen Graf Wallmoden und v. Thielmann noch nicht hin- reichend erforscht. M a n wird Rothfels aber in dem Ergebnis zustimmen können, daß 1 5 8 Clausewitz zur Bewährung als militärischer Führer und Führergehilfe nicht nur die Gelegen-

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heit, sondern auch das Vermögen fehlte. Letzteres gilt sicher auch für seine Tätigkeit als Korpschef bei den Kämpfen gegen die Verbände Grouchys im Raum Wavre im Juni 1815.

Der Autor spricht in diesem Zusammenhang wohl zu Recht von »einer auch innerlich be- gründeten Schranke seines Vermögens« (S. 167) und sogar von »Clausewitz' militärischem Fiasko« (S. 168). Daneben aber wird ebenso klar herausgearbeitet, wie sehr die in den Kriegen von 1812 bis 1815 gewonnenen Einsichten und Erfahrungen den Fundus für sein späteres Werk abgeben sollten.

Eines der wichtigsten militärgeschichtlichen Forschungsergebnisse der Studie liegt schließ- lich in der Analyse des persönlichen und sachlichen Verhältnisses von Clausewitz zu Gnei- senau. Freundschaft und Übereinstimmung zwischen beiden haben nie das hohe Maß wie mit Scharnhorst, dem »Vater seines Geistes«, erreicht. Das wird besonders an den Vorbe- halten von Clausewitz gegen die maßlosen Rachepläne Gneisenaus und Blüchers deutlich, die beide im Widerspruch zur politischen Leitung Preußens und der Verbündeten 1814 und 1815 gegen die Franzosen hegten. Es ist Rothfels darin zuzustimmen, daß Clausewitz wohl wesentlich durch diese Erlebnisse dazu veranlaßt wurde, immer wieder den Primat der Politik zu fordern. Gerade in diesem Punkt wird die Eigenständigkeit seines Denkens und Fühlens besonders deutlich: Nach den militärischen Erfolgen über Napoleon ließ er sich nicht von emotionsgeladenen Rachegefühlen mit fortreißen, sondern bewahrte sich ein hohes Maß an geistiger Unabhängigkeit.

Mit dem Ende der Kriegszeit 1815 beschließt Rothfels seine »ideengeschichtliche Studie«, die den wichtigsten Beitrag aus der Schule Friedrich Meineckes4 zur Clausewitz-For- schung darstellt. Es ist ihm meisterlich gelungen zu zeigen, wie bei Clausewitz die kriegs- theoretischen Gedanken entstanden und heranreiften, die er später in dem Werk »Vom Kriege« niederlegte, welche Erlebnisse, geistigen Umwelteinflüsse und Erkenntnisse ihn dazu führten, das Verhältnis von Krieg und Politik grundlegend zu überdenken und dar- aus den Primat der Politik zu fordern. Auf der brillanten Arbeit fußt ein großer Teil der seither entstandenen Clausewitz-Forschung; sie war »der erste große Schritt zur Aufhel- lung des historisch-politischen und kriegstheoretischen Denkens bei Clausewitz«, wie Joa- chim Niemeyer in seinem Nachwort zutreffend feststellt (S. 236). Es ist sein Verdienst, das Buch durch einen Neudruck der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht zu haben. Da es auch heute noch aufgrund seiner Aussagen wissenschaftlich gültig und trotz einer um- fangreichen Clausewitz-Literatur unverzichtbar ist, wünscht man ihm eine weitere Ver- breitung. Sein hoher Wert wird auch durch die für heutige Leser zuweilen eigentümlich überhöht anmutende Sprache des Autors kaum geschmälert.

Der von der Clausewitz-Gesellscbaft herausgegebene Band mit der anspruchsvollen Frage im Titel »Freiheit ohne Krieg?« enthält nach einem Beitrag des Bundesministers der Ver- teidigung Hans Apel über die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und dem einführenden »Versuch einer Bestandsaufnahme militärpolitischer und strategischer Pro- bleme der Gegenwart im Lichte des theoretischen Ansatzes von Clausewitz« von General- major a. D. Wagemann in drei Teilen 22 Beiträge namhafter Autoren zur Strategiediskus- sion der Gegenwart. In seinem Vorwort weist der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, General a. D. de Maizière, auf die selbstgestellte Aufgabe hin, »aus der Begegnung mit den Gedanken des großen Philosophen und militärischen Denkers Nutzen für die Gegen- wart zu ziehen« (S. 9). Dabei solle versucht werden, die gegenwärtigen politischen und strategischen Aufgaben mit Blick auf die theoretischen Aussagen von Clausewitz zu unter- suchen, um die besonderen Probleme der Gegenwart im historischen Vergleich zu erken- nen und das theoretische Gedankengebäude von Clausewitz auf seine aktuelle Bedeutung hin zu überprüfen.

Diesem Ziel versucht der Band durch die Behandlung von drei Themenkreisen nahezu- kommen. Der erste Teil befaßt sich mit dem Hauptthema von Clausewitz, dem Verhältnis von Politik und Krieg, das in sieben Beiträgen aus verschiedener Sicht und mit unter- schiedlichem Ansatz untersucht wird. Dabei gehen die beiden Arbeiten des französischen Clausewitz-Forschers und Publizisten Raymond Aron »Zum Begriff einer politischen Stra- tegie bei Clausewitz« und »Staaten, Bündnisse und Konflikte« aus einer jahrelangen wis- 159 senschaftlichen Beschäftigung mit der Materie hervor5, während der Beitrag des österrei-

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chischen Historikers Manfried Rauchensteiner nicht nur interessante militärgeschichtliche Erkenntnisse enthält, sondern auch eine anregende Betrachtungsweise aus neutraler Sicht bietet.

Im zweiten Teil werden in neun Beiträgen die »Diskussionen der Strategie unserer Zeit«

untersucht. Hier werden ein weites Spektrum, weltweite Bezüge und die Vielfalt der Aspekte deutlich. Stellt der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bun- destages, Manfred Wörner, Kernwaffen und Kriegsverhinderung in den Mittelpunkt sei- ner Ausführungen, so weisen der israelische Professor für Militärgeschichte Jehuda L.

Wallach6 in seinem Beitrag »Clausewitz' Lehre von den geistigen und moralischen Fakto- ren und das Beispiel Israels« sowie der ehemalige Chef der Abteilung für Information und Dokumentation im schweizerischen Militärdepartement, Hans Kurz, in der Studie »Clau- sewitz und der >Sonderfall Schweiz<« den geistig-moralischen Größen eine besondere Rolle zu.

Der dritte Teil enthält schließlich sechs Beiträge aus der gegenwärtigen Clausewitz-Dis- kussion. Während sich Werner Hahlweg mit der Philosophie und Theorie sowie dem Gue- rillakrieg bei Clausewitz befaßt und Peter Paret7 sich mit den politischen Ansichten des Generals auseinandersetzt, berichtet der wissenschaftliche Publizist Walter Rehm über die Stellung, die Clausewitz in der D D R einnimmt.

Eberhard Wagemann übernimmt am Ende des Bandes schließlich die schwierige Aufgabe, in einem Schlußwort nicht nur die zahlreichen und verschiedenartigen Arbeiten zu würdi- gen, sondern sie auch »zueinander in Beziehung zu setzen« (S. 397).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Wert des Bandes weniger darin liegen kann, völlig neue Aspekte in die »Strategie-Diskussion der Gegenwart im Spiegel der Theorie von Clausewitz« einzubringen, als vielmehr auf relativ knappem Raum durch eine Fülle verschiedenartiger Beiträge nicht nur dem Fachmann, sondern auch dem interessier- ten Laien wertvolle Informationen und Anregungen zu vermitteln. Othmar Hackl

1 Abgedr. in Die Werke Friedrichs des Großen. Bd 6: Militärische Schriften. Hrsg. von G. B. Volz.

Berlin 1913, S. 3 - 8 6 .

2 G. F. v. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. Bd 1—6. Neudruck der Ausg. 1 7 8 3 - 1 8 0 1 . Osnabrück 1977 ( = Bibliotheca Rerum Militarium. Bd 29, 1 - 6 . )

3 Vgl. S. Mette: Vom Geist Deutscher Feldherren. Genie und Technik 1800—1918. Zürich 1938, S. 54 u. 154.

4 H. Mommsen: Geschichtsschreibung und Humanität. In: Aspekte deutscher Außenpolitik im 20.

Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis. Hrsg. von W. Benz u. H. Grami. ( = Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Sonder-Nr.) Stuttgart 1976, S. 10 f., be- tont in seiner Einordnung dieser Dissertation in die deutsche Geschichtsschreibung, daß darin über »die stark vom deutschen Idealismus bestimmte Sehweise« und Methode Meineckes hinaus auch bereits Ansätze des eigenen historisch-politischen Denkens von Rothfels erkennbar sind.

