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Paul Ernst Kahle
(1875—1964)
von Johann Fück, Halle
Paul Ernst Kahle wurde am 21. Januar 1875 in Hohenstein (Ost¬
preußen) als Sohn des Gymnasiallehrers und späteren Provinzialschul-
rates Professor Dr. theol. h.c. Ernst Wilhelm Kahle geboren. Vorgebildet
auf den Gymnasien in Allenstein, Tilsit und Danzig studierte er seit
Ostern 1894 in Marburg Theologie und vom 2. Semester ab auch Arabisch.
Diese Studien setzte er seit Oktober 1896 in Halle fort. Hier gewann
Praetorius entscheidenden Einfluß auf ihn, bei dem er Arabisch, Äthio¬
pisch, Hebräisch und Aramäisch trieb; bei Meissner las er Syrisch und
bei Jacob altarabische Dichter. Am 23. 4. 1898 wurde er auf Grund
einer Arbeit ,, Textkritische uud lexikalische Bemerkungen zum samari¬
tanischen Pentateuchtargum'" zum Doktor der Philosophie promoviert.
Diese Arbeit, die dem Nachweis dient, daß es kein offizielles samari-
tanisches Targum gegeben habe, weist bereits auf Kahles Hauptarbeits¬
gebiet, die Geschichte des hebräischen Bibeltextes und seiner alten
Targume und Versionen, hin. Im Oktober desselben Jahres bestand er
in Danzig das erste theologische Examen und verbrachte dann, mit
Handschriftenstudien beschäftigt, den Winter in Berlin. Von März bis
September 1899 war er in England und arbeitete in den Bibliotheken
von London, Cambridge und Oxford; dabei galt seine besondere Auf¬
merksamkeit den Fragmenten hebräischer Bibelhandschriften mit
supralinearer Punktation. Von Oktober 1899 bis September 1901 war
er Stipendiat am Predigerseminar zu Wittenberg. Nachdem er das
zweite theologische Examen abgelegt hatte, setzte er seine Studien ein
weiteres Jahr in Berlin fort. Am 2. August 1902 bestand er in Halle das
Lizentiatenexamen auf Grund einer Arbeit ,,Der masoretische Text des
Alten Testaments". Darin wies er nach, daß in dem Berliner ms. or. qu.
680 das Fragment einer babylonischen Bibelhandschrift vorliegt, welche
von später Hand nach der jemenitischen Weise überarbeitet worden ist,
und gab von dieser babylonischen oder östlichen Punktation die erste
genaue Beschreibung. Nach seinem Eintritt in den Kirchendienst war
er zunächst acht Monate als stellvertretender Pfarrer in Braila (Rumä¬
nien), sodann von September 1903 bis November 1908 in Kairo als
Pfarrer und Leiter der deutschen Schule tätig. Hier empfing er ent¬
scheidende Am'egungen für seine Beschäftigung mit dem Islam, wobei
ihn zunächst die volkstümlichen Züge, der Heiligenkult, der Aberglaube,
1 ZDMG llti/l
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die Zär-Beschwörung und das Schattenspiel anzogen. Zur Fortsetzung
seiner samaritanischen Studien besuchte er 1906 und 1908 die Samari¬
taner in Nablus und untersuchte dabei die Aussprache des Hebräischen
bei der Rezitation der Bibel. Nach Deutschland zurückgekehrt, habili¬
tierte er sich im Frühjahr 1909 bei Praetorius in Halle für das Fach der
Philologie der semitischen Sprachen mit einer Schrift ,,Zur Geschichte
des arabischen Schattentheaters", in der er einen ägyptisch-arabischen
Text bearbeitete. Im Herbst des gleichen Jahres nahm er an einem
Kursus des deutsch-evangelischen Instituts für Altertumskunde in
Jerusalem teil. 1911 war er zum zweitenmal in England. Er war jetzt
wieder mit der Untersuchung der Kairiner Genizafragmente mit supra¬
linearer Punktation beschäftigt — die Leningrader Fragmente wurden
ihm dank der Vermittlung P. Kokowzows nach Halle gesandt — und
legte die Ergebnisse seiner Forschungen 1913 in seinen , .Masoreten des
Ostens" vor. Hier hat er die Untersuchungen, die er 1902 an einer einzigen
Handschrift mit minutiöser Akribie durchgeführt hatte, mit der gleichen
Sorgfalt anhand der Fragmente von über fünfzig Handschriften fort¬
gesetzt und scharfsinnig die Probleme aufgezeigt, welche das babyloni¬
sche Punktationssystem im Hinblick auf die Überlieferung des hebrä¬
ischen Bibeltextes auf die Aussprache des Hebräischen der Forschung
stellt.
