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Historische Prozesse sozialer Mobilisierung Urbanisierung und Alphabetisierung, 1850—1965

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© F. Enke Verlag Stuttgart

Historische Prozesse sozialer M obilisierung

Urbanisierung und Alphabetisierung, 1850—1965 Peter Flora

Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt Historical Processes of Social Mobilization

A b s t r a c t : The processes of social mobilization in which particularistic-parochial roles and collectivities are broken up tiave a crucial importance for societal modernization. This paper analyzes two elementary and long-term processes of social mobilization: urbanization and literacy development in 94 countries between 1850 and 1965 using quantitative aggregative data. It is shown that the relationship between the two processes of mobilization has changed radically in the course of history: while the ‘old’ nations were characterized by a gradual development of literacy of a mainly rural population, the characteristic of the ‘new’ nations is an accelerated urbanization of a largely illiterate population. This development leads to rising pressures on the political system of the ‘new’ nations without commensurately enlarging their capacities. It results in an increase of collective violence and political instability. The problems of controlling the mo­

bilization and of institutionalizing political participation, therefore, becomes a focus of interest.

I n h a l t : Die Prozesse sozialer Mobilisierung, in denen partikularistisch-parochiale Rollen und Kollektive aufgebrochen werden, sind von zentraler Bedeutung für die Modernisierung von Gesamtgesellschaften. In diesem Aufsatz werden zwei elementare und langfristige Prozesse sozialer Mobilisierung: die Urbanisierung und Alphabetisierung in 94 Ländern im Zeitraum von 1850 bis 1965 mit Hilfe quantitativer Aggregatdaten analysiert. Es zeigt sich, daß das Verhältnis der bei­

den Mobilisierungsprozesse sich im Laufe der historischen Entwicklung radikal verändert hat : während die ,alten4 Na­

tionen durch die schrittweise Alphabetisierung einer dominant ländlichen Bevölkerung gekennzeichnet waren, ist das Merkmal der ,neuen4 Nationen die sprunghafte Urbanisierung einer überwiegend analphabetischen Bevölkerung. Diese Entwicklung setzt die politischen Systeme der ,neuen4 Nationen größeren Belastungen aus, ohne ihre Kapazitäten in gleichem Maße zu vergrößern. Die Folge ist eine Zunahme kollektiver Gewaltsamkeit und politischer Instabilität. Die Probleme der Kontrolle der Mobilisierung und der Institutionalisierung politischer Partizipation treten damit in den Mittelpunkt des Interesses.

Quantitativ-komparative Modernisierungsfor­

schung1

Die makrosoziologische Renaissance seit Ende der 50er Jahre (vgl. NOWOTNY 1 9 6 9 , Kap. 1) hat die Analyse gesamtgesellschaftlicher Entwicklung in bisher unbekanntem Maße den Gesetzen fortschrei­

tender Arbeitsteilung unterworfen und sie gleich­

zeitig zu einem Brennpunkt sozialwissenschaftli­

cher Integrationsbestrebungen gemacht. Sie führte nicht nur zur Wiederaufnahme, Aktualisierung und Bereicherung „klassischer“ Fragestellungen, son­

dern auch zu konzertierten Versuchen der Theo­

rie- und Modellbildung, zu einer Schärfung des methodologischen Bewußtseins und zu großange­

legten Bemühungen, eine adäquate Datengrundla­

ge zu schaffen. 1

1) In diesem Aufsatz wird ein kleinerer TeU der Daten analysiert, die im Rahmen des QUAM-Projektes (vgl.

ZAPF/FLORA 1971) gesammelt wurden. Die Ergebnisse der letzten Stufe dieses Projektes werden in meiner Dis­

sertation Modernisierungsforschung: Modelle, Methoden, Materialien und Analysen zusammengefaßt. Ich habe Herrn EIKE BALLERSTEDT sehr herzlich dafür zu danken, daß er mir sein Computer-Programm zur Ver­

fügung gestellt hat. '

Dem Beobachter bietet sich heute das Bild einer verwirrenden Vielzahl von Ansätzen gesamtgesell­

schaftlicher Entwicklungsanalyse, die aus Unter­

schieden der politischen Intentionen und theore­

tischen Fragestellungen, der methodologischen An­

sätze und empirischen Probleme resultiert. Manche dieser Ansätze relativieren und ergänzen sich ge­

genseitig, andere stehen in gleichgültiger oder feindlicher Koexistenz nebeneinander. Die viel­

fältigen Berührungspunkte und wachsenden Koor­

dinationsbemühungen sind jedoch unübersehbar (z.B. ALMOND 1970).

Bezüglich ihrer formalen Struktur lassen sich diese verschiedenen Ansätze auf einem Kontinuum an­

ordnen, das von idealtypischen Ansätzen, in de­

nen kausale Zusammenhänge theoretisch postu­

liert oder abgeleitet werden und in denen die Empirie eine illustrative Funktion spielt, bis zu komparativen Ansätzen reicht, in denen kausale Beziehungen mit Hilfe statistischer Modelle als kontrollierte Varianz (vgl.BOUDON 1967: Kap. 3) definiert werden und die Empirie eine systemati­

sche Funktion hat.

Der gegenwärtige Stand makrosoziologischer For­

schung erfordert eine Konkurrenz verschiedener

(2)

86 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 8 5 -117 Ansätze, die alle legitim sind, soweit sie sich ihrer

Relativierbarkeit und Widerlegbarkeit nicht zu entziehen suchen. Langfristig gesehen wird die Forschung jedoch stärker systematisch-empirisch und komparativ sein müssen, da die Anwendung der komparativen Methoden die Voraussetzung jeder Kausalanalyse ist.

Der systematischen Sammlung empirischer Daten und der Errichtung von Datenarchiven kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu.

Das bisher wichtigste und umfangreichste Projekt auf dem Gebiet makrosoziologischer Datensamm­

lungen stellt das „Yale Data Program“ (RUSSETT 1964, vgl. MERRITT/ROKKAN 1966) dar, das zu Beginn der 60er Jahre gestartet wurde. In seiner enthusiastischen wie kritischen Resonanz (vgl.

TAYLOR 1968) ist es zwangsläufig Orientierungs­

punkt aller laufenden und zukünftigen Arbeiten auf diesem Gebiete.

Die Datensammlungen der „Gründeijahre“ waren fast ausnahmslos „cross-national“ und erst gegen Ende der 60er Jahre verstärkten sich die Bemühun­

gen um historische Sammlungen quantitativer Da­

ten, die bis weit in das 19. Jahrhundert zurückrei­

chen. Der vielleicht erste Versuch einer solchen Kollektion wurde von Wolfgang ZAPF 1965 begon­

nen (ZAPF 1967) und später unter dem Titel

„QUAM-Projekt“ (Quantitatives Modell der Mo­

dernisierung) weitergeführt (vgl. ZAPF/FLORA 1971;

FLORA 1971). Den vorläufigen Höhepunkt dieser Bestrebungen stellt die Publikation des CCPR-Ar­

chivs (Center for Comparative Political Research) der State University o f New York dar (BANKS

1971).

Die Erstellung historischer Datensammlungen ist ein wichtiges Ziel der Modernisierungsforschung, eines der zentralen makrosoziologischen Problem­

bereiche. „Modernisierung“ bezeichnet in histori­

schem Sinne die epochale Transformation, die im 18. Jahrhundert mit der englischen Industriellen Revolution und der politischen Französischen Re­

volution in Westeuropa begann und sich von dort auf die gesamte Welt ausdehnte (vgl. BENDIX 1964), in generalisierendem Sinne die Gesamtheit der Entwicklungsprozesse, die den Wandel traditiona- ler zu komplexen Gesellschaften kennzeichnen.

