• Keine Ergebnisse gefunden

Ungleichzeitigkeiten : von der Volkskunde zur empirischen Kulturwissenschaft

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Ungleichzeitigkeiten : von der Volkskunde zur empirischen Kulturwissenschaft"

Copied!
19
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Hermann Bausinger

Ungleichzeitigkeiten.

Von der Volkskunde zur empirischen Kulturwissenschaft

Früher mußte man Volkskundler nicht vorstellen. Noch in meiner Studienzeit fielen sie auf Kongressen dadurch auf, daß sie auftraten wie die Allegorien der longue durée mit soliden handgewebten, trachtenartigen Kleidern und Anzügen und oft auch mit der entspre- chenden 'Gesichtstracht', um einen Hellpachschen Begriff zu ver- wenden, nämlich mit rauschendem Vollbart und mit markigem Blick, also Hasenheideverschnitt. Wer heute mit einer solchen Kostümierung oder doch wenigstens mit einem eichblattbestickten Trachtenjanker auftritt, hat keine Gewähr, dadurch als Volkskundler definiert zu werden—möglicherweise hielte man ihn für einen erfolgreichen Frauenarzt oder einen postmodernen Be- triebswirt.

Mit diesem Zweifel bin ich schon beim Thema und seinen Tücken:

Ungleichzeitigkeiten. Ungleichzeitigkeiten wären leicht zu behan- deln, wenn es dafür einen sicheren Maßstab und unveränderliche Zuordnungen gäbe. Aber das Überholte drängt oft nach vorn. Die Fabel vom Hasen und vom Igel gehört zu den realistischsten Tier- geschichten unserer Zeit, und in unserer raschlebigen Epoche lan- den die, die sich antizyklisch verhalten wollen, oft sehr schnell im Konformismus. Gert Jonke hat das in seinem „Geometrischen Heimatroman" schon vor vielen Jahren angemerkt:

„Man geht meistens viel eher mit der Zeit / Indem man gegen die Zeit geht / In letzter Zeit ist es allerdings / Vielfach üblich geworden / Gegen die Zeit zu gehen / So daß das Gegendiezeitgehen zum Schluß / Ein Mitderzeitgehen wieder geworden ist / Deshalb gehen manche wieder mit der Zeit/ In des Wortes ursprünglichster Bedeutung/Um so wiederum auf ihre ganz eigene Art und Weise / Gegen die Zeit zu gehen eigentlich / Und vor allem um dadurch wiederum viel eher / Mit der Zeit gehen zu können."1 Gehen wir also mit der Zeit gegen die Zeit oder gegen die Zeit mit der Zeit und reden wir über Ungleich- zeitigkeiten.

(2)

„Ungleichzeitigkeit" bei Ernst Bloch

Ungleichzeitigkeiten: ich beziehe mich bei diesem Begriff auf Ernst Bloch. Vor ihm, davon habe ich mich in Wörterbüchern überzeugt, war dieses Wort kaum gebräuchlich. Jacob Grimm hat es einmal verwendet. Er sprach von der „Ungleichzeitigkeit der Quellen"2, warnte also davor, daß man Quellen aus verschiedenen Zeitepochen unkritisch nebeneinander stelle. Vielleicht ist das Wort ja auch in freimütigen Ratgebern zur sexuellen ehelichen Harmonie aufge- taucht, die durch Ungleichzeitigkeit gestört wurde. Aber die eigent- liche Färbunghat dieser Begriff doch erst durch Ernst Bloch bekom- men.

In den zwanziger Jahren, und zumal in der Krisenzeit um 1930, beginnt Bloch in kleinen Skizzen und Essays Situationen der Zeit zu charakterisieren. Später faßt er diese Aufsätze zusammen unter dem Titel „Erbschaft dieser Zeit". Darin ist das Moment des Un- gleichzeitigen ein ganz zentrales Element. Was meint Bloch damit?

Er meint mit Ungleichzeitigkeit eigentlich Gleichzeitigkeit. Ich mache diese kritische Anmerkung zu dem Begriff vorweg, um mich nachher unbefangen der Blochschen Terminologie bedienen zu können. Ungleichzeitigkeit als Gleichzeitigkeit: nämlich die Gleich- zeitigkeit ungleicher, durch verschiedene historische Valenzen bestimmter Elemente. Bloch charakterisiert diese Simultaneität heterogener Teile wie folgt: „Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein."3

Es geht also um die Ungleichzeitigkeit der Einstellungen und Lebensweisen, der Ideen und Ideologien, die gleichzeitig, im Jetzt, vorhanden sind. Im gleichen Abschnitt taucht bei Ernst Bloch der Name Hitlers auf, dem die Träger und Anhänger des unzeitigen Kurses in Massen zuströmen, weil er, so heißt es wörtlich, „für jeden gute alte Dinge malt."4 Das ist Blochs Pointe: das „unegale Verhältnis der Entwicklung", von dem schon Marx in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie gesprochen hatte6, wird von den demokratisch-sozialistischen Parteien verkannt, während die Par- tei, die sich anschickt, eine Terrorherrschaft zugunsten des Kapitals zu begründen, dazu gerade antikapitalistische Ressentiments mo- bilisiert. Sie greift — nunmehr in der Perspektive der Ungleich-

(3)

zeitigkeit — auf vorkapitalistische Bestände und Sehnsüchte zu- rück.

Bloch nennt drei Gruppen, deren unbewußte Nähe oder deren lautes Bekenntnis zum Ungleichzeitigen die nationalistische Bewegung stützt. Einmal „die Jugend, welche mit dem kahlen Jetzt in keinem gleichen Schritt und Tritt ist" und die sich mit ihrem bündischen Leben, statt sich nach vorwärts „ins Morgen" zu be- geben, „hemmungslos abseits im schönen Alten" ansiedelt.8 An zweiter Stelle das Bauerntum, das „im alten Boden und im Kreislauf der Jahreszeiten"7 haftet, das „mitten im wendigen kapitalistischen Jahrhundert älter placiert" ist8, und das deshalb der Reaktion zuneigt. Und schließlich vor allem die „verelendete Mittelschicht"9, das Kleinbürgertum, das „der feuchtwarme Humus für Ideologie"

ist10 und das in seiner Lähmung nach dem großen Mann schreit:

„Pfahlbürgerhaß gegen alles Treibende"11, Sehnsucht nach Größe und Ordnung.

Den Nazis gelang es, „die Traumgebiete der Phantasie konkret zu besetzen"12. Ihre Gewalt ging — auch — „von Metzgertänzen und rohester Folklore" aus13, sie kaschierten ihre Willkür mit „organi- scher" Notwendigkeit und speisten ihre menschenverachtenden Zukunfstvisionen aus Bildern einer verläßlichen Vergangenheit.

Sie, und nur sie, wußten das Ungleichzeitige, das Ältere, in dieser Weise zu nutzen.