Während der beiden Semester, die ich seit dem Frühjahr 1913 in Halle
verbrachte, habe ich Kahles Einführung in das Studium des Talmud
gehört und an dem syrischen Kiu-sus teilgenommen. Gleich nach der
ersten Stunde nahm er mich mit in die Bibliothek der DMG, die er ver¬
waltete. Er war eine gesellige Natur; er hatte emen sehr großen Bekann¬
tenkreis und war bis ins höchste Alter em eifriger Briefschreiber. Er
befaßte sich mit seinen Studenten auch außerhalb der Vorlesungen, und
ich verdanke den Gesprächen mit ihm viel. Er zeigte mir das Berliner
ms.o.qu. 680 und erläuterte mir seine Bedeutung ; er gab mir Photokopien
von Genizafragmenten und leitete mich an, sie zu kollationieren. Vor
allem lernte ich, daß man zwar die Handschriften eines profanen Textes
nach gemeinsamen Fehlern, Auslassungen, Zusätzen und andern Äußer¬
lichkeiten klassifizieren imd dann mit Hilfe der Rezension und Emendation
versuchen kann, den originalen Text wiederherzustellen, daß aber dies
Verfahren bei den hebräischen Bibelhandschriften versagt; denn die
Einheitlichkeit des masoretischen Textes ist das Ergebnis eines viel¬
hundertjährigen Entwicklungsprozesses, bei dem bewußt alle noch be¬
stehenden Unterschiede beseitigt winden. Diese Einsicht in das Wesen
eines rezipierten kanonischen Textes leitete Kahle bei seinen Studien
über die Masoretenschulen des Ostens und des Westens ebenso wie bei
seinen Arbeiten über die Targume und die Septuaginta, die er als ein
Paul Ernst Kahle 3
Targum in griechischer Sprache zu verstehen gelehrt hat. Er besaß die
seltene Gabe, Probleme in Dingen zu sehen, die vordem unbeachtet ge¬
blieben oder in ihrer Bedeutung verkannt worden waren; es war dies
eine Fähigkeit, die er auch an seinem Lehrer Praetorius schätzte, von
dem er mit großer Wärme sprach. Hatte Kahle ein Problem gefunden, so
war er unermüdlich um seine Lösung bemüht, mochte ihn dies auch in
Sprach- und Sachgebiete führen, die weitab von seinem Ausgangspunkt
lagen ; und notfalls holte er sich bei einem zuständigen Fachmann Rat.
Dabei wußte er, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis zeitbedingt ist;
er war frei von jeder doktrinären Einseitigkeit und vertrug auch Wider¬
spruch. Er hatte frühzeitig die große Bedeutung erkannt, welche die von
ihm erschlossenen Handschriften mit babylonischer Vokalisation für die
hebräische Sprachgeschichte besitzen, und hat stets dem ,, vormasoreti¬
schen Hebräisch" und seinen Problemen große Aufmerksamkeit ge¬
schenkt. Dabei war er unter dem Einfluß der von E. Sievers aufgestellten
Theorie der althebräischen Metrik zu der Ansicht gekommen, daß das
Hebräische, wie es im masoretischen Text vorliegt, z.T. Züge aufweist,
die erst von den Tiberiensern geschaffen worden waren. Den Wider¬
spruch, den diese Ansicht hervorrief, nahm er gelassen hin und setzte sich
mit seinen Kritikern sachlich ausemander. Es bleibt Kahles Verdienst,
auf dies schwierige Problem hingewiesen und wichtiges Material dazu
gesammelt zu haben.
Im Sommer 1914 erhielt Kahle einen Ruf nach Gießen. Nach Schluß
des Sommersemesters fuhr er wieder nach Ägypten ; dort wurde er vom
Ausbruch des ersten Weltkriegs überrascht, geriet auf der Rückfahrt in
französische Gefangenschaft, wurde aber wieder freigelassen und kam
im Oktober in Gießen an. Hier konnte er als Ordinarius seine großen
organisatorischen Fähigkeiten entfalten. Trotz der Ungunst der Zeit
erreichte er bald, daß er eigene Seminarräume erhielt und daß zwei
Lektoren, der eine für Türkisch und der andere für Judaica, eingesetzt
wurden. Allmählich sammelte sich ein Kreis von Schülern, auch aus
dem Ausland, um ihn, deren Dissertationen von der Vielseitigkeit seiner
Lehrtätigkeit Zeugnis geben.