5 Vgl. A. Raymond: Penser la guerre — Clausewitz. Bd 1: L'âge européen. Bd 2: L'âge planétaire.

Paris 1976.

6 Vgl. J. L. Wallach: Das Dogma der Vemichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen. Hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung.

Aus dem Englischen. München 1970, sowie ders.: Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1972.

7 Vgl. P. Paret: Clausewitz and the State. Oxford 1976.

Karl Christ: Krise und Untergang der Römischen Republik. Darmstadt: Wissen- schaftliche Buchgesellschaft 1979. XV, 528 S.

Die römische Geschichte ist für die hier besprochene Zeit vom Ende der Punischen Kriege bis zum Beginn des Prinzipats die einer zügigen Expansion in gleichsam konzentrischen Kreisen nach außen, doch zugleich mit Verzögerung nach innen. Für die Folgen eines hieraus resultierenden auffallenden Auseinanderklaffens römischer Aktionsbereiche ist der 160 Begriff der Krise wohl zutreffend. Sie wurzelt im Politischen, erfaßt aber im Laufe des

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2. Jahrhunderts v.Chr. mehr und mehr auch andere Bereiche und führt von 260 an dann zügig zum Ende dessen, was von der Nachwelt als res publica gefeiert wird.

Für die Zeitgenossen scheint diese res publica, das liegt im Untergrund dieses Buches, viel- leicht nie die moralische Wertigkeit besessen zu haben, die ihr die spätere Sicht so gerne beimißt, und selbst ihre Deutung durch Cicero ist unverkennbar von Nostalgie bestimmt, kaum aber ein Maßstab für historische Wirklichkeit.

Dem Verfasser ging es darum, der allgemeinen Zersplitterung in Einzel- und Spezialge- biete entgegenzuwirken, von der dieser so besonders interessante Abschnitt Alter Ge- schichte bestimmt war. Andererseits versucht er die allgemein teilweise ins Kraut schie- ßende prämature Abstraktion von Theoriebildung dadurch abzufangen, daß er den allzu forschen Theoretikern erst einmal ein Tatsachengerüst zur Information und Orientierung an die Hand gibt. Wieweit er damit Erfolg haben und man sich von ihm etwas sagen lassen wird, bleibt abzuwarten. Das Ergebnis seines Versuches solcher Konkretisierung ist ein Überblick über den Faktenbestand unserer Kenntnisse römischer Republik, in neun große, sich natürlich ergebende Kapitel gegliedert und mit Zeittafeln, allgemeiner Bibliographie und Register versehen. Faustskizzen ergänzen die Darstellung. Es hätten deren mehr sein können.

Hat diese Darstellung bei solchem Vorhaben knapp zu bleiben und sich auf das Notwen- dige zu beschränken, so liegt der Wert des Buches über die Fakten hinaus in der Anregung zu weiterem Suchen nach Interpretationsmöglichkeiten. Das ist an sich nicht neu. Die Pro- blemkreise, um die es hier geht, lassen sich an sich kaum voneinander trennen, und das Su- chen nach Interdependenzen bedeutet den eigentlichen Fortschritt auch in der Forschung.

Die Aufgliederung der Material- und Problemkomplexe, wie sie hier vorgenommen wurde (vgl. S. VII ff.), bedeutet die beste Möglichkeit für den, der nicht eigentlich Fachhistoriker ist, die Wechselwirkung zwischen diesen Fakten zu erkennen. Ein umfassender bibliogra- phischer Anhang (S. 477 ff.) ermöglicht es, den gegebenen Anregungen weiter nachzuge- hen.

Auf den ersten Blick scheint vom Militärhistorischen her das Suchen nach Deutungsmög- lichkeiten eigentlich unergiebig. Daß die Punischen Kriege zu einer Zerstörung des itali- schen Kleinbauerntums führten, ist allgemein bekannt. Auf der anderen Seite muß seit dem 2. Punischen Krieg eine verstärkte Militarisierung notwendig geworden sein. Kriege, Besatzung und die Unterstützung der in den Provinzen operierenden Magistrate sind ohne Kader eines stehenden Heeres nicht vorstellbar (vgl. S. 5 ff.); der Anteil dieser Kader an einer force in being, auch an den politischen Bewegungen dieser Zeit, läßt sich konkret zwar nicht erfassen, muß aber lange vor der marianischen Heeresreform ein wichtiger so- zialer wie politischer Faktor gewesen sein. Die Bedeutung einer solchen Art von früher Heeresklientel bis in oberste Ränge hinein seit Scipio ist nicht zu übersehen; daß diese Klientel nicht stets unter Waffen stand, ändert an ihrer politischen Bedeutung nichts.

Die Kriege Roms mit ihrem Blutzoll mögen im Vergleich zur numerischen Stärke einer entsprechenden Anzahl Menschen aus ganz Italien eine geringe Rolle gespielt haben: Die Meuterei 151 gelegentlich einer Aushebung war regional begrenzt, ist in ihren Hinter- gründen kaum zu erfassen, somit ein Ereignis von geringer Bedeutung und überdies offen- kundig ein einmaliges Ereignis. So werden es auch die Kriege unmittelbar nach der Schlacht von Zama sein, die im 2. Jahrhundert Ansiedlungspolitik und effektive wirtschaft- liche Reorganisierung Italiens (S. 67) behinderten, indem sie allgemeine Wünsche befrie- digten. Gegenüber den sich neu ausprägenden Möglichkeiten einer Lebensgestaltung und ihren Attraktionen kann das Kleinbauernideal nur eine geringe Rolle in diesen Jahrzehn- ten gespielt haben. Andererseits war es wohl auch das militärisch-politische Problem, das die italische Bürgerrechtsentwicklung verhinderte und die Bemühungen der Gracchen wie ihrer Anhänger in den Augen der Zeitgenossen als überflüssig erscheinen ließ: Bedeutete für die Bundesgenossen ihr Status einen Vorzug gegenüber den Lasten der dienstpflichti- gen Bürger, so waren für den Italiker, der sich dem Militärdienst widmete, die Chancen von Karriere und Erfolg sicher nicht geringer, wobei das Bürgerrecht dann zwangsläufig zur äußeren Formalität wurde. Die an sich vergeblichen Kämpfe um das Bürgerrecht er- klären sich m. E. nicht zuletzt aus solchen Ventilationsmöglichkeiten.

Seit dem 2. Punischen Krieg stellt sich die Geschichte der Republik als eine einzige Kette

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von Kriegen dar, die bis in die Kaiserzeit anhielt, und ein Jahr, in dem nicht zumindest auf einem Schauplatz gekämpft wurde, gab es nicht. Nicht zuletzt dies könnte mit erklären, warum Rom in einer Art permanenter Ausnahmesituation seiner anderen Aufgaben und Belastungen niemals richtig H e r r zu werden vermochte, die Verhältnisse im Inneren ver- nachlässigt wurden und man auch nie die Zeit fand, den Verwaltungsapparat den wach- senden räumlichen Dimensionen anzupassen. Auch die Klientelstaaten erklärten sich nicht zuletzt als Provisorium aus diesen Verhältnissen. Die Provinz als Verwaltungsbezirk hatte auf die D a u e r nur Sinn, wenn ihre Kräfte, ähnlich wie die der italischen Bundesgenossen, intensiver als Italien den Zwecken des Imperiums nutzbar zu machen waren. Wieweit dies möglich war, das scheint Ergebnis erst eines Lernprozesses, der nach vielen Mißverständ- nissen und Wirren dann in der Kaiserzeit sein Ende fand.