Dieses Ältere charakterisiert Bloch einerseits als Zurückgeblie- benheit14, andererseits aber auch als „unaufgearbeitete Vergangen- heit"16, die subversive, ja utopische Elemente enthält. Es geht also gar nicht darum, überholte subjektive Ungleichzeitigkeiten auszu- nutzen, sondern es geht auch darum, aus objektiv ungleichzeitigen Resten herauszuholen, was darin an Momenten einer positiven, einer konkreten Utopie enthalten ist.18 Unter all den „schlechten Anachromismen" steckt für Bloch ein „echter, der zu raten auf- gibt"17, der also zu denken gibt. Bloch nennt in diesem Zusammen- hang „das relativ Lebendigere und Ganze früherer Beziehungen von Menschen"18, er spricht von dem relativ Unmittelbareren, das die vorkapitalistische Zeit charakterisierte19, und hieraus leitet er die Forderung ab, all das nicht einfach beiseite zu lassen oder beiseite zu schieben, sondern dieses bessere Alte gewissermaßen instandzu- besetzen und so einer menschlicheren Zukunft zuzuführen.

Blochs Überlegungen sind verwandt mit denen Walter Benjamins

(4)

oder auch Bertolt Brechts.20 Sie alle erkannten, daß der National- sozialismus seine Massenbasis nicht zuletzt auch durch die Ästhe- tisierung des Politischen erhielt, durch ein grandioses „Einfüh- lungstheater", wie es von Bert Brecht kritisiert wurde,21 während die andere Seite auf Rationalität allein pochte und durch notorische Unterernährung der Phantasie belastet war.22 Bloch stellte dabei am deutlichsten heraus, wie die neue Bewegung an alten Bewegun- gen anknüpfte, an jenen Träumen nach rückwärts, die vom Natio- nalsozialismus nicht erfunden werden mußten, an jener begründe- ten Nostalgie, die auch das gänzlich und gefährlich Neue als Erneue- rung erscheinen läßt: Ungleichzeitigkeit.

Volkskunde als Agentur des Ungleichzeitigen

Nun wäre es sicher ein Kurzschluß, die Blochsche Perspektive eine volkskundliche zu nennen. Aber eine Verbindung ist gegeben. Es ist eine Theorie des Ungleichzeitigen, die unausgesprochen auch ein Motiv der Volkskunde war.

Die Volkskunde, Ende des 18. Jahrhunderts entstanden, war zunächst einmal eine Ethnologie oder Ethnographie des eigenen Landes und Volkes.23 Sie steht zunächst in engem Verbund, in einer Parallele zur Völkerkunde. Wie diese die unbekannten Kulturen ferner Länder und Inseln erforscht, so die Volkskunde die un- bekannte Kultur des eigenen Volkes—und das heißt: die Kultur der unteren Schichten. Aber es ist kein Zufall und es ist auch nicht nur die Folge von praktisch-pragmatischen Überlegungen, daß sich die wissenschaftlichen Traditionen von Völkerkunde und Volkskunde bald trennten. Die beiden Disziplinen verloren sich nicht aus den Augen, aber ihre Wege kreuzten sich fortan doch relativ selten:

Das eigene Volksleben war eben doch etwas anderes als Volksle- ben überhaupt. Der Gedanke, daß aus der Erschließung dieses Le- bens, dieser Volkskultur, Impulse auf die Kultur überhaupt ausge- hen konnten, war hier lebendiger und näherliegend als in der exotischen Disziplin der Völkerkunde. Die Vergangenheit war hier

—absichtlich sage ich es mit einer Formulierung in den Blochschen Geleisen—in besonderer Weise uneingelöste Vergangenheit, deren Potenzen in die Gegenwart und die Zukunft verpflanzt werden sollten.

(5)

Zuerst wird dieser Gedanke ästhetisch umgesetzt. Die Entdek kung des Volksliedes (womit man, in den 70er Jahren des 18 Jahrhunderts, die Volkskunde beginnen lassen kann) ist einesteils ein Sich-Zurücktasten in die Vergangenheit, aber es ist andererseits ein Impuls für die Dichtung und auch für das Leben der Gegenwart.

Wo immer in jener Zeit Volkspoesie präsentiert wird, handelt es sich um eine Mischung von sorgsam Erforschtem und munter Neugestal- tetem.24 Das läßt sich an Arnims und Brentanos Sammlung „Des Knaben Wunderhorn" ebenso nachweisen wie an den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm oder noch an Unlands Volkslieder- sammlung.

Und dies gilt bald nicht nur für diesen engeren ästhetischen Bezirk. Man sucht ganz allgemein Relikte, in denen man Teile eines größeren Ganzen sieht, das es wiederherzustellen, das es wie- derzubeleben gilt. Relikte werden, so hat es Konrad Köstlin einmal ausgedrückt, zu Reliquien25—Reliquien einer zu erneuernden Re- ligion oder doch eines zu erneuernden Gemeinschaftslebens. Wie- derentdeckung und Wiederbelebung greifen ineinander, schaffen eine Gemengelage, die es immer schwieriger macht, zwischen dem unberührt Alten und dem Erneuerten zu unterscheiden. Wohl in keiner anderen Wissenschaft wird so viel von 'echt' gesprochen, und wohl in keiner anderen Wissenschaft ist es so schwierig, ja unmöglich, zwischen echt und unecht zu unterscheiden.

Dies mag noch einmal an einem Bloch-Beispiel vorgeführt wer- den, das deutlich macht, daß es nicht nur die Verblendung einiger in falscher Romantik schwelgenden Volkskundler war, die in diese Richtung lenkte, daß vielmehr auch Bloch in seiner Leidenschaft für das Uneingelöste mitunter auch dort noch Naturwahrheit unter- stellt, wo es sich um zweite oder dritte Natur (falls überhaupt!) handelt. Im „Prinzip Hoffnung" gibt es einen kleinen Abschnitt, der überschrieben ist: „Neuer Tanz und alter". Er setzt ein mit einer jener Passagen, die es leicht machen könnten, Bloch auf eine enge ideologische Perspektive festzulegen, eine Passage, die auch des- halb alarmiert, weil sie parallel zu nationalsozialistischen Blick- weisen verläuft:

„Wo freilich alles zerfällt, verrenkt sich auch der Körper mühelos mit. Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterbug, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn, mit einem ihm entsprechen-

(6)

den Gejaule, das die sozusagen tönende Begleitung macht. Solche amerikanische Bewegung erschüttert die westlichen Länder, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen."26

Dies ist die Negativfolie, von der sich für Bloch der wirkliche Tanz abhebt. „Aus dem gleichen Zerfall, der in breiten Kreisen den amerikanischen Unflat hervorbrachte", sei in engeren Kreisen „eine Art Reinigungsbewegung" entstanden: die neuen Tanzschulen samt ihren Reformtänzen.2 7 Und dann weist Bloch auf ein von diesen Schulen nicht entdecktes potentielles Vorbild hin, nämlich den Volkstanz:

„Er allein steht wirklich auf dem Boden, den der immer weiter verkommende bürgerliche Erholungstanz verloren hat. Und er braucht kein Kunstgewerbe, um sich der sogenannten Leibmitte zu erinnern, um gut in den Leib eingehängt zu sein. Die bäuerlichen Gebiete haben diesen Tanz, auch nach der kapitalistischen Ver- nichtung der Trachten, der Verwüstung der Festbräuche, noch lange erhalten; eine neue sozialistische Heimatliebe belebt ihn wieder und macht ihn wahr. Der Volkstanz ist überall national gefärbt und so überhaupt nicht, wenn er echt bleibt, übertragbar. Es sei denn als Zeuge und Maß jedes unverdorbenen, gruppenhaft gelingenden Aufbruchs von Trieb- und Wunschbildern. Ob deutscher Ländler, spanischer Bolero, polnischer Krakowiak oder russischer Hopak: die Form ist genau und verständlich, der bedeu- tete Inhalt ist Freude jenseits des Lasttags. (...) Jeder Volkstanz ist so Übereinstimmung, die Zeit der Gemeinwiesen, des Gemeinackers ist noch darin erinnert mitsamt uralten pantomimischen Formen."28

Solche Passagen ignorieren die spätere Kritik und Selbstkritik der Volkskunde. Sie wollen die Übernahme oberschichtlicher Mu- ster in Tracht, Volkstanz und Brauch nicht wahrhaben. Sie verken- nen die unlebendige Erstarrung einer überholten Form, sie ignorie- ren die bemühte Organisation, die nicht aus der Zeit der Allmende, sondern des bürgerlichen Vereinsrechts stammt, und sie übersehen vor allen Dingen die ideologische Manipulierbarkeit auch und gerade solcher Formen. Gewiß, Bloch operiert nicht raunend mit der Urzeit und schon gar nicht mit einem teutonischen Diluvium29, und doch erschrecken solche Passagen wegen ihrer Parallelität zu faschistischen Parolen, den negativ antiamerikanischen wie denen der positiven Volksideologie.

Ich kann hier nicht im einzelnen verfolgen, wie es zu dieser Feier 272

(7)

des (angeblich) Ursprünglichen bei Bloch kommt. Mir Eeht es um den quasi volkskundlichen Charakter der zitierten Passage Die i solchen Äußerungen sichtbar werdende Volksideologie gab der Volkskunde ihr Gesicht, freilich in nationaler Verengung und oft auch nationalistischer Zuspitzung, die Bloch fremd ist. Zu den Schlüsselzitaten des Faches Volkskunde gehört jene Feststellung, die Wilhelm Heinrich Riehl, ein einflußreicher Publizist, Romancier und Kulturhistoriker Mitte des letzten Jahrhunderts über die Bemühungen der wissenschaftlichen Volkskunde machte:

„Diese Studien über oft höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der Tat für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit."3 0

Das Zitat setzt ein wie eine funktionalistische Überwindung des am Detail haftenden Positivismus: nicht Sitten, Bräuche, Bauformen, Kleidungs- und Nahrungstraditionen, sondern — so hätte es Malinowski sagen können — ihr systematischer Zusam- menhang, das Zusammenspiel der Funktionen und das so entste- hende kulturelle Ganze. Aber Riehl fragt nicht nach dem Zusam- menspiel, nicht nach der Fügung des kulturellen Ganzen. Er setzt dieses vielmehr voraus in Gestalt der Volkspersönlichkeit, der Nation.

Diese Vorgabe bleibt prägend für die Volkskunde. Es entsteht ein Bedingungsverhältnis, ein Gefälle geradezu, zwischen dem positivi- stischen Sammeln und Registrieren und der nationalen Ideologie, und auch wer nur Daten zusammenträgt über alte Bräuche, Spiele, Reime, Lieder oder alte Häuser, Geräte, Schmuckformen, Trachten, Bilder, der steht mit einem Fuß immer im Bannkreis der nationa- listischen Ideologie—ob er will oder nicht, ob er es merkt oder nicht.

In den Museen werden Gegenstände der alten bäuerlichen Kultur, in Büchern Überlieferungen und brauchtümliche Formen dieser Kultur zusammengetragen, mehr und mehr interpretiert als der Bereich, in dem die deutsche Kultur am reinsten und unverfälschtesten zur Geltung kommt, fernab von den fremdkul- turellen Einflüssen, die die Hochkultur immer wieder umprägen.

Regionale Traditionen werden gesammelt, die an sich die Vielfalt der Formen und Variationen demonstrieren; aber sie werden oft fast

(8)

ausschließlich verstanden als Äußerungsformen der deutschen Stämme, die sich organisch, in blutsmäßiger Verbundenheit, zum Ganzen des Volkes fügen. Oder—ein letztes Beispiel —mit großem Eifer werden materielle Bestände und sprachliche Überlieferungen aus den Gebieten zusammengetragen, in denen eine deutschspra- chige Bevölkerung in fremdnationaler Umgebung lebt, aus der prinzipiell richtigen Überlegung heraus, daß sich in diesen Bevölkerungsgruppen besonders archaische Formen und Inhalte, seit der Auswanderung nämlich, gehalten hätten. Aber diese Sprachinselforschung rutscht eben doch sehr schnell in die Bahnen eines imperialen Nationalismus, der die Inseln wieder mit dem Festland verbinden möchte3 1; ein Teil der Forscher propagiert das selbst, ein anderer merkt offenbar den Zusammenhang kaum, stellt sich aber doch in den Dienst der Expansion.

Während in manchen anderen Disziplinen der Nationalismus quasi von außen einbrach, waren wesentliche Elemente der natio- nalsozialistischen Ideologie in der Volkskunde vorbereitet und an- gelegt.32 Dies heißt nicht, daß alle Volkskundler fanatisierte Nazis gewesen wären. Es heißt, daß in der Konstruktion des Faches so viel völkische Elemente eingebaut waren, daß wer immer unter diesem Dach zusammenfand, sich davon nur sehr schwer lossagen konnte.

Noch ausgesprochene Gegner des Nationalsozialismus, die sich beispielsweise aufgrund ihrer kirchlichen Orientierung vom Na- tionalsozialismus absetzten, strickten doch mit einem Teil ihrer volkskundlichen Aktivitäten an dessen Ideologien mit.

Zur Fachgeschichte der Nachkriegszeit

Dies charakterisiert die Ausgangslage im Jahr 1945; von hier aus sind vier Jahrzehnte volkskundlicher Forschung und Fachentwick- lung, die sich seither abgespielt haben, zu beurteilen. Wie ging es weiter mit dieser Wissenschaft?