Allen Modernisierungstheorien gemeinsam ist die Vorstellung eines gerichteten langfristigen Wan­

dels und einer weitreichenden Interdependenz der verschiedenen Prozesse wirtschaftlicher und politi­

scher Entwicklung, sozialer und psychischer Mobi­

lisierung, kultureller und internationaler Transfor­

mation (ZAPF 1970).

Die Modernisierungsforschung arbeitet mit einer

Reihe modellhafter Vereinfachungen, die von re­

lativ anspruchlosen Dichotomien und Trichotomien über die Analyse von Trends und die Konstruk­

tion von Stadien, Entwicklungstypologien und kau­

salen Modellen bis zu komplexeren Katalogisierun­

gen der Probleme, denen Gesellschaften im Laufe der Modernisierung gegenüberstehen, und der Lö­

sungen, die sie dafür finden, reichen. Die Attribute der Modernität und die Prozesse und Probleme der Modernisierung sind hierbei Gegenstand empiri­

scher wie ideologiekritischer Analyse.

Diese modellhaften Vereinfachungen erfordern un­

terschiedliche methodische Verfahren und werfen spezifische empirische Probleme auf. Die quantita­

tiv-komparative Modernisierungsforschung geht bis heute in ihren theoretischen Bezügen über die Ana­

lyse von Entwicklungstrends in Form der Verände­

rung von Aggregatgrößen und ihrer Verbindung zu relativ einfachen kausal-statistischen Modellen kaum hinaus. Das liegt sowohl an der Beschränkt­

heit der Datenbasis, der begrenzten Quantifizier- barkeit vieler Variablen und der Validierungspro­

blematik der Indikatoren als auch an den Moder­

nisierungstheorien selbst, die selten mit dem Ziel einer systematisch-empirischen Überprüfung ent­

wickelt wurden.

Neben der Analyse zentraler Entwicklungstrends hat die quantitativ-komparative Modernisierungs­

forschung vor allem deskriptiven und theorie-sti- mulierenden Wert. Größenordnungen, Entwick­

lungssequenzen und -raten, Regressionszusammen­

hänge u.a. sind oft für sich von Interesse und kön­

nen Anstoß zu neuen Fragestellungen, zur Über­

prüfung theoretischer Grundannahmen und zur Entdeckung spezifischer Zusammenhänge führen.

Was für den Problembereich des Wirtschaftswachs­

tums schon länger gilt (vgl. KUZNETS1 9 6 6 : 3 1 f.), hat heute auch für den makrosoziologischen Be­

reich Gültigkeit: die wissenschaftliche Arbeitstei­

lung hat zu einer Eigendynamik der Datenproduk­

tion und zu einer stärkeren Betonung induktiver Verfahren im Forschungsprozeß geführt. Beides kann sich auf die Theoriebildung durchaus sti­

mulierend auswirken.

In einem Bereich der Modernisierungsforschung hat die Verwendung quantitativer Aggregatdafen und statistischer Analyse besondere Bedeutung erlangt. Er ist unter dem Stichwort „soziale Mo­

bilisierung“ (vgl. ALMOND 1 9 7 0 : 8 - 1 4 ) bekannt geworden.

(3)

p. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 87 Langfristige Prozesse sozialer Mobilisierung

Der Begriff „soziale Mobilisierung“ wurde von KARL DEUTSCH geprägt (1953). Er bezeichnet einen „umfassenden Wandlungsprozeß. . . ,den we­

sentliche Teile der Bevölkerung durchmachen, die auf dem Wege von traditionellen zu modernen Le­

bensformen sind“ (DEUTSCH 1961: 329), und

„bei dem größere Ballungen alter sozialer, wirt­

schaftlicher und psychologischer Bindungen auf­

gerissen und aufgebrochen werden, und wo die Menschen für neue Formen der Vergesellschaf­

tung und des Verhaltens aufgeschlossen werden“

(330). Bestimmend für diese Konzeption ist, „daß ein einziger zugrunde liegender Prozeß angenom­

men wird, dessen Indikatoren nur einzelne As­

pekte widerspiegeln, daß diese Indikatoren in ei­

nem wechselseitigen Verhältnis stehen und bis zu einem gewissen Grade auswechselbar sind und daß dieser Komplex von Vorgängen eines sozialen Wan-j dels wesentliche Beziehung zu bedeutenden Verän-

j

derungen in der Politik hat“ (332). ! Wichtige Teüprozesse der sozialen Mobilisierung ' sind unter anderem die gesteigerte horizontale Mobilität, die Urbanisierung und der Wandel der Berufsstruktur, die Zunahme der direkten Demon­

stration von Attributen moderner Lebensformen und ihrer Vermittlung durch die Massenmedien und die Schulerziehung, die wachsende Betroffen­

heit breiter Bevölkerungsschichten durch politische • Entscheidungen auf nationaler Ebene und durch | das wirtschaftliche Marktgeschehen. Indizierbar sind diese Teüprozesse bisher weniger in ihrer \ Form und Intensität als in ihrer Reichweite, die

j

gemessen wird durch den Anteü der Bevölkerung, ; der an ihnen teünimmt bzw. von ihnen betroffen ist. Aggregatdaten und ihre Veränderungen büden ; daher die empirische Grundlage der Analyse sozia­

ler Mobüisierung.

Die vielleicht erste Formulierung einer „Theorie“

der sozialen Mobüisierung stammt von DANIEL L E R N E R (1 9 5 7 ). Er entwickelte ein vierphasiges Modell aufeinanderfolgender Entwicklungsprozesse, die sich in einem zwischen kritischen Grenzwerten liegenden Bereich kausal verbinden. Die vier Pha­

sen sind: Urbanisierung, Büdungsentwicklung, Ausbreitung der Massenmedien und Zunahme der politischen Partizipation. Das Modell versucht den historischen Weg der westlichen Modernisierung zu beschreiben, die nach Lemer durch „optimale“ Be­

ziehungen der einzelnen Phasen gekennzeichnet war. Es wird dadurch zu einem normativen Modell, an dem nicht-westliche Entwicklungen als un­

gleichgewichtige Abweichungen analysiert und be­

urteilt werden. Sieht man einmal von dieser eben­

so problematischen wie unnötigen Annahme2 ab und auch von der weitgehenden, jedoch irreführen­

den Gleichsetzung von politischer Partizipation und „Demokratisierung“ im Sinne der Institutio­

nalisierung öffentlicher RegierungskontroUe, so bleibt immer noch zu prüfen, inwieweit die grund­

legenden historischen Annahmen des Modells stim­

men, die sich nur auf eine empirische Querschnitts­

analyse für eine größere Anzahl von Staaten um 1950 stützen können. Im dritten TeÜ dieses Auf­

satzes wird sich zeigen, daß die Grundannahmen, zumindest bezüglich der ersten beiden Phasen, nicht haibar sind.

Die soziale Mobüisierung führt regelmäßig zu einer Veränderung der Bedürfnisse und Erwartungen und damit zu einer Steigerung der materiellen und sym­

bolischen Ansprüche, die an die politische Zentral­

instanz gestellt werden und die ständig in Frustra­

tion, Anomie und Gewalttätigkeit umzuschlagen drohen; indem sie neue soziale Gruppen entstehen läßt und das Selbstbewußtsein alter schärft, bringt sie eine Manifestierung latenter und eine Intensivie- vierung vorhandener Konflikte mit sich und ver­

größert dadurch die Wahrscheinlichkeit kollekti­

ver Gewaltanwendung. Es kann daher nicht ver­

wundern, daß die Zusammenhänge der Mobili-

S

sierungsprozesse mit den Formen politischer Par­

tizipation und ihren Institutionalisierungsproble­

men, mit politischer Stabilität und Instabüität ein zentrales Thema der „social mobüization li­

terature“ (z.B. LIPSET 1959; COLEMAN 1960;

OUTRIGHT 1963) ist.