Das Buch vermittelt ausgezeichnete Information über alle wichtigen Fakten der entschei- denden zwei Jahrhunderte römischer Geschichte. M e h r als ein Ausschnitt des Wichtigsten zu bieten freilich w a r weder möglich noch beabsichtigt. Kenntnis des Staatsaufbaues und des Verwaltungsapparates muß vorausgesetzt werden, eine Einleitung fehlt. Sie wäre in der Einführung in die Römische Geschichte des Autors (Darmstadt 1973) zu sehen. O h n e eine solche Grundlage bleibt f ü r das hier Gebrachte die Gefahr eines Rückfalls in die N e - bulosität falscher Vorstellungen bestehen. Eine andere Ergänzung bedeutet die Bibliogra- phie des Verfassers zur Römischen Geschichte (Darmstadt 1976). In der hier behandelten Epoche bedeuten Rom und Italien f ü r den Autor ein und dasselbe; es ist seit je schwer ge- wesen, beides auseinanderzuhalten.

Die Geschichte Roms als einer Stadt mit ausgeprägter Konsumentenbevölkerung ist alles in allem die eines Fremdkörpers innerhalb des sie umgebenden Raumes gewesen. D o c h wie im Militärischen bestand ihre Rolle auch in den anderen Bereichen darin, heterogene Kräfte miteinander zu verbinden und schließlich ineinander zu integrieren. V o n hieraus al- lein ist die römische Geschichte als die eines Wechselverhältnisses zu verstehen.

Gerhard Wirth

Johannes Kunisch: Das Mirakel des Hauses Brandenburg. Studien zum Verhältnis von Kabinettspolitik und Kriegführung im Zeitalter des Siebenjährigen Krieges.

M ü n c h e n , Wien: O l d e n b o u r g 1978. 151 S.

D e r Siebenjährige Krieg als »der letzte umwälzende Konflikt des europäischen Mächtesy- stems im ancien régime« (S. 11) hat, zumindest was seine diplomatische Vorgeschichte und die militärischen Operationen betrifft, in der historischen Forschung schon früh eine um- fassende Würdigung erfahren. W ä h r e n d die großen Darstellungen zum kriegerischen Ge- schehen zumeist unvollendet geblieben sind, ist das renversement des alliances, das wohl be- deutsamste diplomatiegeschichtliche Ereignis des ancien régime zuletzt von Max Braubach erschöpfend behandelt w o r d e n1. D e m Ausgang des Krieges ist dagegen nur eine ver- gleichsweise geringe Beachtung geschenkt worden. D e r Kölner Historiker Johannes Ku- nisch, der bereits mit verschiedenen Arbeiten zur Militärgeschichte des 18. Jahrhunderts hervorgetreten ist, hatte schon 1975 in einer ausführlichen Studie auf dieses Desiderat hin- gewiesen2.

Mit der vorliegenden Monographie, zu der er neben der bekannten umfangreichen Litera- tur auch Archivalien aus dem Wiener Kriegsarchiv verwendet hat, versucht er über die un- bestrittenen Deutungen hinaus zu einer neuen umfassenderen Bewertung des Kriegsaus- ganges zu gelangen. Ausgehend von den alliierten Kriegszielen, in denen Kunisch das

»Prinzip der Feindschaft« (S. 43) stärker ausgeprägt erscheint als in anderen vergleichba- ren politischen Zielvorstellungen im Zeitalter der Kabinettspolitik, kommt er zu dem Er- gebnis, daß die Verbündeten alles in ihren Kräften Stehende unternommen hätten, um die Zerschlagung Preußens zu erreichen. Vergegenwärtigt man sich in diesem Zusammenhang 162 die Behandlung Bayerns im Spanischen Erbfolgekrieg, so stellt sich die Frage, ob die weit-

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verbreitete Auffassung von der leidenschaftslosen Politik der Kabinette im Absolutismus nicht generell revisionsbedürftig ist3. Wenn aber das Interesse, die Kriegsziele zu errei- chen, bei den Alliierten in so überzeugender Weise gegeben war, so ist das Scheitern dieser Politik letztlich dem militärischen Apparat und den ihn lenkenden höheren Führern zuzu- schreiben.

Mit dieser Überlegung leitet der Verfasser auf eine strukturgeschichtlich orientierte Be- trachtung des Heerwesens im 18. Jahrhundert über. Dieser Abschnitt bildet zusammen mit dem folgenden, der dem prince connétable gewidmet ist und bereits durch die Begriffswahl deutlich werden läßt, daß weniger auf die Person des Königs als vielmehr auf die Institu- tion des Monarchen als des alleinverantwortlichen Heerführers abgehoben werden soll, den bestechendsten Teil der Arbeit. In der Struktur des zeitgenössischen Heerwesens und in der Persönlichkeit der einzelnen alliierten Heerführer liegen die ausschlaggebenden Faktoren des Krieges.

Die Abhängigkeit vom Landesherrn und von der schwankenden Gunst des Hofes veran- laßte die militärischen Führer, sich eher streng an die vorgegebenen Regeln der Kriegs- kunst zu halten, als durch gewagte Manöver, deren Scheitern sie einkalkulieren mußten, Kommando und Einfluß zu verlieren. Eine eklatante taktische Fehlentscheidung, wie etwa die Friedrichs bei Hochkirch, hätte Daun, wie bereits Leuthen Karl von Lothringen, si- cherlich den Oberbefehl gekostet. Aufgrund seiner alleinverantwortlichen Stellung und an- derer günstiger Umstände konnte der preußische König die Kriegslehren seiner Zeit zwar flexibler anwenden, doch sich von ihnen zu lösen war letztlich auch ihm nicht möglich.

Seine Gegenspieler wurden zusätzlich durch ungünstiges Terrain, überlange Versorgungs- linien, eine mangelnde Koordination der Kriegspläne und die Schwerfälligkeit ihrer auf bestimmte Bewegungsabläufe festgelegten Truppenkörper gehemmt. Die Summe dieser Faktoren hat schließlich eine Uberwindung Preußens illusorisch werden lassen.

Der Verfasser hat, indem er von einem strukturgeschichtlich orientierten Forschungsan- satz ausging, das »Mirakel« des Hauses Brandenburg entmythologisieren können. Seine Arbeit macht anschaulich deutlich, daß eine Betrachtung, die sich überwiegend an ereig- nisgeschichtlichen, durch biographische Überhöhungen angereicherten Details orientiert, schon bald ein »Fatum« (Ranke) oder den »Motivationsrest« (Koselleck) in der Geschichte bemühen muß, da andere Erklärungsmodelle versagen4. Erst durch die Untersuchung quasi-statischer Bedingungsfaktoren sozialer, ökonomischer und geographischer Natur erschließen sich die Chancen und Grenzen politischen Handelns rationalen Deutungsver- suchen. In diesem Zusammenhang konnte Kunisch in überzeugender Weise darlegen, wel- che Bedeutung den verschiedenen Strukturelementen militärischen Handelns zuzumessen ist und wie tiefgreifend sie den Ablauf eines historischen Prozesses zu beeinflussen vermö- gen. Die Arbeit läßt darüber hinaus erkennen, was moderne Militärgeschichte, die langat- mige Schlachtbeschreibungen und biographische Gloriolen vermeidet, für die Erforschung der frühen Neuzeit leisten kann.

Man mag bedauern, daß der Verfasser seine Untersuchung auf die bedeutenden Alliierten des Siebenjährigen Krieges beschränkt hat; sind doch entsprechende Arbeiten in Frank- reich, was die Armeen Ludwigs XV. betrifft, bereits vor längerer Zeit zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt5. Eine Erweiterung der Fragestellung auf alle kriegführenden Par- teien hätte sicherlich den Nachweis erbracht, daß die Strukturdefizite, die das österreichi- sche und russische Heerwesen der Zeit kennzeichneten, in ähnlicher Weise auch bei ande- ren Armeen des 18. Jahrhunderts vorhanden waren.

Insofern erscheint auch die von Eberhard Kessel angeregte Modifizierung des Untertitels in »Studien zum Verhältnis von Kabinettspolitik und Kriegführung im Zeitalter des Abso- lutismus« durchaus gerechtfertigt6. Bernhard R. Kroener

1 Der Siebenjährige Krieg. 1 7 5 6 - 1 7 6 3 . Bd 1 - 1 2 u. 1 Kartenbd. Berlin 1 9 0 1 - 1 9 1 3 ( = Die Kriege Friedrichs des Großen. Hrsg. vom Großen Generalstabe. T. 3.); R. Waddington: La guerre de sept ans. Bd 1—5. Paris 1899—1914. Die ältere französische Arbeit von Charles Pierre comte de Pajol: Les guerres sous Louis X V . Bd 1—7. Paris 1881—1891 konnte dagegen abgeschlossen wer- den; M. Braubach: Versailles und Wien von Ludwig XIV. bis Kaunitz. Die Vorstadien der diplo- matischen Revolution im 18. Jahrhundert. Bonn 1952 ( = Bonner Historische Studien. Bd 2.)