Ich kann hier nicht alle Verästelungen verfolgen, ich kann auch nicht die jeweiligen örtlichen Konstellationen nachzeichnen, die an der einen Universität beispielsweise zur Liquidation des Faches führten, an anderen Universitäten zur fast unbehelligten Fortsetzung der Arbeit. Ich will mich hier auch nicht auf diejenigen 274

(9)

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konzentrieren, deren Vergangenheitsbewältigung darin bestand, daß sie weitermachten wie vorher. Ich will vielmehr drei Akzente setzen, will drei Tenden- zen der Nachkriegsvolkskunde charakterisieren, die auch in eine gewisse zeitliche Abfolge zu bringen sind, wobei es freilich genügend Überlappungen gibt.

Als erstes nenne ich eine Versachlichung der (kultur-)histori- schen Forschung. Das Pathos, in das vorher auch die nüchternsten Bestandsaufnahmen zu geraten drohten, war verabschiedet. Vielen Volkskundlern ging es jetzt um eine schlichte Dokumentation der kulturellen Vielfalt. Wo vorher spekulative Kontinuitätsannahmen eine Verbindung zwischen der jüngeren Vergangenheit und den alten Germanen hergestellt hatten, versuchte man jetzt, nachdem man in Archiven gesucht und gegraben hatte, die Befunde selber sprechen zu lassen. Und was vorher schnell in große kulturräumli- che Bewegungen eingeordnet worden war, war jetzt vor allem ein Zeichen regionaler Buntheit und Verschiedenheit. Die volkskundli- che Forschung war von ihren Anfängen an begleitet von der Formel:

.Andacht zum Unbedeutenden"33, die freilich schon in ihrer Entste- hungszeit, also der Romantik, daraufhinauslief, daß im Unbedeu- tenden ungeahnte Bedeutung steckte, daß die gesammelten Relikte sich eben zum Ganzen einer größeren Kulturwahrheit fügten, so, wie es auch in jenem Riehl-Wort intendiert war. Jetzt, nach dem Krieg und nach dem Nationalsozialismus, sollte das Unbedeutende wirklich relativ unbedeutend bleiben, Zeugnis lediglich für kulturel- le Vielfalt und kulturelle Schöpferkraft.

Die jüngeren Generationen haben später tadelnd registriert, daß in jenen Jahren (ja man kann sagen: in eineinhalb Jahrzehnten) keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Ideologie der NS- Volkskunde zustande kam. Dies ist zu tadeln, und sicherlich hat es auch mit fragwürdigen personellen Kontinuitäten und mit proble- matischen Rücksichtnahmen zu tun. Aber nicht nur: offenbar bestand ein Bedürfnis, sich einfach des Gegenstandes neu zu versi- chern und ihn versuchsweise zunächst einmal abzurücken von aller pathetischen, weiterreichenden Deutung.

Das zweite freilich, später einsetzend, war eine radikale Ideolo- giekritik. Eine Ideologiekritik, die nicht nur die expliziten national- sozialistischen Prämissen in Frage stellte, sondern die auch fragte, wo in der Vergangenheit Wege ansetzen und einsetzen, die in die

(10)

militant-inhumane Ideologie des Nationalsozialismus mündeten.3 4 Es ging also nicht nur um ausgeprägten Rassismus, sondern auch um heimliche Ethnozentrik. Es ging nicht nur um die Formierung und Uniformierung nationalsozialistischer Gemeinschaften, son- dern auch um die vorausgegangene Gemeinschaftsrhetorik, um Versuche, organische Sozialformen auszuspielen gegen entwickel- tere Gruppierungen eher zweckrationaler Prägung. Es ging nicht nur um die Plattheiten der nationalsozialistischen vorgeschichtlich- volkskundlichen Symbolforschung, sondern auch um andere (beispielsweise tiefenpsychologische) Versuche, Symbole aus ihrem spezifischen kulturellen Horizont zu lösen.

Im Zeichen dieser Ideologiekritik, in die selbstverständlich auch das Völkische, das Volk und das Volkstum einbezogen waren, kam es auch zu den zahlreichen Namensänderungen, die es heute zumin- dest Außenstehenden schwer machen, das — noch immer existie- rende — Fach als solches zu identifizieren. Neben den Begriff Volkskunde traten andere wie Europäische Ethnologie, Kulturan- thropologie oder Empirische Kulturwissenschaft — Begriffe, mit denen auch ein seriöserer methodischer Anspruch verbunden war.

Das dritte, das ich herausteilen möchte zur Charakterisierung der Nachkriegsvolkskunde, ist eine Tendenz, die zeitlich nicht ganz klar abgrenzbar ist von den beiden anderen, die sich aber doch im ganzen gesehen eher später durchsetzt: die Tendenz zur Er- forschung der gegenwärtigen Kultur. Der Kult des Vergangenen hing an hundert Ecken mit der nationalsozialistischen Ideologie zusammen; selbst eine scheinbar neutrale Charakterisierung altar- tiger kultureller Verhältnisse geriet leicht in den Bannkreis sozial- romantischer Vorstellungen. Deshalb ließ man zeitweilig diese Vergangenheit zurück und wandte sich entschieden der Gegenwart zu.

Aus dem Fluchtgepäck der Heimatvertriebenen aus den östlichen Provinzen sortierte man nicht mehr besonders archaische Stücke aus, die als Belege für eine versinkende Welt gelten konnten36; man fragte vielmehr nach dem Gebrauchswert des Mitgebrachten in der neuen Umgebung, nach Verschiebungen, die in der neuen Umwelt eingetreten waren. Man fragte also, am Beispiel der Sprache ver- deutlicht, nicht etwa nach einzigartigen Vokabeln und seltenen Dualformen in einem ostdeutschen Dialekt, sondern danach, wie die Angehörigen verschiedener Generationen, verschiedener Schichten

276

(11)

und Regionen in verschiedenen Situationen mit ihrem Dialekt umgingen und in welcher Weise sie sich der dominierenden neuen Sprechweise annäherten.

Da die Formen der altüberlieferten Volkskultur fast nur noch im verdünnten Aufguß oder in der nachgebesserten Färbung musealer Volkstumspflege zugänglich waren, wandte man sich auch auf diesem Gebiet bewußt der Gegenwart zu. Man fragte — dies war zunächst oft eine Behelfsbrücke aus der Vergangenheit — nach funktionalen Äquivalenten zu den früheren Erscheinungen und landete so bei der Trivialliteratur statt dem Märchen, beim Schlager anstelle des Volkslieds, bei industriell gefertigter Massenkunst statt der eigenen Feierabendkunst, bei den modischen Angeboten von Kleidern und Möbeln anstelle der haltbaren, überkommenen Trachten und Bauernmöbel, deren Haltbarkeit auch für die Volks- kundler etwas fragwürdig geworden war.36

Dies war übrigens kein fröhlicher Aufbruch in die Gegenwart.