Der erste Weltkrieg hatte das Interesse an der Türkei und dem Vor¬
deren Orient, sowie an der Islam weit überhaupt, erheblich gesteigert,
und es wurden Stimmen laut, die eine Reform der orientalischen Studien
forderten; die einen verlangten eine stärkere Berücksichtigung des
modernen Orients; andere wünschten die Pflege bisher vernachlässigter
Disziplinen; wieder andere wollten die Orientkunde popularisieren. Der
damalige Staatssekretär im preußischen Kultusministerium C. H.
Becker erstrebte im Bunde mit andern einen Zusammenschluß der
verschiedenen Organisationen zu einem Verband für morgenländiscbe
!•
4 Johann Fück
Studien und stellte die DMG vor die Wahl, entweder in diesem Verband
aufzugehen oder aber sich zu reorganisieren, neue Statuten anzunehmen,
ihre Zeitschrift in ein Organ allgemeinen Inhalts umzuwandeln und da¬
neben zwei Fachzeitschriften, die eine für Indologie und Iranistik und
die andere für Semitistik, herauszugeben. Darüber kam es in zwei Mit¬
gliederversammlungen Ende 1920 zu heftigen Auseinandersetzungen;
in der stürmisch verlaufenden Versammlung am 9. Januar 1921 setzten
die Reformer ihre Forderungen in namentlicher Abstimmung durch.
Kahle, der zwar nicht zu den Urhebern der Reformpläne gehörte, aber
Änderungen in der Zusammensetzung des Vorstandes und in der Ge¬
schäftsführung für notwendig hielt, übernahm in dem neugebildeten
Vorstand das Amt des stellvertretenden Geschäftsführers. Da der
(erste) Geschäftsführer, Dr. Lüdtke, Leiter der Abteilung Trübner in der
Vereinigung Wissenschaftler Verleger, vor allem die immer schwieriger
werdenden buchhändlerischen Angelegenheiten zu betreuen hatte, so
wuchs Kahles Anteil an der sonstigen Geschäftsführung erheblich, und
schließlich tauschten 1927 Lüdtke und Kahle, der inzwischen nach Bonn
berufen worden war, ihre Ämter.
Kahle hat sich um die DMG als ihr Geschäftsführer große Verdienste
erworben. Er war maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt, die 1928
zur Schaffung und später zur Erhaltung der Zweigstelle in Stambul und
zur Begründung der Bibliotheca Islamica führten. Er nahm die mühevolle
Vorbereitung und Organisation der Orientalistentage auf sich und hielt
sie, wenn dies anderwärts nicht möglich war, in Bonn ab. 1934 übernahm
er auch die Redaktion der Gesellschaftspublikationen, beseitigte die
verfehlte Dreiteilung der Zeitschrift, deren Umfang dadurch sehr ge¬
sunken war, und erreichte, daß sie und die Abhandlungen für die Kunde
des Morgenlandes wieder in die Höhe kamen.
Die Universität Bonn, an die Kahle 1923 als Nachfolger Littmanns
berufen worden war, bot ihm weit größere Möglichkeiten, als er bisher
gehabt hatte. Unter seiner tatkräftigen Leitung nahm das Orientalische
Seminar einen großen Aufschwung. Schon nach wenigen Jahren habili¬
tierten sich bei ihm drei jüngere Gelehrte: W. Heffening, A. Sperber und
0. Spies. Er sorgte dafür, daß Arabisch und Türkisch und zeitweilig auch
Georgisch, sowie Armenisch diu-ch einheimische Lektoren vertreten
wurden. Seine arabischen Lektoren machte er zu seinen wissenschaft¬
lichen Mitarbeitern. Mit M. Mostafa gab er die Chronik des Ibn lyäs für
die Jahre 872—928/1468—1522 nach dem Autograph heraus; Taqi ad¬
Din al-Hiläli half ihm bei der Bearbeitung der Schattenspiele des Ibn
Däniyäl. Als Honorarprofessor für Islamkunde wirkte einige Zeit Zeki
Velidi Togan, der den Reisebericht des Ibn Fadlän bearbeitete. Ein be¬
sonderes Verdienst erwarb sich Kahle dadurch, daß er in vorausschauen-
Paul Emst Kahle 5
der Erkenntnis der Bedeutung Ostasiens im Rahmen der orientalischen
Studien sowohl chinesische wie auch japanische Gelehrte als Lektoren
oder Honorarprofessoren nach Bonn holte.