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2 J. Klinisch: Der Ausgang des Siebenjährigen Krieges. Ein Beitrag zum Verhältnis von Kabinetts- politik und Kriegführung im Zeitalter des Absolutismus. In: Zeitschrift für Historische Forschung.

2 (1975) 1 7 3 - 2 2 2 .

3 Chr. Probst: Lieber bayrisch sterben. Der bayerische Volksaufstand der Jahre 1705 und 1706.

München 1978 (vgl. die Bespr. in M G M 28 (1980) 228f.)·

4 L. v. Ranke: Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793—1813. ( = Sämtli- che Werke. Bd 47.) Leipzig 21880, S. 145 — zit. bei Kunisch im hier zu besprechenden Buch (Das Mirakel des Hauses Brandenburg), S. 54; R. Koselleck: Der Zufall als Motivationsrest in der Ge- schichtsschreibung. Bemerkungen zu Archenholtz' Geschichte des Siebenjährigen Krieges. In: H.

R. Jauß (Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. ( = Phone- tik und Hermeneutik. Bd 3.) München 1968, S. 129—141 — zit. bei Kunisch: Das Mirakel des Hauses Brandenburg, S. 13.

5 E. G. Léonhard: L'Armée et ses problèmes au XVIIIe siècle. Paris 1958; L. Kennett: The French Armies in the Seven Years' War. Durham, N.C. 1967.

6 Siehe die Besprechung von Eberhard Kessel in Zeitschrift für Historische Forschung. 5 (1979) 5 0 7 - 5 1 0 , hier S. 508.

Günter Wollstein: Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf: Droste 1977. 386 S.

Der deutsche Liberalismus ist in seinen Anfängen eher eine publizistisch-literarische Bewe- gung, orientiert an der Großen Französischen Revolution und deren Idealen1. Unter den realen Bedingungen deutscher Politik nach 1815 findet er zu einer spezifischen Form und wird gegen alle Restriktionen zu einer politischen Kraft von einigem Gewicht. In den Jah- ren des Vormärz auf emanzipatorischer Linie habe der deutsche Liberalismus freilich — so eine neuerdings wieder vertretene Ansicht — eine Schwenkung vollzogen und eine eher bürgerlich-konservative Position gewonnen2. Eine andere These verwirft diese Ansicht als nostalgische Verklärung des Frühliberalismus und argwöhnt, hier werde ein »klassenloser«

Liberalismus konstruiert; sie verweist ihrerseits auf eine Kontinuität in den Grundauffas- sungen wie in der sozialen Basis bei den Liberalen. Bezugspunkt der Kontroverse sind vor- zugsweise die verfassungspolitischen Konzeptionen und die Auseinandersetzungen um de- ren Realisierung. Indessen ist der frühe deutsche Liberalismus als Verfassungsbewegung allein kaum zu begreifen; erst die realen gesellschaftlichen Interessen, die hinter ihm stan- den, haben ihn zu dem gemacht, was er war. Vor dem hier nur angedeuteten Hintergrund ist jede Arbeit zu begrüßen, die die Diskussion aus dem verfassungspolitischen Rahmen herausführt und an einer zentralen Stelle wie der Revolution von 1848/49 die Probleme des deutschen Liberalismus erneut erörtert.

Die vorliegende Arbeit, eine Kölner Habilitationsschrift, kann mit besonderem Interesse rechnen. Eine Untersuchung der Außenpolitik der Frankfurter Nationalversammlung ist seit langem ein Desiderat. Der Verfasser, Günter Wollstein, will versuchen, »die nationa- len Konzeptionen der Repräsentanten der deutschen Nationalbewegung in den Jahren 1848/49, vor allem der Parlamentarier der Paulskirche, in ihrer Entwicklung, in ihrer Vielschichtigkeit und ihren Schwerpunktsetzungen aufzuzeigen und die konkreten Ziele, die angestrebten Konturen eines deutschen Reiches, klar vorzustellen und zu analysieren«

(S. 15). Er stützt sich vor allem auf die Stenographischen Berichte der ersten deutschen Nationalversammlung und deren Vorparlament, dann auf Zeitungen und zeitgenössische Flugschriften, auch auf die im Frankfurter Bundesarchiv liegenden Nachlässe beteiligter Politiker, selbstverständlich auf die zahllosen veröffentlichten Quellen und nicht zuletzt auf die bisherige Literatur zum Thema.

Noch nie sind die Debatten der Paulskirche über die außenpolitischen Probleme der Revo- lution so breit vorgestellt, so gründlich und detailliert beschrieben worden. Trotzdem ist das Bild, das auf diesem Wege entsteht, nicht wirklich neu. Wollstein bemüht sich darum, zwischen den außenpolitischen Vorstellungen der verschiedenen Gruppen in der National- versammlung zu differenzieren, aber am Ende muß er feststellen, daß die Unterschiede vergleichsweise gering sind (S. 326). Die Hoffnung auf ein größeres Deutschland in der 164 Mitte Europas, auf eine Weltmacht Deutschland neben den Weltmächten England und

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Rußland war ihnen, von geringfügigen Modifikationen abgesehen, gemeinsam. Da be- gründet Johann Gustav Droysen in Übereinstimmung mit vielen seiner Zeitgenossen die Notwendigkeit einer deutschen Flotte in einem Promemoria an den Deutschen Bund:

»Wagen wir nur den lange an den Boden gehefteten, den träge hinkriechenden Blick zu erheben und frei und kühn um uns zu schauen; empfinden wir, daß vierzig Millionen im Herzschilde Europas eine Weltmacht sein müssen, sind, sowie sie es wollen.« (S. 260) Da erklärt Friedrich Christoph Dahlmann, Historiker wie Droysen, wenig später vor der Na- tionalversammlung im Blick auf Schleswig-Holstein: »Diese Verrückung des Gleichge- wichts von Europa wollen wir aber haben und festhalten . . . bis der letzte Tropfen Blutes uns entströmt ist« (S. 46). Dies ist der Tenor, der die Debatten bestimmt, die große De- batte über Schleswig und Holstein so gut wie die über Posen, Böhmen, Oberitalien, Lim- burg, Osterreich und die Bildung einer deutschen Flotte.

Mit zunehmender Schärfe erweist es sich, daß das Nationalitätenprinzip die Probleme Mitteleuropas nur schwer zu lösen vermag, die Ideen vom »Völkerfrühling« machen mehr und mehr harter Machtpolitik Platz. Wollstein zeichnet dies alles sorgfältig nach, verzich- tet aber darauf, den Voraussetzungen nachzuspüren, unter denen dergleichen möglich wurde. Nur gelegentlich nennt er »Vorläufer«, Hegel etwa, auch Friedrich List oder Gu- stav Höfken, von den weiterreichenden Konsequenzen spricht er so gut wie nie3. Er ent- schließt sich rigoros zur Methode der Berichterstattung, er referiert, analysiert aber kaum, und er begibt sich damit der Möglichkeit, die Bedeutung seiner Beobachtungen und Fest- stellungen selber zu bezeichnen, etwa im Blick auf die eingangs erwähnte Kontroverse um

Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte des deutschen Liberalismus. Wollstein weiß, daß hier, gerade wenn man den Liberalismus von der Außenpolitik her betrachtet, erhebliche Probleme liegen. In der Einleitung seiner Arbeit schreibt er: »Die vorliegende Studie geht davon aus, daß 1848/49 die Neugründung eines Staates in der Mitte Europas geplant war, die in nationaler, konstitutioneller, wirtschaftlicher und machtpolitischer Hinsicht eine Abkehr von den Strukturen des Deutschen Bundes und von der Friedensord- nung des Wiener Kongresses sowie einen Aufbruch in das beginnende industrielle Zeital- ter bedeutete, gleichzeitig aber auch eine Fortsetzung bestimmter historischer Traditionen, gerade auch des Deutschen Bundes, anstrebte.« (S. 16) Das was der Autor hier an Voraus- setzungen andeutet, wird indessen in der Durchführung der Arbeit nicht thematisiert.

