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Archiv "Ein Tag in der Spezialklinik" (30.07.1982)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Diagnose: Verdacht auf Nieren-Tbc

— Befund: Verkalkungen in der rech- ten Niere, Tierversuche bislang ne- gativ — Beschwerden: keine außer bei Nierenbeckenentzündung vor Monaten und bei Kälte in der rech- ten Flanke, jedoch unwesentlich.

„Es kann sein,

daß Sie etwas müde werden"

Nach monatelangen Untersuchun- gen — Röntgenaufnahmen, Sonogra- phie, Nieren-, Blasenfunktion — su- che ich eine Spezialklinik auf.

3 Uhr 30 morgens, duschen, sonst schlafe ich ein, ins Auto, zum Bahn- hof, gähnende Leere im Zug; 7 Uhr am Ort, „Hallo ein Taxi!", halb acht in der Klinik. Ich warte. Ein freundli- cher Arzt fragt mich, ob ich Frau B sei. „Ja!" „Sie kommen gleich rein."

Um 8 Uhr 10 liege ich unter dem Röntgengerät für Schichtaufnah- men. Ich mache darauf aufmerksam, daß ich jodhaltige Kontrastmittel nicht sonderlich vertrage. „Wir ge- ben eigentlich immer ein Antiallergi- kum." Dr. X setzt die Spritze an: „Es kann sein, daß Sie etwas müde wer- den!" Noch müder! Das fehlte mir!

„Was spritzen Sie?" Dr. X nennt mir ein Präparat, das ich nicht kenne und dessen Namen ich sofort ver- gesse. Mich würde die Zusammen- setzung interessieren. Könnte Kal- zium sein, vielleicht in Verbindung mit Kortison? Werden nicht trotz meiner Einwände zu viel Aufnahmen gemacht? Zwei zumindest sind gleich. Handelt es sich um einen neuen Apparat oder einen alten?

Wenig oder viel Strahlung?

Warten im Flur

Die prognostizierte Wirkung setzt ein. Ich bin todmüde. Ich sitze und warte, nachdem Urin für Tierversuch

Nr. 7 und 8 abgegeben ist. Der Flur, schlecht beleuchtet, ist zum Lesen ungeeignet, außerdem stören ge- nüßlich wiedergegebene Kranken- geschichten der Patienten zur Lin- ken, rechts unterhalten sich zwei Damen über Entkleidungsvorschrif- ten und -wünsche der einzelnen Ärz- te. Sehr wichtig! Die beiden würden sicherlich vor jedem nackten Mann aus dem Fenster springen. Ich ver- kneife mir meine Belustigung. Eine Frau wird im Bett in den Röntgen- saal gefahren. Sie sieht schlecht aus, aber nicht vom Tode ge- zeichnet.

Dann folgt das nächste Gespräch mit Dr. X. Ich betrachte erneut mein Innenleben. Wir messen die unter- schiedlich großen Nieren, betrach- ten Form und Verkalkungen. Dia- gnose: Tbc. Bleibt die Frage offen, ob ein aktiver Prozeß vorliegt.

Hat man mich vergessen?

Dann sitze ich passiv in einem karg eingerichteten Raum, das hygieni- sche Weiß nur unterbrochen durch die Farbe des Schreibtisches. Ich warte, warte auf die Schwester, die Katheterurin abnehmen soll. Es kommt niemand. Hat man mich ver- gessen? Ich frage im Sekretariat.

Nein, die Schwester wird noch ge- sucht. Nach, einer halben Stunde lie- ge ich wieder, betrachte die konzen- trierten Züge der Schwester. Sie macht ihre Sache gut. Ich möchte schlafen.

„Ich würde hier krank werden ... "

Eine freundliche Sekretärin fährt mich in ein Restaurant. Ich bestelle Frühstück, und mir wird wohler.

Jetzt einen Spaziergang machen!

Ich habe das Gefühl, wieder denken zu können.

Nebel liegt auf den Straßen. Die Feuchte des Nieselregens bemerke ich kaum. Im Wattenmeer sitzen Tausende von Möwen.

Trostlosigkeit! Der Ort hat die Atmo- sphäre einer verlassenen Goldgrä- berstadt. Muß eine Behandlung er- folgen und wird eine ambulante Be- handlung abgelehnt, werde ich ihn vorübergehend als mein Zuhause betrachten müssen, werde unter Leuten sein, die sich in ihrer Krank- heit masochistisch ausleben. Ich würde ein Rad mitnehmen, und si- cherlich gibt es einen Reitstall.

Mit anderen am Strand entlangrei- ten oder landeinwärts. Das würde sicherlich verboten. Ich werde es trotzdem tun. Ich würde hier krank werden, obwohl ich mich gesund fühle.

Zu Hause eine zehnjährige Tochter und keine Betreuung, ein Pferd, das eventuell unsachgemäß behandelt wird, einen Beruf, in dem ich als Selbständige wieder von vorn anfan- gen müßte, ein Mann, ein Kind, die ich nicht missen möchte. Trostlose Weite der grauen See. Selbst die Möwen schlafen!

Ich gehe zurück. Die Wassertropfen peitschen eisig ins Gesicht, die Ge- sichtsmuskulatur erstarrt zur Gri- masse. Meer, Cöte d'Azur, Grimaud, blauer Himmel, Mistral, die Biscaya und 40 m hohe Wassersäulen, Sturm in der Biscaya, Sturm auf Helgoland;

blauer Himmel, Blüten, Wolkenfet- zen, Brandung, Gischt.