Auch in Bonn stand die Geschichte des hebräischen Bibeltextes und
seiner Versionen im Mittelpunkt von Kahles Forschungsarbeit. Mehrfach
reiste er nach England zum Studium von Genizafragmenten und hebrä¬
ischen Bibelhandschriften. Auf der ersten Reise 1925 konnte er auch
die Fragmente liturgischer Texte mit „palästinischer" supralinearer
Punktation untersuchen, die ihm bisher nur in Photokopien zugänglich
gewesen waren; er veröffentlichte sie 1927 samt einer Übersetzung im
ersten Band seiner ,, Masoreten des Westens". Unter den Abhandlungen
zur Geschichte der hebräischen Punktation im Westen, die diesen Band
eröffnen, befindet sich auch (S. 56—77; dazu die Lichtdrucktafeln
Nr. 17—38) eine Beschreibung von vierzehn aus dem 10.—12. Jahr¬
hundert stammenden hebräischen Bibelhandschriften, welche Kahle
ausgewählt hatte, als er im Herbst 1926 in der öffentlichen Bibliothek
zu Leningrad die außerordentlich reichen Sammlungen solcher Hand¬
schriften besichtigte. Mit größter Liberalität wurde ihm von den zu¬
ständigen Stellen gestattet, alle die Handschriften zu entleihen, die er
für seine Forschungen benötigte; darunter befand sich auch die Hand¬
schrift B 19A vom Jahre 1008 oder 1009, die den ganzen Bibeltext, so
wie ihn Ben Ascher konstituiert hatte, enthält; sie bildet (mit der Sigle
L) die Grundlage des masoretischen Textes, den Kahle in der dritten
Auflage von R.Kittels Biblia Hebraica (1929—37) abdrucken ließ. Da¬
mit ward der seit der zweiten Rabbinerbibel von 1524/5 herrschende
Text des Ben Chaiyim durch eine Textgestalt ersetzt, die etwa 400 Jahre
älter war. Kahle ließ auch die zu dem Ben Ascher-Text gehörende kleine
Masora mit abdrucken; dagegen ist sein Vorhaben, der Ausgabe in einem
Anhang die große Masora beizugeben, nicht mehr zur Ausführung ge¬
kommen.
Andere Arbeiten Kahles aus der Bonner Zeit zeigen sein stets waches
Interesse für das mittelalterliche Ägypten und seine Geschichte. So
führten ihn die Scherben chinesischen Porzellans in den Schutthügeln
bei Kairo auf das Problem des Porzellans in den islamischen Ländern ;
er untersuchte den Bericht des Maqrizi über die Schätze der Fatimiden ;
und diese wieder boten ihm Anlaß, auch das Steinbueh des Birünl in
den Bereich seiner Studien einzubeziehen. Sensationell wirkte sein
Hinweis, daß die 1929 in Stambul aufgefundene Seekarte des osmanischen
Seefahrers Piri Re'is vom Jahre 1513, den Atlantischen Ozean und
Amerika darstellend, auf der verschollenen Columbuskart.e von 1498
beruht. 1933 folgten ,, Untersuchungen über die nautischen Instru¬
mente der Araber im Indischen Ozean" und der wiehtige Hinweis auf
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„eine islamische Quelle über China um 1500: Das Khitaynäme des
'Ah Ekber."
Wie stark Kahle seine Schüler zu selbständiger Tätigkeit anzuregen
verstand, zeigt die stattliche Reihe der Dissertationen, die er in den von
ihm begründeten ,, Bonner Studien" veröffentlichte.