Wollstein konzentriert sich auf die Untersuchung der »territorialen Konturen« (S. 17), die das neue Deutschland erhalten sollte, die Probleme der »verspäteten Nation« (H. Pless- ner)4, zumal ihrer relativen ökonomischen Rückständigkeit5 werden dabei nicht berück- sichtigt, und die unbestreitbare Interdependenz der nationalen Zielsetzungen mit anderen Zielsetzungen, der verfassungspolitischen wie der ökonomischen, bleibt so gut wie völlig außerhalb der Analyse6. Die abschließende Feststellung Wollsteins, »das Versagen der Paulskirche [sei] in erheblichem Maße eine Folge der eigenen Haltung in der nationalen Frage« (S. 332), mag mit Vorbehalten Zustimmung finden, sie scheint aber infolge der ri- gorosen sachlichen wie methodischen Eingrenzung der Arbeit nicht breit genug begrün- det. Bernhard Unckel

Siehe dazu die Texte bei J. Garber (Hrsg.) : Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland, 1789—1810. Kronberg/Ts. 1974 ( = Skripten. Li- teraturwissenschaft. 5.). Zur Einordnung in die Geschichte des Frühliberalismus H. Brandt: Land- ständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monar- chischen Prinzips. Neuwied, Berlin 1968 ( = Politica. Bd 31.)

Vgl. hierzu und zum Folgenden den Bericht von W. J. Mommsen: Der deutsche Liberalismus zwi- schen »klassenloser Bürgergesellschaft« und »Organisiertem Kapitalismus«. In: Geschichte und Gesellschaft. 4 (1978) 7 7 - 9 0 .

Vgl. jedoch die verstreuten Bemerkungen Wollsteins in der Einleitung (S. 11 ff.) und in dem Schlußkapitel (S. 307 ff.). — Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität deutscher Außenpoli- tik seit dem 19. Jahrhundert ist in der Forschung kaum gestellt, geschweige denn beantwortet.

Wichtige Ansätze in den Arbeiten A. Hillgrubers (z.B. Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Düsseldorf 1969), auch bei K. Hildebrand:

Deutsche Außenpolitik 1933—1945. Kalkül oder Dogma? Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971, bes. S. 9 ff. u. 135 ff. — Auf die Bedeutung Friedrich Lists auch für die Außenpolitik verweist in

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wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive R. H. Tilly: Los von England: Probleme des Nationalismus in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. 124 (1968) 1 7 9 - 1 9 6 .

4 H. Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes.

Frankfurt a.M. 1974 ( = Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 66.). Eine kritische Weiterfüh- rung der Überlegungen Plessners versucht H. A. Winkler: Liberalismus und Antiliberalismus. Stu- dien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. ( = Kritische Studien zur Ge- schichtswissenschaft. Bd 38.) Göttingen 1979, bes. S. 13 ff. u. 20 ff.

5 Hierzu nach wie vor grundlegend A. Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Per- spective. In: Ders.: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays. Cam- bridge, Mass. 1962, S. 5—30. Auf die Bedeutung sozialgeschichtlicher Fragestellungen für das Verständnis des Nationalismus weist nachdrücklich hin R. M. Berdahl: N e w Thoughts on Ger- man Nationalism. In: The American Historical Review. 77 (1972) 65—80. Berdahl vermißt eine Untersuchung des deutschen Nationalismus zwischen 1815 und 1848 unter der Frage nach der Antwort auf die Herausforderungen der Modernisierung. Wollsteins Untersuchung des deutschen Nationalismus in der Revolution macht diesen Mangel einmal mehr bewußt. Wichtige weiterfüh- rende Überlegungen auf dem Wege einer vergleichenden Betrachtung jetzt in dem Sammelband von O. Dann (Hrsg.): Nationalismus und sozialer Wandel. Hamburg 1978 ( = Historische Per- spektiven. 11.); für Deutschland speziell ein Beitrag von Dann, ebd., S. 77 ff. (z.T. im Anschluß an Berdahl).

6 Vgl. H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848—1881. Köln 31974. Manche Ergänzungen und Kor- rekturen zu Böhme jetzt durch H. Best: Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49.

Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland. Göttingen 1980 ( = Kritische Stu- dien zur Geschichtswissenschaft. Bd 37.)

George F. Kennan: T h e Decline of Bismarck's European Order. Franco-Russian Re- lations, 1875—1890. Princeton, N . J . : Princeton University Press 1979. XII, 466 S.

Es würde eine grobe Unterschätzung sein, George Kennan nur als eine Doppelbegabung, nämlich als Historiker und Politiker, zu bezeichnen. Als junger Diplomat lernte er vor dem Zweiten Weltkrieg die baltischen Staaten, das Deutsche Reich und die Tschechoslo- wakei kennen. Das Kriegsende erlebte er als Botschaftsrat in Moskau. N a c h dem Krieg fungierte er u.a. als Botschafter der USA in Moskau und Belgrad. Als Chef eines außen- politischen Planungsausschusses entwarf er 1946/47 die Politik des Containment maßgeb- lich mit. Ein anonymer Artikel eines »Mister X« machte seinen Einfluß in dieser Zeit ebenso deutlich wie er zehn Jahre später durch andere Veröffentlichungen zum Wegberei- ter der Disengagement-Politik w u r d e1.

Seine publizistischen Kommentare zu aktuellen Fragen der Weltpolitik erfreuen sich bis heute hohen Ansehens. K u r z : Kennan hatte als schreibender Diplomat einen beträchtli- chen Anteil an weltpolitischen Weichenstellungen. Er konnte ferner eine außerordentliche Kenntnis des diplomatischen Alltagsgeschäfts gerade in Europa gewinnen. Alles dies sind Fähigkeiten, die ein Historiker wohl selten vorweisen kann. Schon während seiner diplo- matischen Laufbahn lehrte Kennan ab 1950 in Princeton jeweils mit Unterbrechungen als Historiker. Am bedeutendsten, wenn auch nicht unumstritten, erscheinen aus dieser Tätig- keit entstandene verschiedene Studien über die amerikanische bzw. sowjetische Außenpo- litik in unserem Jahrhundert2. Neben diesen Büchern auf der Grundlage selbsterlebter Ge- schichte schrieb Kennan mehrere brillante Erinnerungsbände.

Was bewog den Historiker Kennan, sich nunmehr erstmals in einer Buchpublikation ins 19. Jahrhundert zurückzuwenden? »Ich habe gelernt, daß der Erste Weltkrieg, wie es auch viele andere vernünftige Leute zu sehen gelernt haben, die große ursprüngliche Katastro- phe dieses Jahrhunderts ist — das Ereignis, das mehr als andere, vielleicht außer der Ent- deckung der Nuklearwaffen und der Entwicklung der Bevölkerungs-Umwelt-Krise im H e r z e n des Fehlschlags und Niedergangs der westlichen Kultur lag.« (S. 3 f.) Aus diesem Grund geht Kennan auf die Vorgeschichte eben der Katastrophe zurück. Die Frage : wie kam es dazu, daß eine Generation begeistert in einen Krieg zog, der dann bereits als kurz- 1 6 6 fristiges Resultat Millionen T o t e r mit sich brachte, enthält gleichzeitig ihre Begründung.

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Ein Buch über die Kriegsschuldfrage im Stil der Zwischenkriegszeit, oder eine Studie über die Kriegsursachen im Gefolge der Fischer-Kontroverse will Kennan allerdings nicht schreiben. Es geht ihm nur um einen Ausschnitt, nämlich das französisch-russische Bünd- nis von 1894, das er zu den Hauptursachen der folgenden Entwicklung zählt. Hier sei die Diskrepanz zwischen aktuellen H o f f n u n g e n und verhängnisvollen Folgen besonders weit- reichend gewesen.

Soweit wird man dem Autor noch folgen können, auch wenn man den genannten Vertrag nicht für ein so bedeutendes Glied in der Ursachenkette von 1914 hält. D o c h dann folgt ein methodischer Sprung in die »Mikrohistorie«, zur Betrachtung eines kleinen Aus- schnitts des Gesamtthemas in großem Detail, ein Blick durch das »historische Mikroskop«.

Kennan liefert damit bis auf Einleitung und Schluß ein Buch, das den Ausgangspunkt völ- lig aus den Augen verliert oder wohl nach seiner eigenen Meinung diesen ständig um- kreist, ohne ihn jedoch direkt anzusteuern. D e r Verfasser bietet ein einfühlsames Portrait der internationalen Beziehungen in Europa zwischen 1875 und 1890; das ist nicht wenig, aber nach den geweckten Erwartungen leider auch nicht genug.