Man sah diese Gegenwart geprägt durch die Kulturindustrie, die man oft im Zeichen Adornos und Horkheimers als hermetisch geschlossen verstand.37 Aber es war doch ein Versuch, das Ganze des Volkslebens und der Volkskultur auch für die Gegenwart zurückzu- gewinnen und sich nicht auf einen Ausschnitt zu beschränken, der durch Trachtenvereine und Bauernmöbel bestimmt und von einem modischen Rustico-Stil überlagert war. Was lange Zeit der alleinige Gegenstand der Volkskunde gewesen war, wurde jetzt oft mit dem Begriff des „Folklorismus" etikettiert und so einerseits der angebli- chen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit entrückt, andererseits aber auch weithin als Gegenstand ausgeschieden.38

Die Wiederentdeckung des Ungleichzeitigen

Im Blick auf die wissenschaftliche Entwicklung des letzten Jahr- zehnts (eines Jahrzehnts, das wiederum nicht plötzlich einsetzte und dessen Tendenzen sich teilweise mit älteren Tendenzen über- lappten) könnte man von der Wiederentdeckung des Ungleichzeiti- gen sprechen. Diese Wiederentdeckung betrifft sowohl die gegen- wartsorientierte wie die historische Forschung. Das Zusammen- spiel beider Bereiche kann am Beispiel der Dorfforschung angedeu- tet werden, wobei ich von Tübinger Arbeiten, den Untersuchungen

(12)

von Utz Jeggle39, Carola Lipp und Wolfgang Kaschuba40 ausgehen kann.

In ihrer Untersuchung dörflicher Gemeinden stellten diese Forscher fest, daß dort Normen herrschen, Vorstellungen dominie- ren und Werte vermittelt werden, die allesamt nicht aus der gegen- wärtigen sozialen Verfaßtheit der Gemeinden erklärt werden konn- ten, die vielmehr aus älteren Konstellationen und Strukturen des dörflichen Lebens stammen. Utz Jeggle hat einmal eindringlich formuliert: „Die Menschen leiden am Hunger ihrer Vorfahren."

Rigorose Erziehungspraktiken werden angewandt, die früher ein- mal lebens-, ja überlebensnotwendig waren; Sparsamkeitsrituale werden gehätschelt, die heute nur noch um ihrer selbst willen da zu sein scheinen; die dörfliche Hierarchie richtet sich, historisch bestimmt, nach der Größe des Grundbesitzes, obwohl inzwischen die meisten als Arbeiter, aber auch als mittlere und höhere Beamte und Angestellte ihr Geld verdienen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Auswirkung eines kulturellen Trägheitsgesetzes, sondern zumindest teilweise auch um den Ausdruck längerfristiger Er- fahrung. In den Krisenzeiten, die immer wieder über die Dörfer weggingen, war es eben der Grundbesitz, waren es die bäuerlichen Möglichkeiten, die auch für die Nichtbauern das Durchkommen garantierten. Es handelt sich also nicht nur um eigensinnige Sturheit, sondern um einen zu respektierenden Eigen-Sinn. Dieses Wort, mit Bindestrich geschrieben, taucht nun immer wieder auf41

— ich komme nachher noch einmal darauf zurück.

Ein zweites Bündel bilden jene historischen Untersuchungen, in denen — ganz im Sinne der Blochschen Forderung — nach unabgegoltenen historischen Traditionen gefragt wird. Am deut- lichsten kommt das zum Ausdruck in den Forschungen zur Arbeiter- kultur, die in der früheren Volkskunde bezeichnenderweise nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hatten. Forschungen zur alltäg- lichen Lebensweise42, zu den Arbeitervereinen, die die Aktivität der bürgerlichen Vereine konterkarierten, zum Arbeitersport, der dem sonstigen Vereinssport entgegengesetzt wurde43, zu bestimmten Formen der Fest- und Feierkultur. Aber auch aus dem Umkreis anderer Schichten wurden Elemente einer Kultur beigebracht, die im Widerspruch zu der dominierenden, der hegemonialen Kultur—

der feudalen erst und danach der bürgerlichen — standen. Diese Elemente der Protestkultur, von Katzenmusiken, die irgendeinem 278

(13)

Herrn oder Beamten gebracht wurden, bis zu fastnächtlicher Unbot- mäßigkeit, wurden lange Zeit eher übersehen, weil das Konstrukt der Volkskultur auch ein Beschwichtigungskonzept war, das soziale Gegensätze herunterspielte im Zeichen der einheitlichen nationalen Ausrichtung.46 Heute werden sie betont, manchmal fast schon über- betont, weniger bei den Volkskundlern als bei den Historikern, die diesen Alltagsbereich neu für sich entdeckt haben. Bei ihnen besteht die Neigung, diesen Protestbereich zu verabsolutieren und nur ihn als Volkskultur anzuerkennen, während es in Wirklichkeit eben auch viele Formen der Aneignung oberschichtlicher Normen, der Annäherung an andere Schichten gibt.46

Als drittes nenne ich in diesem Zusammenhang die neuerwachte Sensibilität für die kulturelle Eigenart von Minderheiten und kleinen Gruppen. Ich könnte hier noch einmal die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen erwähnen, bei denen die Akkulturation, der Weg der Eingliederung, lange Zeit im Mittelpunkt stand — wenn nicht überhaupt der Gegenstand preisgegeben wurde, weil man die Eingliederung vollzogen glaubte, weil man meinte, die Kategorie Flüchtling sei erledigt. Heute fragen Kulturwissenschaftler (und manche gehören selber der zweiten oder dritten Generation der Flüchtlingsfamilien an) danach, was aus dem anderen, das damals mitgebracht wurde, geworden ist, wie es noch immer Erinnerungen, Ängste, Träume, politische Attitüden und kulturelle Einstellungen bestimmt47, jenseits der gelegentlichen schlesischen Baudenabende und des donauschwäbischen Kirmesfestes (obwohl natürlich auch sie in diesen Zusammenhang gehören).

Weiterreichend und wichtiger noch ist diese Frage nach Kulturen in der Kultur im Blick auf die ausländischen Arbeitsimmigranten, deren spezifische Situation gerade auch als Ungleichzeitigkeit zu verstehen und zu respektieren ist.48 Die Kurden, die aus dem ana- tolischen Hochland in die Bundesrepublik kommen, haben nicht nur ein paar tausend Kilometer, sondern auch ein paar hundert Jahre zu überbrücken — das ist oft gesagt worden, und zumindest im Umkreis unseres Faches ist man weit davon entfernt, den zeitlichen Abstand in eine evolutionäre Skala einzuzeichnen und so zu kritisie- ren. Auch hier, gerade hier gilt das Wort vom Eigen-Sinn und von dem Uneingelösten, das auch im Älteren und Alten steckt.