Diese reiche Tätigkeit kam im Frühjahr 1939 mit Kahles Emigration
nach England zu einem plötzlichen Ende. Über Kahles ablehnende
Stellung zum Nationalsozialismus konnte kein Zweifel bestehen. Unter
seinen Schülern waren viele Juden; und noch im Sommer 1938 stand
ihm bei der Herausgabe der Biblia Hebraica ein jüdischer Mitarbeiter
zur Verfügung. Andrerseits war er ein Gelehrter von internationalem
Ruf, dessen Verdienste allgemein anerkannt wurden. Ein Anlaß zu
einem ernsten Konflikt ergab sich erst, als Frau Kahle, als überzeugte
Christin, sieh entschlossen zeigte, die Erziehung ihrer fünf Söhne gegen
jeden Einfluß der Partei zu sichern. Die Hilfe, die sie mit ihrem ältesten
Sohn einer jüdischen Bekannten gewährte, deren Laden am 10. Novem¬
ber 1938 demoliert worden war, gab den örtlichen Parteistellen die
Möglichkeit zum Vorgehen. Kahle wurde sofort von seinem Amt suspen¬
diert, sein ältester Sohn relegiert. Kahle fuhr nach Berlin ins Ministerium,
aber als Ende Januar die Entscheidung des Ministers kam, die Kahles
Beurlaubung bis zum Ende des Sommersemesters mit anschließender
Emeritierung vorsah, war die Lage in Bonn für seine Familie so un¬
erträglich geworden, daß sie nur in der Emigration einen Ausweg sah.
Als erste begab sich Frau Kahle mit zweien ihrer Söhne über Holland
nach England ; die andern Söhne und Kahle folgten kurz darauf.
In England mußte Kahle für sich und die Seinen eine neue Existenz
aufbauen und nahm dankbar das Anerbieten von Sir Alfred Chester
Beatty an, die arabischen Handschriften seiner berühmten Sammlung
zu katalogisieren. Unter diesen Handschriften fand Kahle ein türkisches
Werk über Geographie, welches eine Beschreibung Chinas auf Grund
persischer Quellen enthielt, und hielt darüber im Januar 1941 in der
Iran Society einen Vortrag (Opera Minora 312—325), der weite Aus¬
blicke eröffnet. Um dieselbe Zeit veröffentlichte er neue Untersuchungen
über das Chinesische Porzellan in islamischen Ländern. Die Britische
Akademie — deren Mitglied er 1948 wurde — lud ihn ein, die Schweich
Lectures für das Jahr 1941 zu halten, die unter dem Titel The Cairo
Geniza 1947 im Druck erschienen.
Nach dem Krieg wurde Kahle in seine Rechte als Professor Emeritus
der Bonner Universität wieder eingesetzt; auch seine große Bibliothek,
die den Krieg überstanden hatte, wurde ihm zurückgegeben. Es war
psychologisch begreiflich, daß er, wie viele Emigranten, wieder dort an¬
knüpfen wollte, wo er seine Arbeit hatte unterbrechen müssen, ohne
Paul Emst Kahle 7
sich einzugestehen, daß ein solcher Wunsch unerfüllbar bleiben mußte.
Er hatte das englische Bürgerrecht erworben und behielt seinen Wohn¬
sitz in England bei. Von dort unternahm er oft Reisen nach Deutschland,
Frankreich, Italien und Spanien. In der Zeit von 1948 bis 1960 besuchte
er achtmal seine alte Universität Halle. Anfangs 1950 hielt er auf Ein¬
ladung der Universität Münster die ersten Franz-Delitzsch-Vorlesungen
über ,,die hebräischen Handschriften aus der Höhle" und wiederholte sie
in Hamburg, Kiel, Bonn und Bethel. 1953 wurde er in Münster Honorar¬
professor. Seinen 80. Geburtstag begmg er in Delhi auf einer Reise, die
ihn von Westpakistan nach Ostpakistan führte.
Die aufsehenerregenden Funde hebräischer Handschriften in der Höhle
vom Qumran im Sommer 1947 brachten eine glänzende Bestätigung
seiner These vom Werdegang des Bibeltextes; denn die beiden Jesaia-
rollen enthalten echte, d.h. sinnändernde Varianten und erweisen sich
dadurch als zwei der von Kahle postulierten vormasoretischen Text¬
formen, die vor oder neben dem offiziellen Bibeltext existierten, der
nach dem Untergang des jüdischen Staates von den Führern der Gemein¬
de konstituiert wurde und im Laufe der Jahrhunderte alle andern Text-
formen verdrängte. Mit den mannigfachen Fragen, die diese Hand¬
schriftenfunde aufweisen, hat sich Kahle nicht nur in den oben genannten
Vorlesungen, sondern auch später unablässig beschäftigt. Vor allem kam
es ihm darauf an, die Fortführung der von ihm so erfolgreich begonnenen
Untersuchungen zur Textgeschichte der hebräischen Bibel, ihrer Targume
und alten Versionen sicherzustellen. Jüngere Gelehrte, die auf diesem
Gebiet arbeiten, fanden in ihm einen stets hilfsbereiten Mentor und in
seinem Hause gastliche Aufnahme. In der zweiten, völlig neu bearbeiteten
und stark erweiterten Auflage seiner Cairo Geniza 1959 (eine deutsche
Übersetzung erschien 1961) gab er noch einmal einen weitgespannten
Überblick über den Ertrag seiner Forschungen. Gewidmet ist das Werk
dem Andenken seines Sohnes Paul Eric Kahle, der 1955 erst 31jährig
einer tückischen Krankheit erlegen war. 1963 siedelte Kahle nach
Düsseldorf über, bis zuletzt mit wissenschaftlichen Plänen beschäftigt.