M a n merkt unschwer, d a ß Kennan beträchtliche Verdienste als Schriftsteller hat. Er kann glänzend erzählen und dabei vor allem anschaulich Atmosphäre und Zeitumstände aufle- ben lassen, die sonst bei abstrakteren Strukturanalysen o f t zu kurz kommen. Seine Be- schreibung etwa des russischen Zarenhofes, der Reisegewohnheiten des Zaren, der Füh- rung der diplomatischen Geschäfte am langen Zügel der gesellschaftlichen Ereignisse sind lesenswert. Die Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten, informelle Einflüsse und unaufge- klärte, mysteriöse Episoden finden sich hier meisterhaft einbezogen. Man merkt bei Ken- nan besonders an diesen Stellen das Insider-Verständnis eines Mannes, der einen solchen diplomatischen Betrieb in Europa einige Generationen später unter gewandelten Bedin- gungen selbst erlebte.

Kennan hat neben der umfangreichen Memoirenliteratur offenbar in jahrelanger Arbeit die einschlägigen Archive der europäischen Mächte aufgesucht und is\ mit kriminalisti- schem Scharfsinn einigen Begebenheiten nachgegangen. So kann er auch dem Fachhistori- ker eine ganze Reihe neuer Zusammenhänge plausibel machen. Leider wird f ü r diesen Le- serkreis die fachwissenschaftliche Diskussion im knappen Apparat nicht immer wünschens- wert deutlich. Das ist im Dienste der Anschaulichkeit f ü r ein breiteres Publikum zu ver- schmerzen. Aber bisweilen hat der Leser den Eindruck, d a ß gegenüber dem liebevoll rekonstruierten Detail die politischen Grundlagen zu kurz kommen. Ein Beispiel soll ge- nügen. Im zweiten von vier Hauptteilen etwa widmet sich Kennan der Bulgarienkrise von

1885/86. Genauestens wird man über die Personen der russischen politischen und militäri- schen Vertreter am H o f des Fürsten Alexander v. Battenberg in Sofia informiert, über die bulgarische Umgebung des Herrschers, die Intrigen und Einflüsterungen, die ihn zur An- nexion Ostrumeliens führten — bis hin zu den Zuständen im Feldlager. Das gleiche gilt so- dann f ü r die Stimmung in Serbien, die schließlich zum Krieg beider Staaten und zum D e - saster f ü r Fürst Alexander führte. Was aber im Hintergrund bleibt, ist die Österreich-unga- rische Unterstützung f ü r Serbien. Die Berliner Zurückhaltung wird später durchaus er- wähnt, und die innerrussischen Probleme sind hierbei sogar breit dargestellt. Die Dimen- sion einer europäischen Krise mit einer akuten Kriegsgefahr tritt aber demgegenüber nicht in wünschenswerter Deutlichkeit hervor.

Dennoch sind auch die historiographischen Verdienste Kennans bedeutend. Er beschreibt in fast allen Nuancen die Politik Frankreichs, Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands in anderthalb Jahrzehnten. Auffällig blaß bleibt dagegen die britische Politik.

Deutlich wird die deutsch-russische E n t f r e m d u n g ebenso wie die russisch-französische Annäherung. Gerade die Differenzierung der Studie macht es möglich, diese Entwicklung nicht als eine Einbahnstraße zu erkennen, sondern die Phasen der Annäherung und Di- stanzierung, der immer nur relativen Identität partieller Interessen und letztlich auch die Entscheidungen mit ihren relevanten Grundmotiven zu durchschauen. Durch die Einbe- ziehung eines jeweils breiten innenpolitischen Spektrums f ü r die einzelnen Mächte wird eine rein diplomatiegeschichtliche Darstellungsebene weit übertroffen.

Die im französisch-russischen Verhältnis so wichtigen Finanz- und Militärfragen finden 167 gebührenden Raum und werden gerade durch Ausleuchtung der informellen Kontakte an-

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schaulich gemacht. Der Verfasser hebt Bismarcks Bedeutung für diese Phase der europäi- schen Politik nachdrücklich hervor, ist aber im Einklang mit neuerer deutscher Forschung (Hillgruber) ein gutes Stück davon entfernt, sich an der traditionsreichen Bewunderung für das meisterhafte Spiel mit den fünf Kugeln zu beteiligen. Kennan betont vielmehr die immer schwieriger werdende Position des Deutschen Reiches und die vom Grundansatz seines Denkens immer bedenklicher werdenden Mittel seiner Außenpolitik (Rückversiche- rungsvertrag, Mittelmeerentente). Zu wenig rückt aber wohl die Bedeutung der Reichs- gründung als Ursache hierfür in den Vordergrund, so daß die defensive Perspektive der späten achtziger Jahre nicht als Resultat der Offensive der sechziger anerkannt wird.

In der »Conclusion« erst werden allgemeinere Schlüsse gezogen: der deutsch-französische Gegensatz über Elsaß-Lothringen erscheint als eine Konstante — aber relativiert dadurch, daß es sich nur um eine besondere Mentalität in der französischen Hauptstadt gehandelt habe. Für verhängnisvoll hält Kennan den Panslawismus mit seinen expansiven Tenden- zen. Besser hätte sich Rußland ganz seinem inneren Ausbau verschreiben sollen. Auf der Suche nach Ursachen für diese Massenhysterie im Zarenreich gelangt er zu einer Kritik an dem »überschnellen sozialen Wandel« im Rußland des 19. Jahrhunderts. Als Lektion für die Friedenssicherung folgt daraus, daß sozialer Wandel grundsätzlich nicht schneller stattfinden sollte, als es die menschliche Anpassungsfähigkeit verträgt. In dieser Allgemein- heit ist die Aussage kaum zu bezweifeln; es kommt jedoch wohl historisch vor allem auf die konkrete Ausfüllung derart allgemeiner Begriffe an. Die Verwendung solcher Katego- rien zur Erklärung des Ersten Weltkrieges läßt die Geschichte der internationalen Bezie- hungen, die im Buch zunächst dominierte, weit hinter sich. Damit stellt sich allerdings die Frage nach dem Wert der »Mikrohistorie« für die Erklärung der Weltkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Zu würdigen bleibt dennoch eine überaus gelungene, plastisch geschriebene und hervorra- gend recherchierte Studie. Sie dürfte gerade allgemein interessierte Leser beglücken, aber auch den Fachhistorikern aller Sparten Anregungen geben. Ihr Thema ist begrenzter als der erhobene Anspruch, aber nichtsdestoweniger von hoher Bedeutung.

Jost Dülffer

1 X (d.i. George Kennan): The Sources of Soviet Conduct. In: Foreign Affairs. 25 (1946/47) 566—582; ders.: Rußland, der Westen und die Atomwaffe. Frankfurt a. M. 1958.

2 G. Kennan: Amerikas Außenpolitik 1900—1950 und ihre Stellung zur Sowjetmacht. Zürich, Stutt- gart, Wien 1952; ders.: Soviet Foreign Policy 1917—1941. Princeton, N.J. 1960; ders.: Soviet- American Relations 1917—1920. Vol. 1.2. Princeton, N.J. 1956—58; ders.: Russia and the West under Lenin and Stalin. Boston 1961.

Klaus Wormer: Großbritannien, Rußland und Deutschland. Studien zur britischen Weltreichpolitik am Vorabend des Ersten Weltkrieges. München: Wilhelm Fink 1980. 397 S. ( = Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim. Bd 6.)

Mit einem zeitlichen Abstand von fast zwei Jahrzehnten zum Beginn der »Fischer-Kontro- verse« über die Kriegsursachen für den Ersten Weltkrieg scheint diese vor allem psycholo- gisch und moralisch bedeutsam gewesen zu sein. Daß das Deutsche Reich einen wesentli- chen Anteil an der Verantwortung des Ausbruchs trug, wird jetzt kaum noch ernsthaft be- stritten. Nur das Ausmaß sowie die individuellen und strukturellen Voraussetzungen be- stimmen die Debatte. Dennoch wurde die Beschränkung der Untersuchung Fischers vor- wiegend auf die deutsche Seite immer schon als unglücklich empfunden; die umfassende und vergleichende Gewichtung der Politik aller am Krieg beteiligten (Groß-)Mächte stellt aber weiterhin ein Desiderat dar. Erwin Hölzles1 großes Werk versuchte sich zwar hieran, endete doch ganz im Stil der Vorkriegsgeneration in einer moralisierenden Schuldzuwei- 168 sung — diesmal in Umkehrung der aktuellen Debatte auf Rußland und England. Auch

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Klaus Wormers Studie kann und will einen ausgewogenen internationalen Vergleich nicht leisten. Sie führt aber ein gutes Stück in diese Richtung hin und dringt in Ansätzen zu ei- nem Strukturaufriß der internationalen Staatengesellschaft der Zeit vor. Indem der Verfas- ser es unternimmt, die britische Weltreichpolitik — so der im Gegensatz zum inhaltlich lee- ren Haupttitel treffende Untertitel — zu umreißen, geht er zugleich beträchtlich über einen nur nationalstaatlichen Ansatz hinaus.