Die bisher überzeugendste Formulierung dieser Zusammenhänge ist m.E. bei SAMUEL P. HUN­

TINGTON (1968: 55) in Form eines kausalen, d.h. nicht umkehrbaren Gleichungssystems zu finden:

(1) Soziale Mobilisierung

--- —---- = Soziale Frustration Wirtschaftsentwicklung

(2) Soziale Frustration

--- --- = Polit. Partizipation Mobilitätschancen

(3) Politische Partizipation

--- --- Polit. Instabilität Polit. Institutionalisierung

2) In einem späteren Artikel äußert LERNER diesbezüg­

lich allerdings einige Zweifel (LERNER 1963).

(4)

88 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117 Politische Stabilität ist danach nicht nur eine

Funktion sozialer Mobilisierung und wirtschaftli­

cher Entwicklung, die das Verhältnis von Erwar­

tungssteigerung und Bedürfnisbefriedigung sym­

bolisieren, sondern auch eine Funktion der tra- ditionalen Sozialstruktur unter den Aspekten ihrer relativen Offenheit für vertikale Mobilität und der Bewertung wirtschaftlicher Tätigkeit so­

wie eine Funktion der traditionalen politischen Institutionen unter dem Aspekt ihrer Anpassungs­

fähigkeit gegenüber dem Druck wachsender poli­

tischer Partizipation. Dennoch bleibt die Möglich­

keit bestehen, direkte Schlüsse von der Rate so­

zialer Mobilisierung auf das Ausmaß sozialer Fru­

stration, politischer Beteiligung und politischer In­

stabilität zu ziehen, allerdings mit einem größeren Unsicherheitsgrad, technisch ausgedrückt, unter Inkaufnahme eines größeren Teils unerklärter Varianz. Da somit der empirischen Bestimmung von Mobilisierungsraten erhebliche Bedeutung zu­

kommt, wird im dritten Teil dieses Aufsatzes ver­

sucht, die langfristige historische Veränderung der Raten von zwei Teilprozessen sozialer Mobilisie­

rung zu rekonstruieren. Die empirische Moderni­

sierungsforschung ist allerdings noch weit davon entfernt, solche verbalen Gleichungssysteme durch die Konstruktion adäquater Indikatoren in Re­

gressionsgleichungen mit bekannten Parametern zu überführen.

Die Kritik an der „social mobilization literature“

hat sich vor allem an drei Punkten entzündet (vgl.

ALMOND 1970): erstens den Modellannahmen, zweitens den politischen Implikationen und drit­

tens der empirischen Grundlage.

Den Analytikern der sozialen Mobilisierung wird vorgeworfen, sie vernachlässigten weitgehend die Einflüsse des internationalen Systems und die Pro­

zesse innerhalb des politischen Systems, sie betrach­

teten die Politik vorwiegend als abhängige Variable und gäben den Modellen einen deterministischen Charakter. Diese Vorwürfe sind, wenn auch mit Einschränkungen, begründet, sie schließen jedoch eine Erweiterung der Modelle durch Indikatoren der Prozesse im internationalen und politischen System sowie eine Verfeinerung der rekursiven Modelle durch die Einführung reziproker Beziehun­

gen nicht aus. Die Kritik an dem vermeintlich de­

terministischen Charakter beruht zwar auf einem Mißverständnis statistischer Modelle, sie ist aber in­

sofern berechtigt, als die Bedeutung der politischen Kultur, der politischen Eliten und charismatischer Führer im wesentlichen unberücksichtigt bleibt.

Ihre Einbeziehung in die Analyse würde wahr­

scheinlich eine Verbindung der statistischen Mo­

delle mit qualitativ-typisierenden Verfahren erfor­

dern.

Schwerwiegender ist der Vorwurf des impliziten oder expliziten Konservatismus. Er betrifft die Tatsache, daß mehr die Stabilität des politischen Systems und weniger seine Leistungen (vgl. CUT- RIGHT 1965), mehr das Auftreten kollektiver Ge­

waltanwendung und weniger ihre politischen Kon­

sequenzen (vgl. MOORE 1966 und 1966a) im Mit­

telpunkt der Analyse stehen. Gefordert ist damit eine Verlagerung der theoretischen Fragestellun­

gen.

Die Kritik der empirischen Begründung gilt für die quantitativ-komparative Modernisierungsforschung allgemein und bezieht sich erstens auf die Bevorzu­

gung quantitativer Aggregatdaten mit beschränkter historischer Reichweite, zweitens die Zuverlässig­

keit, Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit der Daten, drittens die Validierungsproblematik der In­

dikatoren und viertens ihre Austauschbarkeit und Additivität.

Die Verwendung von nationalen Aggregatdaten beschränkt die Analyse auf sehr allgemeine und langfristige Entwicklungen ohne Berücksichtigung wichtiger inneigesellschaftlicher Differenzierungen.

Die Aufgliederung solcher Aggregatdaten ist ein vorrangiges Ziel und hat sich bereits in der Erfor­

schung der Mobilisierungs- und Assimilationspro­

zesse sprachlicher und ethnischer Gruppen (DEUTSCH 1953) sowie der Zusammenhänge von Mobilisierung, Wahlrechtserweiterung, Wahlbetei­

ligung und der Entwicklung politischer Parteien (z.B. ROKKAN 1970: Kap. 6 und 7) als äußerst fruchtbar erwiesen. Führt die Verwendung na­

tionaler Aggregatdaten vielfach zu „ecological fallacies“ , Fehlschlüssen zwischen unterschied­

lichen Aggregationsebenen, so bergen historische Aussagen mit Hilfe von Querschnittsanalysen die Gefahr einer „historical fallacy“ in sich (ALKER

1965: 101 ff.). Historische Datensammlungen bieten die einzige Möglichkeit, solchen Trug­

schlüssen zu entgehen.

Während bezüglich der Zuverlässigkeit, Vergleich­

barkeit und Reproduzierbarkeit der Daten Fort­

schritte zu erkennen sind, ist die Validierungs­

problematik der Indikatoren noch weitgehend ungelöst. Umstritten sind schließlich auch die An­

nahmen der Austauschbarkeit und Additivität der Indikatoren (vgl. ALKER 1966). Im folgenden Teil wird sich zeigen, daß diese Annahmen nur mit großen Einschränkungen gemacht werden können.

(5)

P. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 89 Urbanisierung und Alphabetisierung

Zwei zentrale Prozesse sozialer Mobilisierung sind die Urbanisierung und Alphabetisierung, definiert als räumliche Bevölkerungskonzentration bzw. als Verbreitung der Lese- und Schreibkundigkeit. Es soll hier versucht werden, diese beiden Prozesse mit Hilfe quantitativer Aggregatdaten für insge­

samt 94 Länder, die nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurden, im Zeitraum von 1850 bis 1965 zu analysieren3.

Wie bei den meisten makrosoziologischen Indika­

toren liegt auch bei den Urbanisierungs- und Al­

phabetisierungsraten das hauptsächlichste Interpre­

tationsproblem in ihrer Mehrdeutigkeit, die auf die Vielfalt ihrer empirischen Korrelate zurückzu­

führen ist. Jede Analyse, die vorwiegend quanti­

tative Daten für Prozesse in sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten verwendet, muß daher von An­

nahmen über diese Korrelate ausgehen, die oft nicht mehr als eine vage Plausibilität beanspru­

chen können.