Am 24. September 1964 verstarb er an den Folgen eines Hirnschlages.
Es hat Kahle nicht an Anerkennung gefehlt; viermal wurde ihm der
Doktortitel ehrenhalber verliehen ; er war Mitglied mehrerer Akademien
und Träger hoher Auszeichnungen. Die DMG wählte ihn 1952 zu ihrem
Ehrenmitglied. Zu seinem 60. Geburtstag wurden ihm 1935 die ,, Studien
zur Geschichte und Kultur des Nahen und Fernen Ostens" überreicht
und als Festgabe zum 21. 1. 1956 seine Opera Minora, die auch ein Ver¬
zeichnis seiner Schriften enthalten.
Historische Sprachvergleichung und ihre
typologische Ergänzung^
von K. H. Schmidt, Münster/Westf.
1. Historische Sprachvergleichung und Sprachtypologie
Historisehe Sprachvergleichung und Sprachtypologie können als die
grundlegenden Möglichkeiten sprachlicher Klassifizierung gelten*. Ziel¬
setzung und methodische Prinzipien sind bei beiden Forsohungsrichtun¬
gen absolut verschieden: Die historische Sprachvergleichung bemüht
sich um die Erforschung der genealogischen Zusammenhänge einer Spra¬
che. Ihre Aufgaben bestehen in der Feststellung von Spraohfamilien und
in der Rekonstruktion historisch unbelegter sprachlicher Einheiten. Die
Methode des historischen Sprachen Vergleichs ist an festes Material ge¬
bunden, das durch die belegten Einzelspraehen einer Sprachfamilie ge¬
stellt wird. Diese werden sowohl in Wortschatz und Grammatik mitein¬
ander verglichen als auch in ihrer jeweiligen Sprachgeschichte erforscht.
Die Spraehtypologie ist demgegenüber unhistorisch. Das Forschungs¬
ziel ist nicht wie bei der historischen Sprachvergleichung durch genealo¬
gische Verwandtschaft begrenzt. Vielmehr hat es durchaus universalen
Charakter. Beschreibung und Klassifizierung faktisch aller Sprachen der
Erde stehen im Mittelpunkt. Auch die Auswertung des sprachlichen
Materials weicht in grundsätzlichen Punkten von der Methode ab, wie
sie in der historischen Sprachforschung verwandt wird. Bei dieser kann
für die Rekonstruktion eines vorhistorisch existenten Spraehgebildes
mit konkretem Material in direktem Vergleich gearbeitet werden. Alt¬
indisches asvah ,, Pferd" und damit verwandtes lat. equus lassen sich bei¬
spielsweise auf eine rekonstruierte idg. Vorform *ehjos zurückführen.
Ganz anders liegen die Vorbedingungen bei der typologischen Klassifi-
' Antrittsvorlesung, gehalf en am 8. 5. 1965 in Münster.
^ Vgl. auch J. H. Greenberg, A Quantitative Approach to the Morphologi¬
cal Typology of Language (UAL 26, 1960, 178—194) S. 178; R. Jakobson,
Typological Studies and their Contribution to Historical Comparative Linguis¬
tics (Proceedings of the VIII International Congress of Linguists, Oslo 1958,
17—35) sprieht S. 19, J. H. Greenberg, Essays in Linguistics (Chicago
1957) S. 60 folgend, von ,,tho three cardinal methods of language classi¬
fication — genetic, areal, typological"; vgl. darüberhinausgehend P. Hart¬
mann, Zur Erforschung von Sprachtypen: Methoden und Anwendungen (II.
Fachtagung für Idg. und Allgemeine Sprachwissenschaft, Innsbruck 1961,
31—55), der S. 40 zwischen „lokalisierender", , .genealogischer". ,, klassifi¬
zierender" und „genereller" Typologie als ,, Sekundärmethoden" differen¬
ziert.