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Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 51–52½½½½24. Dezember 2001 AA3443
Gehörschäden durch Silvester-
Feuerwerkskörper
Stefan Plontke, Hans-Peter Zenner Editorial
L
ärm kann krank machen und insbe- sondere irreversible Hörschäden verursachen (3). Dies gilt auch für Feuerwerkskörper, die an Silvester ent- zündet werden. Die von ihrem Ge- brauch ausgehenden Gefahren und Schädigungshäufigkeiten werden weit- hin unterschätzt.Impulslärm erzeugt Knall- und Explosionstraumata
Knall- und Explosionstraumata durch Feuerwerkskörper werden durch Im- pulslärm (Lärm mit Schalldruckspit- zen) hervorgerufen. Kurze Schallim- pulse von Feuerwerkskörpern – gezün- det in einem Abstand von 2 m – können Spitzenpegel von 145 bis über 160 dB Schalldruckpegel (SPL) erreichen (9).
Bei öffentlichen Feuerwerken werden in unmittelbarer Umgebung Spitzenpe- gel von bis zu 190 dB und bei weiter ent- fernten Beobachtungsabständen von circa 150 dB gemessen (4). Die auch an Silvester missbräuchlich verwendeten Signal- und Schreckschusspistolen er- reichen in Abhängigkeit von der Ent- fernung und vom Winkel der Waffen- mündung zum Ohr Spitzenpegel um 160 dB bis maximal 181 dB SPL (8). Im- pulslärm ist gehörgefährdender als Dauerlärm (5). Bei einer Impulsdauer von weniger als 25 ms nimmt die Laut- stärkeempfindung stark ab, da Lautstär- ke subjektiv aus einer Kombination von Schalldruckpegel und Zeitdauer be- stimmt wird. Bei Impulslärm, wie er durch Knallkörper erzeugt wird, ist das
Ohr deshalb gehörschädigenden Schall- druckpegeln ausgesetzt, ohne dass dies als solches empfunden oder wahrge- nommen wird. Zusätzlich wird die Wahrnehmung der gehörschädigenden Lautstärke noch durch die positi- ve Grundstimmung beim Neujahrsfest herabgesetzt.
Mehr als 8000
Innenohrverletzungen zum Neujahrsfest
Im Rahmen einer prospektiven Unter- suchung wurden in insgesamt 562 für Deutschland repräsentativen Studien- zentren epidemiologische und audiolo- gische Daten von Patienten mit Gehör- schäden durch Silvester-Feuerwerks- körper zum Jahreswechsel 1999/2000 erhoben (6). Nach Hochrechnung der erfassten Patienten auf die Anzahl der diensttuenden HNO-Kliniken und HNO-Praxen in Deutschland wurde ei- ne Gesamtzahl von 8 160 Patienten ge-
schätzt (95 Prozent Konfidenz- intervall: 7 515 bis 8 805).
Die absolute Inzidenz betrug 9,9 Fälle pro 100 000 Einwoh- ner. Männliche Patienten wa- ren dreimal häufiger betrof- fen als weibliche und im Al- tersdurchschnitt jünger (Me- dian: männlich: 22 Jahre, weiblich: 25 Jahre). 59 Pro- zent der Patienten war unter 25 Jahre alt. Für die Alters- gruppe der 6- bis 25-Jährigen ergab sich eine deutlich größere Inzidenz (28 pro 100 000) mit einem Maximum von 107 Betroffenen pro 100 000 Einwohner bei den 19-jährigen jungen Männern. Circa 69 Prozent aller Patienten klagten über ei- ne zumindest einseitige subjektive Hör- minderung. In 84 Prozent aller Fälle war Tinnitus begleitendes oder Haupt- symptom. Fünf Prozent aller Fälle wa- ren von einer einseitigen und ein Pro- zent von einer beidseitigen Trommel- fellperforation betroffen. Die Hörschä- den wurden auch auf der Basis von Hörtests (Audiogramme) ausgewertet.