Solange das Validierungsproblem nicht durch die systematische Sammlung von Informationen über den Kontext solcher Prozesse besser gelöst wer­

den kann, erscheint die Beschränkung auf eine genaue Beschreibung und eine vorsichtige Inter­

pretation geboten. Die Deskription und Analyse der historischen Urbanisierungs- und Alphabeti­

sierungsprozesse stützt sich hier im wesentlichen auf die folgenden Regressionsdiagramme, in denen die Position jedes Landes für die Jahre 1850, 1870, 1890, 1910, 1930, 1950 und 1965 einge- zeichnet ist4.

3) Für nähere Erläuterungen s. die Einleitung zum An­

hang.

4) In den Zeichnungen ist die Position jedes Landes, die sich aus seiner Urbanisierungs- und Alphabetisierungsrate ergibt, durch die Abkürzung seines Namens gekennzeich­

net. Ein Verzeichnis der Abkürzungen findet sich im An­

hang, S. 104f. Aus optischen Gründen wurden die Analpha­

betismusraten (xj) des Anhangs in den Diagrammen als Alphabetisierungsraten (100-X:) verwendet. Für Raten, die im Anhang als geschätzte Intervalle wiedergegeben sind, wurde in den Zeichnungen der Mittelwert des Inter­

valls herangezogen. Das Rechteck in der linken unteren Ecke der Streuungsdiagramme mit den Seitenlängen 8 % Urbanisierungsrate und 15 % Alphabetisierungsrate um­

faßt in der Regel alle übrigen Länder der Erde. Ausnah­

men von der Regel sind den Tabellen im Anhang zu ent­

nehmen. Der Bereich des Rechteckes wurde nicht in die Korrelationsanalyse einbezogen. Die einzelnen Länder sind in sieben umrandeten und mit römischen Ziffern markierten „Regionen“ zusammengefaßt: (I) Nord-, Mit­

tel- und Westeuropa, Nordamerika und Japan, (II) Süd­

europa und Lateinamerika, (III) Ost- und Südosteuropa, (IV) eine erste Gruppe asiatischer Länder, (V) die isla­

misch-arabischen Länder, (VI) eine Gruppe afrikanischer Staaten, (VII) eine zweite Gruppe asiatischer Länder.

Die Modernisierung stellt sich in internationaler Perspektive u.a. als eine Folge von immer neuen, wachsenden und wieder abnehmenden Ungleich­

heiten zwischen Gesamtgesellschaften dar. Die Ur­

banisierung und Alphabetisierung bilden zwei frü­

he Stufen dieses Differenzierungsprozesses.

Entgegen der weit verbreiteten Annahme einer starken Interdependenz, eines „Systems“ der Pro­

zesse der Modernisierung bzw. der Attribute der Modernität, ist der Zusammenhang von Urbani­

sierung und Alphabetisierung keineswegs einheit­

lich und eng (Tab. 1).

Tabelle 1:

Der Zusammenhang der Urbanisierung und Alphabetisie­

rung in sieben historischen Querschnitten Jahr Korrelations­

koeffizient

Determinations­

koeffizient

Anzahl der Länder

1850 0.09 0.00 31

1870 0.17 0.03 35

1890 0.51 0.26 48

1910 0.62 0.38 63

1930 0.67 0.45 71

1950 0.69 0.47 88

1965 0.64 0.41 94

Die Korrelationskoeffizienten zeigen, daß erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt von einem Zusammenhang gesprochen werden kann, aber auch dann sind die relativ hohen Koef­

fizienten mehr ein Ausdruck ähnlicher Ausgangs­

lagen und weniger ein Maß für die Gleichförmig­

keit späterer Entwicklungen, wie aus den Regres­

sionsdiagrammen ersichtlich ist5.

Noch wichtiger ist jedoch, daß die Korrelations­

koeffizienten zwar die Stärke des Zusammenhangs der beiden Raten in sieben historischen Querschnit­

ten messen, die radikale Veränderung des Entwick­

lungszusammenhangs im historischen Längsschnitt aber verdecken. Diese Umkehrung des Zusammen­

hangs stellt das zentrale Resultat dieser Analyse dar:

Während die „alten“ Nationen, die Staaten Nord-, Mittel- und Westeuropas, Nordamerika und Japan primär durch eine früh einsetzende, langfristige Bildungsentwicklung gekennzeichnet sind, an die

5) Der PEARSONsche Korrelationskoeffizient ist nur dann ein adäquates Maß für den Zusammenhang zweier Variablen, wenn dieser Zusammenhang annähernd linear ist und die Daten annähernd normalverteilt sind. Da zu­

mindest die zweite Bedingung hier nicht erfüllt ist - die Alphabetisierungsraten haben sogar eine annähernde U- Verteüung - , liegen die Korrelationskoeffizienten viel zu hoch.

(6)

90 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117

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P. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 93 1910

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Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117

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P. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 97 erst in einer späteren Phase ein stärkerer Urbani­

sierungsprozeß anschloß, hat sich diese Folge von Entwicklungsphasen bei den „neuen“ Nationen La- teinamerikas, Asiens und Afrikas zunehmend umge­

kehrt6. Dahinter steht die Tatsache, daß seit 1850, ausgehend von extremen Unterschieden im Bil­

dungsniveau und relativ geringen Differenzen im Urbanisierungsgrad der einzelnen Länder, die Ur­

banisierung im allgemeinen bedeutend schneller verlaufen ist als die Alphabetisierung7 (Tab. 2).

Tabelle 2:

Die Zunahme der Urbanisierung,s- und Alphabetisierungs­

raten im Vergleich

Jahr Index der durchschnittlichen Anzahl Urbanisie­ Alphabetisie­ der rungsrate rungsrate Länder

1850 100.0 100.0 31

1870 127.3 113.8 35

1890 151.5 105.9 48

1910 169.7 106.8 63

1930 211.1 122.1 71

1950 252.2 124.7 88

1965 303.8 131.5 94

Zweifellos gibt es wichtige regionale Unterschiede im Verhältnis der beiden Modernisierungsprozesse:

so gleicht die Entwicklung der ost- und südosteuro­

päischen Staaten sowie einiger asiatischer Länder (Ch, Ph, Th, Ce, Bm) in viel stärkerem Maße der Entwicklung der „alten“ Nationen als die der süd­

europäischen und lateinamerikanischen sowie der islamisch-arabischen Staaten8. Dennoch kann man von einer allgemeinen Verschiebung des Verhältnis­

ses von Urbanisierung und Alphabetisierung spre­

chen. Sie zeigt sich am deutlichsten im Vergleich von zwei Extremgruppen:

(A) den dominant protestantischen nord- und mit­

teleuropäischen sowie nordamerikanischen Ländern (Sw, No, Fi, Da, Pr, Sz, Us, Ka) um 18509 *, 6) Die Bezeichnung: „alte“ und „neue“ Nationen wird hier nur zum Zweck einer abgekürzten Schreibweise ver­

wendet. Sie bezieht sich nicht auf den politischen Status nationaler Unabhängigkeit, sondern auf den zeitlichen Be­

ginn des Modemisierungsprozesses.

7) Der Vergleich der beiden Indizes der durchschnittli­

chen Urbanisierungs- bzw. Alphabetisierungsrate führt zu einer etwas zu starken Differenz in der Entwicklungs­

geschwindigkeit der beiden Mobilisierungsprozesse, da seit ca. 1900 eine wachsende Anzahl von Ländern prak­

tisch die Grenze von 100 % Alphabetisierung erreichte.

8) Vgl. anhand der Zeichnungen die Entwicklung der Länder in der „Region“ (I) mit denen in (III) und (IV) einerseits und denen in (II) und (V) andererseits.

9) In Gruppe (A) wurden EW, So und NI und in Gruppe (B) Lb als stark abweichende Fälle vom Vergleich aus­

geschlossen; vgl. die Zeichnungen von 1850 und 1965.