(14)

Gefahren und Fallen

Diese jüngere Entwicklung, also eine ethnologische und ethnohisto- rische Wendung des Faches, hat durchaus zu respektablen Er- gebnissen geführt. Aber man sollte diese Entwicklung auch nicht immunisieren gegen Kritik; auch und gerade hier erscheint es notwendig, abschließend noch auf einige Gefahren und Fallen hinzuweisen.

Zunächst einmal nenne ich die Gefahr eines einseitigen Kultur- alismus. Es ist richtig, daß die Kultur in den jüngeren gesellschaftli- chen Überlegungen ein immer größeres Gewicht erhalten hat;

immer häufiger wird die Frage gestellt, ob das Wohlbefinden der Menschen als das Ziel einer humanen Gesellschaftspolitik sich nicht immer stärker abkoppelt vom materiellen Lebensstandard, ob es sich nicht immer stärker abkoppeln muß, weil materieller 'Fortschritt' indirekt in vielen Fällen Lebensqualität beeinträch- tigt.49 Aber das heißt natürlich nicht, daß sich Kultur abkoppeln ließe von gesellschaftlichen, von politisch-ökonomischen Vorausset- zungen.50

Den Eigen-Sinn des bäuerlichen Daseins verstehen ist eine Sa- che, das Dorf abkoppeln wollen von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung eine andere. Die Holzwege der Raumplanung, die auf eine immer stärkere Zusammenballung wirtschaftlicher Potenzen hinauslaufen, stärken letztlich nicht den dörflichen Eigen-Sinn, sondern zerstören die ganze dörfliche Welt.51

Auch das Pochen auf die kulturelle Identität der ausländischen Gruppen ist nicht ohne Problematik.52 Kulturelle Identität ist ja auch eines der rassistischen Argumente derjenigen, die um die deutsche Volksreinheit besorgt sind. Kulturelle Identität kann ein Tarnbegriff dominierender Gruppen sein, und kulturelle Identität kann auf die Fahne geschrieben werden, um soziale und ökonomi- sche Deklassierungen zu verbergen. Kulturelle Identität sollte je- denfalls nicht verabsolutiert werden. Oft muß gefragt werden, ob es nicht übergeordnete humane Maßstäbe gibt, die kulturell verbriefte Eigenheiten in Frage stellen. Das ändert nichts daran, daß die Vielfalt der Kulturen ein Wert in sich ist, daß also — vergleichbar der ökologischen Vielfalt der Arten — im Zweifelsfall immer für bedrängte Kulturen und Teilkulturen zu votieren ist.

Eine zweite Gefahr: Es könnte leicht übersehen werden, daß der 280

(15)

kulturelle Eigen-Sinn nicht nur als Protest gegen die „Kolonialisie- rung von Lebenswelten", um dieses vielzitierte Habermas-Wort53 auch hier zu erwähnen, interpretiert werden kann, sondern auch als Ausweichen, als Rückzug von der offenen, modernen Gesellschaft Die Fundamentalisierung des Denkens, die gerade auch durch den Zusammenstoß verschiedener Kulturen und Religionen zustan- dekommt, droht die Möglichkeit der Verständigung einzuschrän- ken. Eigen-Sinn kann durchaus militant werden.

Und schließlich: Eigen-Sinn, gerade auch kulturell akzentuierter Eigen-Sinn, kann hochfunktional sein gerade für die Instanzen, die alles Eigene ihren stromlinienförmigen Wünschen und Tendenzen gefügig machen wollen. Der Regionalismus bietet Beispiele dafür.

Hier wird die k u l t u r e l l e Regionalisierung vielfach gerade von den Kräften gestützt und unterstützt, die den Kapitalen—Kapitalen im doppelten Wortsinn — eine ungestörte Erschließung der Periphe- rien ermöglichen wollen. Dialekt, um es an diesem Beispiel zu zeigen, kann zur Formierung des Widerstands verwendet werden, aber in sich garantiert er solchen Widerstand keineswegs. Dialekt ist zähmbar, und manchmal geht die Rechnung auf, daß gerade die Leute, die auf den Dialekt pochen, ökonomisch-politisch fungibel bleiben. „Small is beautiful", sagte die Katze, als sie die kleinen Mäuse entdeckte...

Es sollte hier um Fachgeschichte gehen, die Geschichte eines kleinen, noch immer nicht allzu einflußreichen Faches, dem aber doch erhöhte Bedeutung zugewachsen ist. Je deutlicher wird, daß Kultur nicht als ausgrenzbare elitäre Freizeitzone verstanden werden kann, sondern daß sie etwas zu tun hat mit dem gesamten Lebensvollzug, daß sie eine Art Äquivalent zur Lebensqualität ist, um so wichtiger wird die theoretische und historische Besinnung auf Kultur.

Das Fach, von dem hier die Rede war, war lange Zeit ein Aschen- puttel. Aber bekanntlich sind die Prognosen für Aschenputtel gün- stig. In diesem Fall nicht deshalb, weil sich das Fach inzwischen mit goldenen Schuhen garniert hätte, sondern deshalb, weil die Alltags- kleidung auch in der Wissenschaft in Mode gekommen ist. Das Fach, das einmal charakterisiert war durch altertümelnde Belanglosig- keit, wird heute auch von gewichtigen Nachbardisziplinen gesucht und anerkannt. Wem verdankt es diese Entwicklung?

(16)

Ich hüte mich, Personen zu nennen. Es verdankt diese Entwick- lung der Tatsache, daß in unserer über weite Strecken vereinheit- lichten, uniformierten Gesellschaft die noch vorhandenen kulturel- len Differenzen immer wichtiger geworden sind. Anders gesagt: Es verdankt diese Entwicklung—Ungleichzeitigkeiten.

:

282

(17)

1 G e r t F . J o n k e : G e o m e t r i s c h e r H e i m a t r o m a n . F r a n k f u r t / M 1969 S 8 5

2 D e u t s c h e R e c h t s a l t e r t ü m e r , B a n d I , L e i p z i g 1922, 4 . A u f l S 275

3 E r b s c h a f t d i e s e r Z e i t . E r w e i t e r t e A u s g a b e F r a n k f u r t / M 1962 S 1 n ±

4 Ebd. '

5 G r u n d r i s s e d e r K r i t i k d e r p o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e ( R o h e n t w u r f ) . F r a n k - f u r t / M . , W i e n o . J . , S . 2 9 ; v g l . E r b s c h a f t d i e s e r Z e i t ( w i e A n m . 3 ) S 114

6 E b d . S . 1 0 6 .

7 E b d . S . 1 0 7 .

8 E b d . S . 1 0 8 .

9 E b d .

1 0 E b d . S . 1 0 9 .

1 1 E r n s t B l o c h : P o l i t i s c h e M e s s u n g e n . P e s t z e i t , V o r m ä r z . F r a n k u r t y M . 1 9 7 0 , S . 7 8 .

1 2 E b d . S . 3 2 1 .

1 3 E r b s c h a f t d i e s e r Z e i t ( w i e A n m . 3), S . 6 2 .