Zentral zum Verständnis der Politik des Inselreiches ist hier der Begriff der »British inter- ests«. Dieser von Klaus Hildebrand als Rahmen zur Eingrenzung der vielgestaltigen Fak- toren einer nationalen Politik eingeführte Begriff wird von W o r m e r in einem ersten Teil ausführlich und systematisierend entfaltet. Vereinfacht handelt es sich um drei, wiederum zu differenzierende Komponenten: das formelle wie das informelle Empire als materielle Grundlage des Wohlstands, das möglichst im Friedenszustand zu erhaltende europäische Gleichgewicht und die wirtschaftliche, soziale und politische Verfaßtheit der Nation im Inneren. Alle drei standen in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, d. h. jede Ak- tivität auf einem Sektor mußte Rückwirkungen auf den anderen bedenken. O d e r anders ausgedrückt: eine europapolitische M a ß n a h m e w u r d e je auch im Hinblick auf das Empire oder auf die soziale Sicherung der Bevölkerung hin unternommen. Problematisch wurde diese Interdependenz seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dadurch, daß sie insgesamt ten- denziell die Kräfte der Nation überstieg. Das Empire ließ sich nicht mehr allein mit briti- schen Mitteln gegen jede andere M a c h t sichern; in Europa schien eine deutsche H e g e m o - nie zu drohen und im Inneren nahmen Arbeitskämpfe und die irische Nationalitätenfrage spürbar an Heftigkeit zu. Sehr kenntnisreich fächert W o r m e r die unterschiedlichen briti- schen Einstellungen und Abhilfevorschläge zu dieser Problemlage auf, über die er einen Grundkonsens feststellt. (Ob dieser aber gerade f ü r die innere Struktur galt, wird selbst vom Verfasser zwiespältig beantwortet.) Ökonomische, soziale, strategische und genuin machtpolitische Faktoren werden schlüssig einbezogen, so d a ß f ü r Großbritannien das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik als vielschichtiger erkannt wird, als es etwa ein Modell des Sozialimperialismus leisten kann.

Bisweilen kann man sich allerdings in diesem Teil der Arbeit des Eindrucks nicht erweh- ren, daß nur in einem bestimmten Jargon konjugiert wird. »Die behauptete Kontinuität der englischen Außenpolitik und des ihr zugrundeliegenden Gleichgewichtskonzeptes wirft hinsichtlich der Analyse von Ursache und W i r k u n g im Feld der internationalen Poli- tik chronologische Probleme auf. Entsprechend der zeitlichen Zäsuren, die gesetzt wer- den, lassen sich verschiedene Schlüsse auf subjektive Antriebe und objektive Ursachen und Wirkungen einzelner Aktionen im Rahmen der internationalen Beziehungen ziehen«, heißt es unter dem Titel »Probleme zeitlicher Determinierung«. Gemeint scheint die sim- ple Tatsache, daß ein Ereignis wie etwa die britisch-russische Asienkonvention von 1907 in einem vielfachen Beziehungsgeflecht f ü r andere Bereiche der Politik — etwa das deutsch- britische Verhältnis — steht; dies zu erkennen, hängt jeweils vom zeitlichen Rahmen der Erklärung ab.

Im eigentlichen Hauptteil, der eben mit jener Konvention einsetzt und hin zum Kriegsbe- ginn 1914 führt, verliert sich dieser Eindruck einer gewissen Begriffsscholastik jedoch schnell. W o r m e r berücksichtigt und entfaltet nun die bis dahin erarbeiteten Faktoren in ei- ner minutiösen Analyse der schnell wechselnden Konstellationen und Krisen. Aus der Ein- sicht in die Notwendigkeit einer kalkulierten weltpolitischen Defensive heraus ist die bri- tisch-russische Konvention zu verstehen. Gerade weil die Verteidigung Indiens nicht mehr militärisch zu gewährleisten war, schien es nützlich, mit dem H a u p t k o n k u r r e n t e n auf der Basis eines wechselseitigen Abgrenzens einen Interessenausgleich zu unternehmen. Beson- ders günstig w a r dies nach dem Russisch-Japanischen Krieg, als sich das Zarenreich in ei- ner mehrfach bedingten Position der Schwäche befand und umgekehrt Großbritannien eine Suprematie zur See besaß wie schon lange nicht mehr.

Gerade der Faktor eines wiedererstarkenden Rußlands machte aber 1914 auch eine fort- dauernde Bindung bei neuen Konzessionen und notfalls sogar ein Bündnis mit diesem Ri- valen und Ententepartner wünschenswert und in der Sicht Außenminister Greys sogar un- umgänglich. Diese Komponente der mittelasiatischen Bindung verrechnet W o r m e r insge- 1 6 9 samt schlüssig mit der europäischen, die gerade in deutscher Tradition o f t zu großes Ge-

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wicht besaß. E r macht klar, d a ß f ü r die deutsche Politik jener Zeit ein vergleichbares Geben und N e h m e n schon a u f g r u n d der viel geringeren weltpolitischen B e r ü h r u n g s p u n k t e k a u m gegeben w a r : G e g e n ü b e r der Furcht vor einer H e g e m o n i e des D e u t s c h e n Reiches k o n n t e es keine entsprechenden Zugeständnisse geben. W o r m e r legt hier W e r t d a r a u f , d a ß der deutsche Flottenbau als entscheidender F a k t o r f ü r die Entwicklung des deutsch-briti- schen Gegensatzes nicht angesehen w e r d e n k ö n n e ; auch o h n e ihn sei, hypothetisch ge- sprochen, die deutsche Politik f ü r die British interests gefährlich g e w o r d e n . D a s ist richtig, ä n d e r t aber nichts an der z u n e h m e n d e n E n t f r e m d u n g durch den »Tirpitz-Plan«, auch w e n n dieser P u n k t g e w i ß nicht m o n o k a u s a l isoliert w e r d e n kann.

D e r Verfasser sieht in Greys Ententepolitik, die aus einem multipolaren Gleichgewichtssy- stem ein bipolares u n d antagonistisches machte, eine gewisse Zwangsläufigkeit der V e r - h ä r t u n g u n d schwindenden Flexibilität — eben g e r a d e weil Frankreich u n d R u ß l a n d aus G r ü n d e n der Empirepolitik keine austauschbaren G r ö ß e n m e h r blieben. In der Julikrise von 1914 ging es G r e y d a h e r u m m e h r e r e Ziele. Einmal m u ß t e er den G e g e n s a t z zu R u ß - land durch Ententesolidarität ü b e r b r ü c k e n . Z u m a n d e r e n ging es aber auch d a r u m , den europäischen Frieden zu b e w a h r e n . Dieses Ziel w i e d e r u m w u r d e u n t e r bestimmten Bedin- g u n g e n s e k u n d ä r , so d a ß der Außenminister zugleich d a r u m besorgt w a r , einen möglichen britischen Kriegseintritt gegen Deutschland in einem allgemeinen Krieg innenpolitisch ab- zusichern u n d vorzubereiten. D i e deutsche V e r l e t z u n g d e r belgischen N e u t r a l i t ä t w a r f ü r die linksliberalen Kabinettsmitglieder mit einem gewissen pazifistischen Einschlag ein Glücksfall, auf den m a n schon J a h r e z u v o r g e h o f f t hatte. Krieg schien G r e y letztlich u n t e r d e m Z w a n g der bündnisähnlichen Situation etwas Sekundäres g e g e n ü b e r den G e f a h r e n ei- ner deutschen H e g e m o n i e zu sein.

Dieses u n d viele a n d e r e Ergebnisse sind schlüssig herausgearbeitet. Deutlich hebt sich der Verfasser hier von der traditionellen u n d blutleeren Staaten- u n d B ü n d n i s m e c h a n i k ab.