(B) den islamischen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas (Tk, Sy, Ik, In, Jo, Sa, Ae, Ly, Tu, Ag, Ma) um 19659

Während die Urbanisierungsrate der islamischen Länder heute fünfmal so hoch ist wie die der pro­

testantischen Länder um 1850, beträgt ihre Alpha­

betisierungsrate immer noch weniger als ein Drittel (Tab. 3).

Tabelle 3:

Vergleich der Urbanisierungs- und Alphabetisierungsraten von zwei Ländergruppen

Länder­ Jahr Durchschnittliche Durchschnittliche

gruppe Urbanisierungs­

rate in %

Alphabe tisierungs- rate in %

(A) 1850 5.9 81.6

(B) 1965 28.6 25.0

Das Ergebnis dieses Vergleiches legt es nahe, in der Modernisierungsforschung generell die Diffe­

renzen stärker in den Vordergrund der Analyse zu stellen als die Gemeinsamkeiten, deren Beto­

nung oft einem zu stark vereinfachenden Denken in historischen Dichotomien entspringt. Dieser Schluß gilt unabhängig davon, ob man in der Theoriebildung von dem Modell einer kausalen Interdependenz der verschiedenen Entwicklungs­

prozesse ausgeht, wie es in der westlichen Mo­

dernisierungsforschung vorherrscht (z.B. LERNER 1958), oder von dem Modell einer kausalen Hie­

rarchie dieser Prozesse, das den marxistischen Theorien zugrunde liegt (z.B. SCHAFF 1965).

Die Beschreibung der Urbanisierungs- und Alpha­

betisierungsprozesse wirft drei zentrale Fragen auf:

(1) Welche Ursachen hat die frühe Alphabetisie­

rung der „alten“ Nationen?

(2) Wie erklärt sich die rasche Urbanisierung der

„neuen“ Nationen?

(3) Welche Folgen ergeben sich aus der Verände­

rung des Verhältnisses der beiden Mobilisierungs­

prozesse für die Stabilität und Leistungsfähigkeit der politischen Systeme?

Verständlicherweise lassen die hier gesammelten Daten nur Vermutungen über einige mögliche Ur­

sachen und Konsequenzen zu; sie können besten­

falls zu Hypothesen führen, deren Überprüfung die Aufgabe weiterreichender empirischer For­

schungen ist. Die Interpretation stützt sich dabei auf die Regressionsdiagramme und versucht die einzelnen Behauptungen durch zusätzliche Daten zu belegen bzw. durch Beispiele zu illustrieren.

(14)

98 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117 (1) Die Alphabetisierung der „alten“ Nationen

Entgegen den Vorstellungen DANIEL LERNERS (1958) kann die Urbanisierung nicht als erste Modernisierungsphase der „alten“ Nationen be­

trachtet werden, auf die eine zweite Phase der Bildungsentwicklung folgte. Die Entstehung grös­

serer Städte, die nicht mit der Urbanisierung gleichzusetzen ist und die der zeitlich begrenzten Modernisierungsperiode lange vorausging, war zwar der historische Ursprung einer höheren Bil­

dung, die das Monopol sakraler und bürokrati­

scher Eliten brach, sie war jedoch nicht der Aus­

gangspunkt einer allgemeinen Verbreitung der Le­

se- und Schreibkundigkeit.

Wahrscheinlich sind es vor allem drei Faktoren, die in unterschiedlichen Kombinationen den gros­

sen Bildungsvorsprung der mittel-, west- und nord­

europäischen Staaten, Nordamerikas und Japans erklären10:

(a) der Einfluß von Religionen, deren Verbreitung einen wesentlich schriftlichen Charakter hatte, (b) die Demokratisierung im Sinne der Institutio­

nalisierung politischer Beteiligung auf kommuna­

ler und nationaler Ebene,

(c) das Streben nach nationaler Selbstbehauptung, (a) Der Zusammenhang zwischen der Alphabeti­

sierung und Religionen mit schriftlicher Verbrei­

tungsgrundlage ist in allen oben zusammengefaß­

ten Ländern gegeben. Er hat, wenn auch auf einer niedrigeren Stufe, noch heute Geltung, wie für die ehemaligen englischen und französischen Kolonien festgestellt werden konnte (BANKA/TEXTOR 1 9 6 3 :

14 f.). Zweifellos hatte unter diesen Religionen der Protestantismus in seinen verschiedenen Er­

scheinungsformen den nachhaltigsten Einfluß, wie die klassische Studie Max WEBERS vermuten läßt und wie anhand der Zeichnungen klar demonstriert werden kann: mit Ausnahme von England und Wa­

les liegen alle überwiegend protestantischen Län­

der vor den katholischen Ländern mit der höch­

sten Alphabetisierungsrate. Dieser spezifische Ein­

fluß bestand neben der Übersetzung der religiösen Schriften in die jeweiligen Landessprache vor al­

lem im verpflichtenden Charakter der Elementar­

bildung, der sich bereits im 1 7 . und 1 8 . Jahrhun­

dert in den angelsächsischen Ländern in einem Recht auf Bildung durch die Verpflichtung kom­

munaler und staatlicher Organe zur Schaffung von Bildungsmöglichkeiten und in den deutschsprachi­

gen und skandinavischen Ländern in einer Ver-

10) Vgl. in der folgenden Interpretation die Zeichnung von 1850.

pflichtung der Bevölkerung zum Schulbesuch niederschlug11 (vgl. LEVASSEUR 1897).

(b) Die Rolle institutionalisierter politischer Parti­

zipation ist mit den hier gesammelten Daten schwieriger zu belegen, da die dominant prote­

stantischen Länder weitgehend auch die Länder mit dem größten Institutionalisierungsgrad poli­

tischer BeteÜigung waren. Zumindest beispielhaft läßt sich jedoch die Behauptung belegen, daß zu­

erst die kommunale Selbstverwaltung und später die Erweiterung des Wahlrechts auf nationaler Ebe­

ne die Alphabetisierung wesentlich beschleunigt ha­

ben: im 18. Jahrhundert hatten, allen verfügbaren Informationen nach, die Schweiz, Schweden und Schottland die höchste Alphabetisierungsrate in Europa, das gleiche gilt im 19. Jahrhundert für die Provinzen Tirol und Vorarlberg innerhalb der öster­

reichischen Monarchie, alles Gebiete mit freien Bauern und kommunaler Selbstverwaltung (vgl.

CIPOLLA 1969); zwischen den englischen Wahl­

rechtsreformen von 1832 und 1867/68 und den wichtigsten Primärschulgesetzen von 1833 und

1870 besteht ein ebenso direkter Zusammenhang (vgl. CURT1S/BOULTWOOD 1966) wie zwischen der 11 * 11) In Deutschland fallen die Anfänge eines öffentlichen Primärschulwesens mit partiell verpflichtendem Charak­

ter bereits in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Diese Entwicklung wurde allerdings durch den 30jähri- gen Krieg verzögert. Einführung der Schulpflicht: Würt­

temberg 1649; Sachsen 1673 (Knaben), 1724 (Mädchen);

Preußen 1717 (partiell), 1769 (allgemein); Hessen 1733.