1 4 „ M a n w i r d d a r u m k e i n e ä l t e r e A r t d o r t s c h o n s e h e n w o l l e n , w o b l o ß e i n e z u r ü c k g e b l i e b e n e i s t . " E b d . S . 1 1 1 .

1 6 E b d . S . 1 1 7 , S . 1 1 9 .

1 6 V g l . e b d . S . 1 1 6 f.

1 7 E b d . S . 1 1 6 .

1 8 E b d . S . 1 2 0 .

1 8 E b d .

2 0 V g l . h i e r z u W o l f g a n g E m m e r i c h : * M a s s e n f a s c h i s m u s ' u n d d i e R o l l e d e s Ä s t h e t i s c h e n . F a s c h i s m u s t h e o r i e b e i E r n s t B l o c h , W a l t e r B e n j a m i n , B e r t o l t B r e c h t . I n : L u t z W i n c k l e r ( H g . ) : A n t i f a s c h i s t i s c h e L i t e r a t u r . P r o g r a m m e , A u t o r e n , W e r k e . B a n d 1 , K r o n b e r g 1 9 7 7 , S . 2 2 3 — 2 9 0 .

2 1 V g l . e b d . S . 2 6 9 .

2 2 V g l . O s k a r N e g t : E r b s c h a f t a u s U n g l e i c h z e i t i g k e i t u n d d a s P r o b l e m d e r P r o p a g a n d a . I n : E s m u ß n i c h t i m m e r M a r m o r s e i n . E r n s t B l o c h z u m 9 0 . G e b u r t s t a g . B e r l i n 1 9 7 5 , S . 1 2 .

2 3 V g l . H e l m u t M ö l l e r : A u s d e n A n f ä n g e n d e r V o l k s k u n d e a l s W i s s e n - s c h a f t . I n : Z e i t s c h r i f t f ü r V o l k s k u n d e 6 0 / 1 9 6 4 , S . 2 1 7 — 2 3 3 ; I n g e b o r g W e b e r - K e l l e r m a n n , A n d r e a s C . B i m m e r : E i n f ü h r u n g i n d i e V o l k s k u n d e / E u r o p ä i s c h e E t h n o l o g i e . E i n e W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e . S t u t t g a r t 1 9 8 5 .

2 4 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : D i e M ü h e n d e r E i n f a c h h e i t . Z u r M o d e l l i e r u n g d e s P o p u l ä r e n i n d e r L i t e r a t u r u m 1 8 0 0 . I n : D e u t s c h e A k a d e m i e f ü r S p r a c h e u n d D i c h t u n g , J a h r b u c h 1 9 8 5 , S . 1 3 — 3 6 .

2 5 R e l i k t e : D i e G l e i c h z e i t i g k e i t d e s U n g l e i c h z e i t i g e n . E t h n o l o g i a B a v a r i c a , H e f t 6 . W ü r z b u r g , M ü n c h e n 1 9 7 7 ( N a c h d r u c k a u s : K i e l e r B l ä t t e r z u r V o l k s k u n d e 5 / 1 9 7 3 , S . 1 3 5 — 1 5 7 ) , S . 4 .

2 8 D a s P r i n z i p H o f f n u n g . F r a n k f u r t / M . 1 9 5 9 , S . 4 5 7 .

(18)

2 7 E b d .

2 8 E b d . S . 4 5 8 .

8 8 V g l . e b d . S . 6 6 d i e K r i t i k a n C a r l G u s t a v J u n g s „ R e g r e s s i o n i n s D i l u - v i u m " .

3 0 D i e V o l k s k u n d e a l s W i s s e n s c h a f t . I n : G e r h a r d L u t z ( H g . ) : V o l k s k u n d e . E i n H a n d b u c h z u r G e s c h i c h t e i h r e r P r o b l e m e . B e r l i n 1 9 8 5 , S . 2 3 — 3 6 ( N a c h d r u c k a u s : C u l t u r s t u d i e n a u s d r e i J a h r h u n d e r t e n . S t u t t g a r t 1 8 5 9 , S . 2 0 5 — 2 2 9 ) , S . 2 9 .

3 1 I n g e b o r g W e b e r - K e l l e r m a n n ( H g . ) : Z u r I n t e r e t h n i k . D o n a u s c h w a b e n , S i e b e n b ü r g e r S a c h s e n u n d i h r e N a c h b a r n . F r a n k f u r t / M . 1 9 7 8 , v o r a l l e m S . 7 3 ff. u n d S . 1 2 5 ff.

3 2 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : V o l k s i d e o l o g i e u n d V o l k s f o r s c h u n g . Z u r n a - t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n V o l k s k u n d e . I n : Z e i t s c h r i f t f ü r V o l k s k u n d e 6 1 / 1 9 6 5 , S . 1 7 7 — 2 0 4 ; W o l f g a n g E m m e r i c h : Z u r K r i t i k d e r V o l k s t u m s - i d e o l o g i e . F r a n k f u r t / M . 1 9 7 1 .

3 3 S i e g e h t z u r ü c k a u f S u l p i z B o i s s e r e e . V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : F o r m e n d e r „ V o l k s p o e s i e " . B e r l i n 1 9 8 0 , 2 . A u f l . , S . 2 8 .

3 4 V g l . h i e r z u W o l f g a n g E m m e r i c h ( w i e A n m . 3 2 ) .

3 5 C h a r a k t e r i s t i s c h d e r T i t e l e i n e r S a m m l u n g „ A l t e r d e u t s c h e r V o l k s w e i - s e n v o m B ö h m e r w a l d b i s z u r W o l g a " , h g . v o n J o h a n n e s K ü n z i g : „ E h e s i e v e r k l i n g e n . . . " . F r e i b u r g 1 9 5 8 , 2 . A u f l . 1 9 5 9 .

3 8 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : V o l k s k u l t u r i n d e r t e c h n i s c h e n W e l t . N e u a u s g a b e F r a n k f u r t / M . 1 9 8 6 .

3 7 V g l . b e i s p i e l s w e i s e T h e o d o r W . A d o r n o : R e s u m e ü b e r K u l t u r i n d u s t r i e . I n : O h n e L e i t b i l d . P a r v a A e s t h e t i c a . F r a n k f u r t / M . 1 9 6 7 , S . 6 0 — 7 0 .

3 8 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : F o l k l o r i s m u s u n d K u l t u r i n d u s t r i e . I n : H e r - m a n n B a u s i n g e r : V o l k s k u n d e . V o n d e r A l t e r t u m s f o r s c h u n g z u r K u l - t u r a n a l y s e . T ü b i n g e n 1 9 8 2 , 3 . A u f l . , S . 1 9 5 — 2 0 9 .

3 8 K i e b i n g e n — e i n e H e i m a t g e s c h i c h t e . Z u m P r o z e ß d e r Z i v i l i s a t i o n i n e i n e m s c h w ä b i s c h e n D o r f . T ü b i n g e n 1 9 7 7 .