Bei 79 Prozent aller Patienten, bei de- nen ein Audiogramm vorlag und die keinen vorbestehenden Hörschaden in der Anamnese angaben, war ein zumin- dest einseitiger Hörverlust nachweisbar (Median: 30 dB bei 4 und 6 kHz). Bei 52 Prozent der Patienten war dieser Hör- verlust noch ausgeprägter (Median: 40 dB). Den Resultaten einer vergleich- baren Pilotstudie 1998/1999 zufolge scheint die absolute Zahl dieser Trau- mata unabhängig von den Ereignissen der Jahrtausendwende zu sein (7).
Die für Deutschland berechneten, absoluten, administrativen Inzidenzen
Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (Direktor:
Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hans-Peter Zenner), Univer- sitätsklinikum Tübingen
basieren auf der Annahme, dass Patien- ten mit einem akustischen Trauma durch Feuerwerkskörper oder Signalpi- stolen innerhalb von zwei Wochen (Stu- dienzeitraum) von einem Hals-Nasen- Ohrenarzt oder einer entsprechenden Fachabteilung behandelt werden. Nicht berücksichtigt sind alle die Patienten, die zwar einen Gehörschaden nach Ex- position mit Feuerwerkskörpern davon getragen, sich aber nicht in ärztliche Be- handlung begeben haben. Hier scheint die Dunkelziffer vor allem bei Kindern und Jugendlichen groß. Zum anderen wurden zum Beispiel Hörschäden, die oberhalb der routinemäßig gemesse- nen Audiogrammfrequenzen auftreten, nicht erfasst (1).
Sozio-medizinisches Problem mit Handlungsbedarf
für die Präventivmedizin
Die vorliegenden epidemiologischen Daten verdeutlichen die nicht zu unter- schätzende sozio-medizinische Bedeu- tung von Gehörschäden durch Silve- ster-Feuerwerkskörper. Mehrere tau- send Personen erleiden jedes Jahr in Deutschland eine Innenohrverletzung durch ein solches Knall- oder Explosi- onstrauma. Während sich die Hör- schwelle in einem Teil der Fälle wieder erholt, bleibt bei anderen eine dauer- hafte Hörminderung bestehen. Auch wenn keine subjektive oder objektive Verschlechterung der Hörschwelle die Folge des Traumas ist, so leidet eine nicht unerhebliche Zahl von Personen an dauerhaften Ohrgeräuschen (Tinni- tus). Die für Deutschland geschätzte In- zidenz von in einem kurzen Zeitraum um Silvester hervorgerufenen Innen- ohrverletzungen durch Feuerwerks- körper ist etwa genauso hoch wie die Inzidenz von innerhalb eines gesamten Jahres in Ländern der westlichen Welt auftretenden Hörstürzen (2).
Unsere Gesellschaft ist durch zahl- reiche Berufe gekennzeichnet, bei de- nen Kommunikation eine essenzielle Voraussetzung darstellt, die wiederum ohne ein gutes Hörvermögen nicht denkbar ist. Aufgrund der medizini- schen, psychologischen und gesund- heitsökonomischen Folgen ist der Schutz vor einer medizinisch unheilba-
ren Gehörschädigung eine wichtige Aufgabe der Präventivmedizin. Die deutlich erhöhte Inzidenz von Gehör- schäden durch Silvester-Feuerwerks- körper in der Gruppe der männlichen Kinder, Jugendlichen und jungen Er- wachsenen trifft auf die ohnehin pro- minente Gefährdung dieser Bevölke- rungsgruppe durch andere Arten des Freizeitlärms, wie zum Beispiel durch elektroakustisch verstärkte Musik (tragbare Musikabspielgeräte, Disko- theken und Musikgroßveranstaltun- gen) (10, 11). Ein wichtiger Ansatz zur Vermeidung dieser Gehörschäden liegt in der besonderen Berücksichtigung dieser Zielgruppe bei der Aufklärung über die besondere Gesundheitsgefähr- dung durch Impulslärm durch Feuer- werkskörper und Signalpistolen, bei der Eltern, Lehrer, Ärzte, Leiter von Jugend- und Sozialeinrichtungen und Medien zusammenarbeiten sollten.