Skandinavien: Finnland: bereits im ersten Jahrhundert nach der Reformation macht die lutherische Kirche die Lesekundigkeit zur Voraussetzung von Kommunion, Heirat und Ausübung der Bürgerrechte; Schweden: 1640 Regierungsbeschluß, in jeder Stadt eine Schule zu er­

richten, 1686 Gesetz, das die Küster zur Unterrich­

tung der Kinder verpflichtet und die Lesekundigkeit zur Voraussetzung einer Heiratserlaubnis macht; Dänemark:

1721 (Schulpflicht in den königlichen Domänen), 1739 (allgemeine Schulpflicht); Norwegen: 1739/1741 (allge­

meine Schulpflicht). In den angelsächsischen Ländern wurde die Schulpflicht relativ spät eingeführt: USA 1852-1918, Kanada 1867, England und Wales 1870, Schottland 1872; dafür entstanden in den USA und in Neuengland sehr früh Ansätze eines Rechtsanspruchs auf Bildung. USA: 1647 wurden in Massachusetts alle Gemeinden mit einer bestimmten Einwohnerzahl ver­

pflichtet, Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder zu schaf­

fen; bis ca. 1700 gab es in allen Kolonien Neuenglands ähnliche Gesetze; Schottland: 1696 verpflichtet das Par­

lament alle Kirchspiele zur Errichtung einer Schule. Eng­

land und Wales bildet insofern eine große Ausnahme, als hier die freiwülige Grundlage des Bildungsangebotes wie der Bildungsnachfrage länger als anderswo erhalten blieb.

Das religiöse Element der Alphabetisierung zeigte sich vor allem in der Tätigkeit der großen freiwilligen Organi­

sationen zum Zweck der Bildungsförderung im 18. Jahr­

hundert (vgl. GOOD 1966).

(15)

P. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 99 Französischen Revolution von 1 8 3 0 und der Pri-

[närschulreform von 1 8 3 3 (vgl. THUT/ADAMS 1964). Ähnliche Beispiele lassen sich auch für Län- ler finden, deren Modernisierungsprozeß später be­

gann: im zaristischen Rußland gaben die Errichtung yon Selbstverwaltungsbezirken nach 1 8 6 4 und die Einberufung ständischer Vertretungen nach 1 9 0 5 der Expansion der Primärbildung die stärksten Im­

pulse (vgl. HANS 1 9 6 4 ).

(c) Ergibt die Verbindung von Protestantismus und Selbstverwaltung vielleicht einen brauchba­

ren Erklärungsansatz für den Entwicklungsvor­

sprung der führenden Staaten um 1 8 5 0 , so er­

klärt sie den Fall Preußen nur teilweise und den großen Unterschied zwischen den katholischen Ländern Frankreich, Österreich und Irland einer­

seits sowie Spanien, Portugal und Italien anderer­

seits überhaupt nicht. Diese Fälle deuten auf den Einfluß, den die Stellung eines Landes im in­

ternationalen System ausübt. Während für Preus- sen, Frankreich und Österreich, Staaten im Zen­

trum des damaligen Systems, die Entwicklung leistungsfähiger ziviler und militärischer Bürokra­

tien und damit auch die Alphabetisierung eine Notwendigkeit nationaler Selbstbehauptung war, galt dies für Spanien und Portugal nach dem Ver­

lust ihrer Kolonien und für Italien vor der Errich- ung der nationalen Einheit nur in geringerem Mas­

se. Auch die englischen Bemühungen um eine be­

schleunigte BÜdungsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. CURTIS/BOULT- WOOD 1 9 6 6 ) , die an nationaler Stärke orientier­

te japanische Bildungspolitik nach 1 8 6 8 (vgl.DORE 1965, PASSIN 1 9 6 5 ) und die russischen Reform­

versuche während der Napoleonischen Kriege und nach der Niederlage im Krimkrieg (vgl. HANS 1 9 6 4 ) illustrieren diesen Zusammenhang.

Irland, schließlich, ist eines der frühesten histori­

schen Beispiele12 für den Zusammenhang von Al­

phabetisierung und dem Streben nach kultureller Selbstbehauptung und nationaler Unabhängigkeit (vgl. MacELLlGOTT 1 9 6 6 ) . Es ist zu vermuten, daß dieser Zusammenhang um so enger war, je ent­

wickelter das Bewußtsein kultureller Eigenstän­

digkeit und je stärker die Unabhängigkeitsbewe­

gung zu einer Mobilisierung breiter Bevölkerungs- Schichten führte. Aus diesem Grunde wurde be­

reits im 1 9 . Jahrhundert die Schulpflicht zu ei­

nem Statussymbol nationaler Unabhängigkeit. Ein Vergleich der Jahre, in denen die politische Unab­

hängigkeit errungen bzw. die Schulpflicht Gesetz 12) Ein vergleichbares Beispiel dürfte die Entwicklung Finnlands bieten.

wurde, bezeugt die wachsende Bedeutung dieses Zusammenhangs: während er in der ersten Phase der Entkolonisierung, in den lateinamerikanischen Staaten, noch kaum erkennbar ist13, läßt er sich für den Zerfall des Osmanischen Reiches14 und für die Entkolonisierungsphase nach dem zweiten Weltkrieg15 klar belegen (vgl. LEVASSEUR 1897;

UNESCO 1958 und 1970; BANKS 1971).

Inwieweit und in welcher Form die wirtschaftli­

che Entwicklung die Alphabetisierung der ,,alten“

Nationen beeinflußte, läßt sich mit Hilfe der hier gesammelten Daten auch nicht annäherungsweise beantworten. Als erwiesen kann jedoch gelten, daß kein direkter Zusammenhang zwischen der Industrialisierung und der Alphabetisierung be­

stand, da diese lange Zeit vor der ersten Indu­

strialisierungsphase dieser Länder einsetzte (vgl.

CIPOLLA 1969) und noch um 1850 die am stärk­

sten industrialisierten Länder England und Wales, Frankreich und Belgien (vgl. ROSTOW 1963) eine vergleichsweise niedrige Alphabetisierungsrate hatten.

(2) Die Urbanisierung der „neuen“ Nationen Wie bereits dargelegt wurde, sind die „neuen“ Na­

tionen im Vergleich zur Entwicklung der „alten“

Nationen durch eine „Überurbanisierung“ (vgl.

SOVANI 1964) gekennzeichnet. Jeder Versuch, mögliche Ursachen für die Differenzen und die Ver­

änderung der Urbanisierungsraten zu finden, steht vor der Schwierigkeit, daß die Veränderung dieser

13) Land: Jahr der Erringung der Unabhängigkeit/der Einführung der Schulpflicht: Ha 1806/1874, Pg 1815/

1870, Ar 1816/1844, CI 1818/1860, Kl 1819/1936, Me 1821/1867, Br 1822/1946 (1882 mißglückter Versuch), Pe 1824/1901 (1828 Recht auf freie Primärbildung in der Verfassung verankert), Bo 1825/1955, Ur 1828/1878, Ve 1830/1893, Ec 1830/1871, Co 1838/1869, Ho 1838/

1880, Gu 1839/1945, Nc 1838/1950, El 1841/1950, Do 1844/1917, Cu 1902 (faktisch 1934)/1900, Pa 1903/1903.

14) Land: Jahr der Erringung der Unabhängigkeit/der Einführung der Schulpflicht: Gr 1830/1834, Ru 1859/

1864, Bl 1878/1879, Se 1878/1882, Ab 1913/1921, Sa 1902/-, Ae 1922 (nominelle Unabhängigkeit)/1923, Ik 1921 (faktisch 1932)/1929, Jo 1946/1952, Sy 1946/

1953, Lb 1946/-;

15) Land: Jahr der Erringung der Unabhängigkeit/der Einführung der Schulpflicht: Asien: Ph 1946/1940, Ii 1947/1950, Pk 1947/-, Ce 1948 (1931 Verfassung)/

1939, Bm 1948/1968<?), Io 1949/1954, Kb 1953/1953 (partielle Schulpflicht seit 1911), La 1954/1951, SV 1954/

1952, NV 1954/1946, My 1957/1966(? ); Afrika: Ly 1952/vor 1969, Ma 1956/vor 1969, Tu 1956/vor 1969, Sudan 1956/-, Gh 1957/1961, Guinea 1958/1959, Ag 1962/1944; von den 28 afrikanischen Staaten, die zwi­

schen 1960 und 1966 unabhängig wurden, haben bis 1969 14 die Schulpflicht eingeführt.