Ich komme an einen kleinen Nadel- wald. „Wintermoor", schießt es mir durch den Sinn, „Davos, nein, Davos ist anders!" Thomas Mann, der Zau- berberg. Alles ist Vergangenheit. Es duftet nach Harz, ich atme tief durch. Meine Gedanken tragen mich in den Süden. Verkrüppelte Kiefern- wälder, Macchia, Korsika. Dort hatte ich fünf Wochen Vorfrühling ver- bracht, als mich die Niere vor Jahren plagte. „Kam ich zurück als ge- heilt?"

Durch den Wald gelange ich wieder zu den Anstaltsdüften: Desinfektion,

Ein Tag in der Spezialklinik

Empfindungen von Müdigkeit und lähmender Dumpfheit, steigende Aggressionen einer Betroffenen

Ausgabe B DEUTSCHES ARZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 30 vom 30. Juli 1982 49

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Zeichnung: Heinz Grot Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen

Ein Tag in einer Spezialklinik

Düfte aus der Küche, OP-Geruch, Kindheitserinnerungen: Fische im Aquarium der Apotheke, Zuschauen bei einer Operation.

Aggressionen steigen auf

Im Warteraum tummeln sich minde- stens zehn Patienten. Statt um 11 Uhr erscheint Dr. X um 11.30 Uhr.

Ich hole meinen „Henri IV" aus der Tasche und versuche zu lesen. Ne- ben mir begeistert sich ein alter Mann für Spanien, sein Zuhörer lä- chelt gequält, stellt geschwätzige Fragen, heuchelt Interesse. Ein Mitt- vierziger, mit auf graue Hosen und grau-blauen Pulli abgestimmten Ac- cessoires, rennt nervös auf und ab, ein Bundeswehrbediensteter starrt vor sich hin.

Es ist zwölf Uhr. Einer nach dem anderen wird aufgerufen. Meine Laune schlägt um in Müdigkeit, läh- mende Dumpfheit; gleichzeitig stei- gen Aggressionen auf. Kommen neue Patienten, grüßen sie leise, wenn überhaupt. Das Bewußtsein physischen Leidens und die An- staltsatmosphäre ersticken jegliches Leben.

Ein Gespräch kommt nicht auf Als ich in die Untersuchungsräume komme, entschuldigt sich Dr. X. Die Frage, ob ich Blasenspiegelungen kenne, bejahe ich. Die Schwester stempelt mich zur Ur-Großmutter ab, als sie vom „Leibchen anbehalten"

spricht. Ich bin nicht mehr in der Lage, mich darüber zu amüsieren.

Ich werde mit weißem Leinen bis zu den Fußspitzen bedeckt. Die Erklä- rung auf den Mummenschanz: „Da- mit wir Ihre schönen Beine nicht se- hen!", meint der Pfleger nach einge- hender Betrachtung. Ein Gespräch kommt nicht auf. Ich werde verlegen betrachtet und möchte nach Hause.

Dr. X untersucht. Sein Instrument ist eiskalt, seiner Miene ist nichts zu entnehmen. „Sie sind da unten ja schon operiert worden!" Vorwurfs- voller Ton. Aber es war nur ein Dammschnitt.

Unter Zeitdruck:

„Sie haben Glück gehabt."

Nach nochmaligem Warten und Blutabnahmen folgt das Abschluß- gespräch. Diagnose: Tbc, wahr- scheinlich ausgeheilt, verdrehtes

Rückgrat, leichte Blasen- und Ge- bärmuttersenkung. Es kommt zu ei- ner kurzen Unterhaltung, ich bemer- ke jedoch den Zeitdruck, unter dem Dr. X steht, außerdem habe ich ein Gefühl der Benommenheit. Ich will ein sachliches Gespräch nicht durch unnötiges Schwatzen verlängern oder verwässern und versuche noch einmal kurz, Art und Umfang über- standener Schmerzen zu umreißen.

Ich möchte auch sagen, daß ich mich in der Lage fühle, Schmerzur- sprünge zu „diagnostizieren", aber mir fehlt der Elan!

Wir kommen wieder auf Krankheits- verlauf und Geburt meiner Tochter.

Vor fünfzehn Jahren ein einziges Mal Tuberkulosebakterien im Harn, medikamentöse ambulante Behand- lung, vor zehn Jahren Geburt eines gesunden Kindes, Mutter gesund.

Dr. X kann es nicht glauben und meint, ich hätte viel Glück gehabt.

Dieser Überzeugung bin ich auch.

Die Zeit drängt. Im Warteraum sitzen die nächsten. Die Schwester sieht mich so traurig an, als ob sie eine Halbtote vor sich hätte. Dr. X muß sein „Pensum" schaffen. Ich spüre Unruhe, obwohl er sie sich nicht an- merken läßt. Nur — er führt das Ge- spräch so, wie ich in meinem Beruf Diskussionen beende. Wir verab- schieden uns. In dem Bewußtsein, ein Krüppel zu sein, verlasse ich die betretene Schwester und Dr. X, schlendere die öden Flure entlang.

Hatte man mir nicht schon zweimal im Leben ähnliche Hiobsbotschaf- ten gemacht: Vor dem Abitur wurde bei einer Reihenuntersuchung Lun- gen-Tbc festgestellt — ein Irrtum;

nach meiner Heirat wurden schwere Unterleibsschäden gefunden — wie- der ein Irrtum (Verwechslung mit ei- ner Bettnachbarin, am OP-Tag klärte sich alles auf). Sind heute Irrtümer ausgeschlossen?

Ich fühle mich kerngesund. Trotz- dem schmeckt mir auf der Rückfahrt die Zigarette nicht. Ich bin müde. Ich freue mich auf Mann und Tochter und alles, was mir lieb ist. Ein grauer Tag, dem ein sonniger folgen wird.

J. R. G. Buck

50 Heft 30 vom 30. Juli 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe B

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