Danksagung: Die vorliegenden epidemiologischen Daten für Deutschland sind das Ergebnis der Datensammlung von circa 800 Ärzten aus 31 HNO-Universitätskliniken, 87 HNO-Abteilungen Städtischer Krankenhäuser und 444 HNO-Praxen in Deutschland. Die Liste aller an der Daten- sammlung beteiligten Kliniken und Ärzte ist erhältlich bei den Autoren oder im Internet unter: http://www.medi- zin.uni-tuebingen.de/hno/gehoerschaeden_feuerwerks- koerper.htm.
Wir danken Prof. Dr. rer. nat. Klaus Dietz, Direktor des In- stitutes für medizinische Biometrie der Universität Tübin- gen, für die biometrische Betreuung der epidemiologi- schen Untersuchungen und Herrn C. Pfeffer, der maßgeb- lich an der Erstellung der Datenbank beteiligt war.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3443–3444 [Heft 51–52]
Literatur
1. Axelsson A, Hamernik RP: Acute acoustic trauma.
Acta Otolaryngol (Stock) 1974; 104: 225–233.
2. Byl FM: Sudden hearing loss: Eight years experience and suggested prognostic table. Laryngoscope 1984;
94: 647–661.
3. Deutsches Grünes Kreuz, Marburg (http://www.
dgk.de).
4. Maglieri DJ, Henderson HR: Noise from aerial bursts of fireworks. J Acoust Soc Am 1973; 54: 1224–1227.
5. Pfander F: Das Knalltrauma. Berlin, Heidelberg: Sprin- ger 1975.
6. Plontke S, Dietz K, Pfeffer C, Zenner HP: Hearing loss due to New Year's firecrackers. A prospective epide- miological study on the absolute incidence of blast and explosion trauma during the Millennium celebra- tion in Germany. Abstract 72. Jahrestagung der Deut- schen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie. Eur Arch Otorhinolaryngol 2001; 258: 417.
7. Plontke S, Herrmann C, Zenner HP: Gehörschäden durch Silvester-Feuerwerkskörper. HNO 1999; 47:
1017–1019.
8. Rothschild MA, Dieker L, Prante H, Maschke C: Schall- druckspitzenpegel von Schüssen aus Schreckschuss- waffen. HNO 1998; 46: 986–992.
9. Smoorenburg GF: Risk of noise-induced hearing loss following exposure to Chinese firecrackers. Audiolo- gy 1993; 32: 333–343.
10. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer:
Gehörschäden durch Lärmbelastungen in der Freizeit.
Dt Ärztebl 1999; 96: A 1081–1084 [Heft 16].
11. Zenner HP, Struwe V, Schuschke G et al.: Gehörschä- den durch Freizeitlärm. HNO 1999; 47: 236–248.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Hans-Peter Zenner Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Universitätsklinikum Tübingen
Silcherstraße 5, 72076 Tübingen E-Mail: Zenner@uni-tuebingen.de M E D I Z I N
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A3444 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 51–52½½½½24. Dezember 2001
In einer Studie in Entwicklungsländern, die ursprünglich die Übertragungsrate von HIV auf Kinder stillender HIV-infi- zierter Mütter untersuchen sollte, sind unerwartete Ergebnisse bezüglich des Stillens aufgetreten. Sowohl bei den stil- lenden Müttern als auch bei den gestill- ten Kindern war die Mortalität infolge einer HIV-Infektion gegenüber den nicht stillenden Müttern und den mit Babynahrung ernährten Kindern signi- fikant erhöht. Die erhöhte Sterblichkeit von gestillten Kindern HIV-infizierter Mütter war bereits aus anderen Studien bekannt. Neu ist jedoch die Beobach- tung, dass auch die stillenden Mütter häufiger letal erkrankten. Als Ursache wird von den Autoren die hohe metabo- lische Last durch die Laktation angese- hen, die bei den meist unterernährten Frauen zu einer Verschlechterung der ohnehin katabolen Stoffwechsellage führt. Zusätzliche immunmodulatori- sche Einflüsse, etwa durch das Prolac- tin, werden ebenfalls angenommen. acc Effect of breastfeeding on mortality among HIV-1 infected women: a randomized trial. Lancet 2001; 357:
1651–1655.
Ruth Ndutai, Department of Paediatrics and Medical Microbiology, PO Box 19676, University of Nairobi, Nairo- bi, Kenya.
Referiert