(16)

100 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117 Raten nicht einfach als „Landflucht“ interpretiert

werden kann, da sie auch eine Funktion des allge­

meinen Bevölkerungswachstums16, der unterschied­

lichen städtischen und ländlichen Geburten- und Sterbeziffern, der Verteilung der Aus- und Ein­

wanderung auf Stadt und Land17 und schließlich auch der administrativen Veränderung von Stadt­

grenzen ist.

Obwohl darüber kaum Informationen vorhanden sind, dürfte dennoch die Annahme gerechtfertigt sein, daß die rapide Zunahme der Urbanisierungs­

raten weitgehend auf eine gesteigerte „Landflucht“

zurückzuführen ist. Drei mögliche Faktoren dieser

„Landflucht“ sollen hier ansatzweise untersucht werden:

(a) die wirtschaftliche Entwicklung im Sinne der sektorialen Umstrukturierung der Arbeitsbevölke- rung,

(b) die ländliche Überbevölkerung, (c) die Verbreitung der Massenmedien.

(a) Keineswegs überraschend konnte für die 50er Jahre ein enger Zusammenhang zwischen dem Ur­

banisierungsgrad und dem Anteil der nicht in der Landwirtschaft bzw. der in der Industrie Beschäf­

tigten an der Arbeitsbevölkerung nachgewiesen werden. Die Korrelationskoeffizienten für 75 Län­

der betragen 0.78 und 0.67 (RUSSETT 1961: 267).

Zwar machen fehlende Informationen entspre­

chende Berechnungen für frühere Zeitpunkte un­

möglich, soweit jedoch Daten vorhanden sind (vgl.

KUZNETS 1966), deuten sie auf einen ähnlich star­

ken Zusammenhang hin18.

Diesem relativ engen Zusammenhang zwischen der Urbanisierung und der Ausdehnung des sekun­

dären und tertiären Wirtschaftssektors in histori­

schen Querschnitten steht jedoch eine deutliche Veränderung des Entwicklungszusammenhangs im historischen Längsschnitt gegenüber: im Ver­

gleich zur Modernisierung der „alten“ Nationen eilt die Urbanisierung in den „neuen“ Nationen der sektorialen Umstrukturierung der Arbeitsbe­

16) Ceteris paribus gilt, daß die Urbanisierungsrate mit dem Bevölkerungswachstum steigt, da eine zunehmende Zahl von Städten die gesetzte Grenze von 20.000 Ein­

wohnern überquert.

17) Die Urbanisierung eines Teils der lateinamerikani­

schen Länder, Nordamerikas, Australiens und Neusee­

lands ist in großem, jedoch nicht genau bestimmbarem Maße auf die Einwanderung zurückzuführen, die sich stark auf die Städte konzentrierte.

18) Rangordnungen einiger europäischer und angelsäch­

sischer Länder um 1900: Anteil der nicht-landwirtschaft­

lich Beschäftigten an der Arbeitsbevölkerung / Urbani­

sierungsrate: Großbritannien 1/1, Be 2/5, Au 3/2, Sz 4/9, NI 5/3, Fr 6/6, Us 7/4, Da 8/7, No 9/10, Ka 10/8, Sw 11/11.

völkerung weit voraus. Dies zeigt eine Gegenüber­

stellung von zwei Ländergruppen: (A) den Staaten der nordatlantischen Region im Zeitraum von 1850 bis 190019 (KUZNETS 1966) und (B) 52 Ländern, deren Arbeitsbevölkerung in den 50er Jahren zu mehr als 40 % in der Landwirtschaft beschäftigt war20 *(RUSSETT 1961) (Tab. 4).

Tabelle 4:

Urbanisierung und sektoriale Umstrukturierung der Arbeits­

bevölkerung

Ländergruppe Durchsehnittliche(r)

Anteil der nicht-landwirt- Urbanisie- schaftlichen Beschäftigten rungsrate an der Arbeitsbevölkerung

1 (1850-1900) ca. 62% ca. 19%

II (1950-1960) ca. 38 % ca. 19 %

Die wirtschaftliche Entwicklung im Sinne der sek­

torialen Umstrukturierung bietet daher zwar Er­

klärungsmöglichkeiten für die Urbanisierung der

„alten“ Nationen und allgemein für die Unterschie­

de im Urbanisierungsniveau verschiedener Länder innerhalb abgrenzbarer Regionen, nicht jedoch für die historische Beschleunigung des Urbanisie­

rungsprozesses.

(b) Auch die naheliegende Vermutung, die beschleu­

nigte Urbanisierung sei eine Folge ländlicher Überbe völkerung, wird zumindest auf den ersten Blick von den empirischen Daten widerlegt: mit Ausnahme von Ägypten zählen heute alle „neuen“ Nationen mit der größten Zahl landwirtschaftlich Beschäftig­

ter pro landwirtschaftliche Flächeneinheit zu den am geringsten urbanisierten Ländern (vgl.

GINSBURG

1961: 48 f.).

(c) Die vielleicht beste Erklärungsmöglichkeit bietet die Interpretation der beschleunigten Urbanisierung als eine Folge rapide wachsender Erwartungen der Landbevölkerung, die weitgehend auf die sprunghaft zunehmende Verbreitung der Massenmedien zurück zuführen sind. Dabei spielt nicht mehr das „klassi­

sche“ Medium der Zeitung die entscheidende Rolle, sondern das Radio, dessen Breitenwirkung von einer allgemeinen Alphabetisierung unabhängig ist. Ein Vergleich der durchschnittlichen Urbanisierungsrate

19) Anteil der nicht-landwirtschaftlich Beschäftigten an der Arbeitsbevölkerung (Jahr): Großbritannien 77(1841) Fr 57(1866), Us 49(1870), Sw 45(1870), No 51(1875), Be 76(1880), Sz 67(1880), Au 74(1891), NI 72(1899), Da 58(1901, Ka 56(1901).

20) La, Ha, Th, Ik, In, Kb, Tk, Ag, Bo, Ab, li, Mo, Ma, Gh, Ru, Sk, Sy, Bm, Ch, Gu, Nc, Tu, Ju, Sb, Ho, Pk, Bl, Ae, El, Io, Br, Pe, Ph, My, Me, Po, Do, Pg, Co, Kt, Pa, Ec, Ce, Ta, Sp, Jk, Gr, Pt, RI, Fi, Ve, Cu.

(17)

P. Flora: Historische Prozesse sozialer Mobilisierung 101 und der durchschnittlichen Anzahl von Radios pro

Kopf der Bevölkerung (vgl. BANKS 1971) für drei Ländergruppen: (A) die lateinamerikanischen Staa­

ten, (B) die islamisch-arabischen Staaten und (C) einige asiatische Staaten21, erbringt eine erste Bestä­

tigung des Zusammenhangs, eine genauere empiri­

sche Begründung wird jedoch erst möglich sein, wenn wir mehr Daten über die Entwicklung der Massenmedien in weiter zurückliegenden Zeiträu­

men besitzen (Tab. 5).

Tabelle 5:

Durchschnittliche Urbanisierungsräte und Verbreitung von Radios, 1965

Ländergruppe Anzahl von Radios pro Urbanisierungs­

10.000 Einwohner rate (in %)

(A) 1.688 33.2

(B) 1.202 28.6

(C) 313 12.3

(3) Kapazitäten und Belastungen

Langfristig betrachtet bedeutet Modernisierung eine Steigerung der Kapazitäten des politischen Systems durch die Mobilisierung neuer Ressourcen und gleichzeitig eine Steigerung der Belastungen durch wachsende Erwartungen und Forderungen der mobi­

lisierten Bevölkerungsgruppen. Das Verhältnis von Kapazitäten und Belastungen bestimmt die Stabili­

tät und Leistungsfähigkeit des politischen Systems.