4 0 D ö r f l i c h e s Ü b e r l e b e n . Z u r G e s c h i c h t e m a t e r i e l l e r u n d s o z i a l e r R e p r o - d u k t i o n l ä n d l i c h e r G e s e l l s c h a f t i m 1 9 . u n d f r ü h e n 2 0 . J a h r h u n d e r t . T ü b i n g e n 1 9 8 2 .

4 1 D a b e i h a n d e l t e s s i c h k e i n e s w e g s n u r u m e i n e T ü b i n g e r W e n d u n g ; ü b e r - h a u p t e r f o l g t d i e K o n z e n t r a t i o n a u f T ü b i n g e r B e i s p i e l e i n e r s t e r L i n i e g e w i s s e r m a ß e n n u r a u s G r ü n d e n d e r A u t h e n t i z i t ä t .

4 2 I c h n e n n e j e w e i l s n u r e i n B e i s p i e l . H i e r z u v g l . H a n s - J o a c h i m A l t h a u s u . a . : D a i s t n i r g e n d s n i c h t s g e w e s e n a u ß e r h i e r . D a s V o t e M ö s s i n g e n ' i m G e n e r a l s t r e i k g e g e n H i t l e r . G e s c h i c h t e e i n e s s c h w ä b i s c h e n A r b e i t e r - d o r f e s . B e r l i n 1 9 8 2 .

4 3 V g l . K l a u s S c h ö n b e r g e r : D i e A r b e i t e r t u r n - u n d A r b e i t e r s p o r t b e w e g u n g i m e h e m a l i g e n O b e r a m t M a r b a c h / N e c k a r 1 9 0 0 — 1 9 3 3 . M s c h r . T ü b i n -

(19)

g e n 1 9 8 6 .

4 4 V g l . G o t t f r i e d K o r f f : „ H e r a u s z u m e r s t e n M a i " . I n : R . v a n D ü l m e n , N . S c h i n d l e r ( H g . ) : V o l k s k u l t u r . Z u r W i e d e r e n t d e c k u n g d e s v e r g e s s e n e n A l l t a g s ( 1 6 . b i s 2 0 . J a h r h u n d e r t ) . F r a n k f u r t / M . 1 9 8 4 , S . 2 4 6 — 2 8 1 .

4 5 V g l . W o l f g a n g K a s c h u b a : M y t h o s o d e r E i g e n - S i n n ? „ V o l k s k u l t u r " z w i - s c h e n V o l k s k u n d e u n d S o z i a l g e s c h i c h t e . I n : U t z J e g g l e u . a . ( H g . ) : V o l k s k u l t u r i n d e r M o d e r n e . P r o b l e m e u n d P e r s p e k t i v e n e m p i r i s c h e r K u l t u r f o r s c h u n g . R e i n b e k 1 9 8 6 , S . 4 6 9 — 5 0 7 .

4 6 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : T r a d i t i o n e l l e W e l t e n . K o n t i n u i t ä t u n d W a n - d e l i n d e r V o l k s k u l t u r . I n : H i s t o r i s c h e Z e i t s c h r i f t 2 4 1 / 1 9 8 5 , S . 2 6 5 - 2 8 6 .

4 7 V g l . K a r i n K l u t h : D i e V e r a r b e i t u n g d e r I d e n t i t ä t s - u n d I n t e g r a t i o n s - p r o b l e m e d e r d e u t s c h e n H e i m a t v e r t r i e b e n e n i n d e r z w e i t e n G e n e r a t i o n . I n : J a h r b u c h f ü r o s t d e u t s c h e V o l k s k u n d e , B a n d 2 8 / 1 9 8 5 , S . 2 8 9 — 3 1 7 .

4 8 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r ( H g . ) : A u s l ä n d e r — I n l ä n d e r . A r b e i t s m i g r a - t i o n u n d k u l t u r e l l e I d e n t i t ä t . T ü b i n g e n 1 9 8 6 .

4 8 V g l . D i e t e r K r a m e r : K u l t u r i n d e n K r i s e n u n s e r e r Z e i t . I n : F r e i z e i t p ä d a g o g i k 8 / 1 9 8 6 , H . 1 — 2 , S . 1 6 — 2 6 .

5 0 E b d . S . 1 6 : „ K u l t u r s o l l , s o s c h e i n t e s , d e r S c h o p f w e r d e n , a n d e m d i e m o d e r n e n I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t e n s i c h a u s d e m S u m p f d e r s e l b s t p r o - d u z i e r t e n K r i s e z i e h e n w o l l e n . "

5 1 V g l . E c k a r t F r a h m ( H g . ) : D o r f e n t w i c k l u n g . T ü b i n g e n 1 9 8 7 .

5 2 V g l . H e r m a n n B a u s i n g e r : K u l t u r e l l e I d e n t i t ä t — S c h l a g w o r t u n d W i r k - l i c h k e i t . I n : A u s l ä n d e r — I n l ä n d e r ( w i e A n m . 4 8 ) , S . 1 4 1 — 1 5 9 .

5 3 S t i c h w o r t e z u r ' G e i s t i g e n S i t u a t i o n d e r Z e i t ' . E i n l e i t u n g , 1 . B a n d 1 9 7 9 , S . 7 — 3 5 ; h i e r S . 2 8 .

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Originalveröffentlichung in: Die neue Südtiroler Tageszeitung (Bozen), Tageszeitung am Sonntag vom

In kleineren und zum Teil auch mittleren Unternehmen können Abteilungen zusammengela- gert sein (zum Beispiel Management mit Personalabteilung oder IT mit Hardwareadministration und

Gewissen unterworfen. Andere Bezeichnungen sind: Volksvertreter, Parlamentarier der Landtag: Das Parlament eines Bundeslandes in Deutschland; der Landtag befindet sich in

Mit Konjunktionen kann man Sätze miteinander verbinden. Einige Konjunktionen, wie um, ohne und zu, verwendet man mit Infinitiv. Der Infinitiv ist die Grundform eines Verbs mit

klärung nachlieferte, wie diese zu kolorieren seien.10 Schließlich ließ sich die Publikation eines neuen Zeichenbuchs nicht nur durch Bezug auf große Vorläufer, sondern auch durch

Im Kontext der Evaluation des HzV-Projektes wurde die persönliche Einschätzung der HÄ zur Delegation von Aufgaben (generell, nicht nur HB) an die VERAH ® erhoben. Jeweils

Die Sozialdemokraten klagten über Man- gel an Papier für Publikationen; die Kommunisten hatten reichlich davon.. Vor allem durften sie ihre früheren Suborganisationen nicht

Wie aber können Ärztinnen und Ärzte der Verantwortung für die eigene Gesundheit tatsächlich gerecht werden, wenn sie ständig unter hohem Zeitdruck arbeiten müssen, wenn sie