D e n n o c h erscheint Skepsis angebracht. Insgesamt d ü r f t e die innere Z w a n g s l ä u f i g k e i t d e r Entwicklung seit 1907, z u m i n d e s t aus d e r P e r z e p t i o n der Eliten, zu geradlinig dargestellt sein, die englische Politik z u alternativlos. D i e langsame Z e r s t ö r u n g èiner internationalen O r d n u n g im J a h r z e h n t z u v o r u n d besonders der deutsche Anteil hieran, als politische O p - tionen f ü r alle Beteiligten n o c h möglich w a r e n , tritt nicht deutlich g e n u g hervor. W e n n bei bestimmten britischen D i p l o m a t e n der Begriff des Russophilen u n d Antideutschen ver- w a n d t w i r d , so klingt bei dieser scheinbar emotionalen E i n o r d n u n g nicht immer hinrei- chend mit, d a ß hierin bereits E r f a h r u n g e n in der U m s e t z u n g von British interests steckten

— u n d dies besonders mit D e u t s c h l a n d , wie die Bündnisfühler um die J a h r h u n d e r t w e n d e gezeigt hatten. D a r ü b e r hinaus w ä r e einmal u n a b h ä n g i g v o n der Grundeinstellung wichti- ger H a n d l u n g s t r ä g e r zu f r a g e n , ob nicht d o c h langfristige C h a n c e n zu einer R e s t a u r a t i o n eines multipolaren Systems bestanden hätten, die nicht n o t w e n d i g d u r c h die Julikrise u n d den ihr f o l g e n d e n Krieg abgeschnitten w u r d e n .

W o r m e r s Arbeit besticht d u r c h ein im g a n z e n Verlauf durchgehaltenes hohes Niveau der Diskussion. N i e verliert er sich in der G e f a h r des Zitatereihens; immer ist die a r g u m e n t a - tive Ebene eines S a c h z u s a m m e n h a n g s hergestellt. D a s ist angesichts des gründlichen Q u e l - lenstudiums in britischen Archiven besonders h e r v o r z u h e b e n . D a h e r ist die Studie insge- samt a u f g r u n d ihrer b e d e u t e n d e n I n t e g r a t i o n s k r a f t als g r o ß e r W u r f zu bezeichnen. B e d a u - erlicherweise hat sich der Verfasser aber nicht m e h r z u r A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e r seit 1975 erschienenen Literatur bereit g e f u n d e n , in der m a n c h e Studie mittlerer Reichweite g e r a d e f ü r die englische Politik vorliegt u n d im einzelnen eine Diskussion f ü r d e n Leser sehr erwünscht hätte scheinen lassen2. A n z u m e r k e n ist schließlich eine u n g e n ü g e n d e Re- daktion, die sich an einer g r o ß e n Zahl v o n D r u c k f e h l e r n bis hin zu nicht aufgelösten Querverweisen zeigt und sehr zu Lasten des Benutzers geht. Jost Dülffer

1 E. Hölzle: Die Selbstentmachtung Europas. Göttingen 1976.

2 Repräsentativ hierfür F. H. Hinsley (Ed.): British Foreign Relations under Sir Edward Grey.

Cambridge 1977.

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Agnes Blänsdorf: Die Zweite Internationale und der Krieg. Die Diskussion über die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien 1914—1917. Stuttgart:

Klett-Cotta 1979. 402 S. ( = Kieler Historische Studien. Bd 27.)

Die Zweite Internationale bestand von 1889 bis 1923. Ihre Hauptaktivität entfaltete sie in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als auf großen internationalen Kon- gressen Möglichkeiten zur Kriegsverhinderung diskutiert und beschlossen wurden. Auch wenn ein Verteidigungskrieg zumeist als legitim angesehen wurde, blieb doch die Vorstel- lung entscheidend, einen »imperialistischen Krieg« der Mächte durch einen Generalstreik der Arbeiterklasse in den einzelnen Staaten verhindern zu können — vorausgesetzt, er fand überall gleichzeitig statt. Als mit dem Kriegsbeginn 1914 die wichtigsten sozialisti- schen Parteien nach inneren Auseinandersetzungen f ü r die nationale Verteidigung ihres Staates eintraten, war die Internationale praktisch tot. Das zumindest ist die herkömmli- che Ansicht.

Hier widerspricht die Autorin der vorliegenden Studie nicht grundsätzlich, bemüht sich aber um Differenzierung. Gerade die Kategorie des Vergeblichen, die unverwirklichten Absichten, die angebotenen Handlungsalternativen stellen ja ein legitimes historisches U n - tersuchungsfeld dar. Deren W e r t wird dadurch erhöht, wenn auch die Gründe und Wir- kungszusammenhänge herausgearbeitet werden, die den Mißerfolg — gemessen am eige- nen Anspruch — deutlich machen. Bei dem T h e m a »Internationale im Weltkrieg« ist diese abwägende Darstellung, der sich die Autorin durchweg verpflichtet weiß, besonders wich- tig, gibt es doch in der sowjet-marxistischen D e u t u n g die T e n d e n z , die Zweite Internatio- nale mit ihrem »Sündenfall« von 1914 moralisch abzuqualifizieren und statt dessen nur den jeweils radikalsten Antikriegskurs gelten zu lassen. Das eben war die Richtung Lenins, dessen Einsichten so gerade für die ersten Jahre eine höhere Weisheit zuerkannt wird.

Aber auch darüber hinaus fällt es aus sozialistischer oder pazifistischer Sicht in der Gegen- wart einigen Autoren o f t nicht leicht, die geringe Wirksamkeit der Internationale (aber auch der bürgerlichen Friedensbewegungen insgesamt) im Ersten Weltkrieg ohne morali- sche Verurteilung zu verstehen, und das heißt zunächst einmal, die inneren Schwierigkei- ten der sozialistischen Friedensbewegung wie die äußeren Hindernisse ihrer Entfaltung herauszuarbeiten.

Die Arbeit von Frau Blänsdorf ist ganz auf die innere Geschichte der Internationale ge- richtet. Ihre Hauptleistung besteht nicht in einer Neubewertung der Friedensbemühungen der Internationale, sondern vielmehr in einer Integration umfangreicher und z . T . f ü r ein- zelne Länder sehr ungleichgewichtiger Spezialliteratur. Dabei ist es verständlich, wenn ei- nige Arbeiten der letzten Jahre dennoch nicht erwähnt werden. Daneben steht ein immen- ses Aktenstudium in einschlägigen Archiven, und zwar in Schweden, Dänemark, Frank- reich, der Bundesrepublik, den Niederlanden, Großbritannien, Österreich und der Schweiz. Sensationen werden kaum zutage gefördert, aber manche Begebenheit wird deutlicher faßbar, einige kleinere Zusammenhänge werden erstmals erhellt. Eine gewisse Diskrepanz zwischen Ertrag und Arbeitsaufwand festzustellen muß hier schon fast als Nörgelei erscheinen.

Mit dem Kriegsbeginn fing der Niedergang der Internationale an. D e r Gegensatz zwi- schen theoretisch revolutionärem Anspruch und faktischer nationaler Integration der so- zialistischen Parteien w u r d e offenkundig. Im Zwiespalt »zwischen Burgfrieden und Klas- senkampf«, den Susanne Miller f ü r die S P D gut untersucht hat, der aber allgemein f ü r die kriegführenden Staaten galt, dominierte zunächst einmal die erste Komponente. Die zweite geriet aber durchaus nicht in Vergessenheit. Dennoch erwies sich ein Grundgegen- satz fortan als unaufhebbar und verhinderte somit eine stärkere Wirksamkeit der Interna- tionale. Für die Sozialisten der Mittelmächte hatte anfänglich der Kampf gegen den russi- schen Despotismus im V o r d e r g r u n d gestanden; später dominierte die Sorge, der eigenen Nation nicht durch einseitige Festlegung in den Rücken zu fallen. Indem man in prakti- schen Fragen die eigene Regierung nicht desavouierte, suchte man — so ausdrücklich Edu- ard David — der nach dem Krieg so virulenten Dolchstoßbeschuldigung entgegenzuwir- ken. Auf der alliierten Seite dagegen erschien der deutsche Uberfall auf Belgien mit der 1 7 1 anschließenden Besetzung den Beweis f ü r die deutsche Hauptschuld zu erbringen. D a h e r

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