Es ist daher zu fragen, wie sich die historische Ver­

änderung der beiden Mobilisierungsprozesse Urbani­

sierung und Alphabetisierung auf dieses Verhältnis auswirkt.

Nach KARL DEUTSCH, der als erster in seinem Auf­

satz „Social Mobilization and Political Develop­

ment“ (1961) ein Indikatorenmodell der Belastun­

gen und Kapazitäten entwickelt hat, ist die Ur­

banisierung ein Indikator für wachsende Kapazi­

täten und die Alphabetisierung ein Indikator für zunehmende Belastungen. Diese Annahmen zei­

gen deutlich die relative Beliebigkeit der Inter­

pretation solcher Indikatoren, da man wahr­

scheinlich davon ausgehen muß, daß die Ver­

änderung der Urbanisierungs- und Alphabeti­

sierungsraten eine Zunahme sowohl der Kapazitä­

ten als auch der Belastungen indizieren kann und darüber hinaus gleiche Veränderungsraten in unter­

schiedlichen Kontexten auch eine sehr verschiede­

ne „Bedeutung“ haben können. Eine systematische Berücksichtigung dieses Kontextes zu fordern, hieße nichts anderes, als den Anspruch einer gesamtgesell- 2I> Ph, Bm, Ce, Th, SK, Io, li, Pk, La, Ch, My.

schaftlichen Analyse zu erheben. Im Vergleich dazu sollen hier nur zwei sehr bescheidene und noch zu überprüfende Vermutungen angestellt werden:

(a) Die Urbanisierungs- und Alphabetisierungspro­

zesse stellen heute für die „neuen“ Nationen durch ihre teilweise größere Geschwindigkeit und ihren geänderten Kontext im Durchschnitt eine höhere Belastung des politischen Systems dar als früher in den „alten“ Nationen.

(b) Die Alphabetisierung wurde seit dem 19. Jahr­

hundert in zunehmenden Maße ein direkter Aus­

druck der Kapazitäten eines politischen Systems.

Die Veränderungsraten der Alphabetisierung las­

sen vermuten, daß diese Kapazitäten in den „neu­

en“ Nationen heute im Durchschnitt nicht größer, vielleicht sogar geringer sind als in den „alten“ Na­

tionen zwischen 1850 und 1910.

(a) „Die Instabilität der Stadt“ ist, wie SAMUEL P. HUNTINGTON eindringlich dargelegt hat, „ein unvermeidbares Merkmal der Modernisierung“

(1968: 77). In den „neuen“ Nationen jedoch hat sich der Urbanisierungsprozeß gegenüber früher stark beschleunigt und er zeigt weniger Überein­

stimmung mit der sektorialen Umstrukturierung der Arbeitsbevöikerung, mit der wahrscheinlichen Konsequenz einer größeren Zunahme der Bela­

stungen des politischen Systems durch Form und Ausmaß der politischen Partizipation und einer geringeren Zunahme der Kapazitäten unter dem Aspekt wirtschaftlicher Ressourcen22. Die Alpha­

betisierung der „alten“ Nationen erfolgte zu einer Zeit, in der diese Gesellschaften noch kaum urba- nisiert waren und nur schwache Ansätze eines ver­

mittelten öffentlichen Kommunikationssystems aufwiesen; sie erfolgte weitgehend unter der Kon­

trolle obrigkeitsstaatlicher und/oder kirchlicher Bürokratien und/oder kommunaler Honoratioren.

Der Alphabetisierung der „neuen“ Nationen ging und geht dagegen in zunehmenden Maße eine Mo­

bilisierung breiter Bevölkerungsschichten durch die Urbanisierung und die Verbreitung der Mas­

senmedien voraus. Diese Mobilisierung erschwert ohne Zweifel die Kontrolle der destabilisierenden Konsequenzen der Bildungsexpansion. Eine Kor­

relation der Veränderungsrate des primären Ver­

schulungsgrades mit einem Index politischer In­

stabilität für 70 Länder um 1960 ergab den rela­

tiv hohen Koeffizienten von 0.61 (HUNTINGTON 1968: 47). Nicht zufällig hat daher die Interpre-

22) Obwohl entsprechende historische Daten kaum vor­

handen sind, ist anzunehmen, daß die Folge dieser Ent­

wicklung eine größere städtische Arbeitslosigkeit und ein überhöhtes Wachstum des tertiären Wirtschaftssektors ist.

(18)

102 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 2, April 1972, S. 85-117 tation des Bildungssystems eine radikale Verände­

rung erfahren: wurde es lange Zeit als eine über­

wiegend konservative, die dominierenden Werte erhaltende und vermittelnde Institution betrach­

tet, so sieht man in ihm heute stärker einen zen­

tralen Faktor umfassender Wandlungsprozesse (vgl. COLEMAN 1965).

(b) Die Entwicklung der Primärbildung ist seit 1850 immer stärker zu einem Ziel staatlicher Poli­

tik und die Alphabetisierung damit zu einem Aus­

druck der Kapazitäten des politischen Systems ge­

worden. Vergleicht man die Alphabetisierung in den letzten 115 Jahren mit der vor 1850 (vgl.CI- POLLA 1969), so hat die Geschwindigkeit dieses Mobilisierungsprozesses zweifellos zugenommen.

In Frankreich beispielsweise stieg die Alphabeti­

sierungsrate zwischen 1688 und 1818 von 21 % auf 46 % (FLEURY1959), in 130 Jahren also nur um 25 Prozentpunkte, und in England stieg sie zwischen 1758 und 1834 um nur 8 Prozentpunkte von 51 % auf 59 % (SARGANT 1867). Soweit die Ungenauigkeit der Daten überhaupt Schlußfolge­

rungen zuläßt, hat dieser Entwicklungsprozeß nach 1850 keine weitere Beschleunigung erfahren, wie ein Vergleich der Veränderungsraten, kontrolliert durch das Niveau der Alphabetisierung, zeigt23 (Tab. 6).

Tabelle 6:

Durchschnittliche Zunahme der Alphabetisierungsraten (in Prozentpunkten)

Im In den Ländern mit der durchschnittlichen Zeitraum Alphabetisierungsrate von

10-35% 35-60% 60-85%

1850-1870 5.7 12.2 9.4

1870-1890 10.0 18.3 11.7

1890-1910 9.9 15.1 11.6

1910-1930 15.2 16.3 9.6

1930-1950 14.0 16.1 8.8

1950-1965 9.3 11.8 10.0

Die Analyse der historischen Urbanisierungs- und Alphabetisierungsprozesse zeigt somit — mit allen bereits ausgeführten Einschränkungen — , daß die sich „verspätet“ modernisierenden Nationen im Durchschnitt durch eine stärkere Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten gekennzeichnet sind, ohne ihre Kapazitäten vergleichsweise zu vergrös- sern. Die Probleme der Kontrolle der Mobilisierung 23) Die Veränderungsraten müssen mit großer Vorsicht analysiert werden, da ihre Fehlerspannen wahrscheinlich sehr groß sind. Aus diesem Grunde wurde auch auf eine Korrelationsanalyse der Veränderungsraten verzichtet.

und der Institutionalisierung der politischen Parti­

zipation (vgl. das Schema auf S. 87) werden da­

mit zum Brennpunkt der theoretischen und empi­

rischen Analyse sowie zum Ansatzpunkt von Ent­

wicklungsstrategien .

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Abbildung

Tabelle I Urbanisierungsrate

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