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Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen 1919—1945

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Rolf-Dieter Müller

Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen 1919—1945

Mit Giftgas zur Weltmacht?

Funde von Kampfstoffmunition des Zweiten Weltkrieges haben in jüngster Zeit das Interesse einer größeren Öffentlichkeit auf historische Vorgänge gelenkt, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weitgehend in Vergessenheit geraten wa- ren. Während die Formen konventioneller Kriegführung in einer kaum noch zu über- schauenden Literaturfülle ihre Darstellung gefunden haben, sind die Vorbereitungen des Deutschen Reiches auf eine chemische Kriegführung von der Militärgeschichts- schreibung nach 1945 ausgespart worden. Vereinzelte Hinweise in der angelsächsi- schen Literatur basieren überwiegend auf umfangreichen, aber fragwürdigen Inter- views, die von der US-Armee zusammengetragen worden sind1. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg haben die beteiligten Fachleute und Offiziere das Licht der Öffent- lichkeit gescheut und ihre Tätigkeit während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zu tarnen und zu verharmlosen gesucht. Vergleicht man damit die Flut ein- schlägiger Literatur im Deutschland der Zwischenkriegszeit, in der die chemischen Waffen als zukunftsträchtige und entscheidende Instrumente eines künftigen Krieges geschildert wurden2, so muß dieses Ergebnis erstaunen.

Die Erklärung dieser publizistischen Zurückhaltung liegt auf der Hand. Chemische Kriegführung war schon nach dem Ersten Weltkrieg vielfach geächtet worden. Vor- bereitungen zu einem erneuten Einsatz von Kampfstoffen fanden weder bei den Mili- tärs noch im öffentlichen Bewußtsein ungeteilte Zustimmung. Nach 1945 war deshalb das Bestreben verständlich, diesen Bereich deutscher Rüstung, der ja tatsächlich auch zu keinem Einsatz während des Zweiten Weltkrieges gekommen war, allein unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung und des passiven Schutzes der Bevölkerung zu sehen. Dabei mag nicht zuletzt auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß das Dritte Reich neben den militärischen Gaskriegsvorbereitungen in Konzentrations- und Vernichtungslagern einen »Gaskrieg« praktiziert hat, dem Millionen wehrloser Menschen zum Opfer fielen.

Eine Analyse der von 1919 bis 1945 entworfenen Pläne und getroffenen Vorbereitun- gen für eine offensive deutsche Gaskriegführung offenbart eine Hybris militärischen Denkens, das im Verein mit privatwirtschaftlichen Interessen darauf gerichtet war, für den erneuten »Griff nach der Weltmacht« ein erfolgversprechendes Instrument zu schaffen. Ausgehend vom Konzept des Totalen Krieges war eine Gruppe von militäri- schen Spezialisten offensichtlich fest entschlossen, die radikalste Form industrieller Kriegführung in den Dienst eines aggressiven Machtstrebens zu stellen, die — gemes- sen an konventionellen Kampfmitteln — größtmöglichen Vernichtungswert bei ge- ringstem personellen und materiellen Einsatz zu versprechen schien. Sie bildete eine Option, die parallel zu anderen — zu denken ist ζ. B. an den rigorosen Navalismus der Marineführung3 — entsprechend den jeweiligen Möglichkeiten geplant und vorberei- tet worden ist, deren eventuelle Durchführung aber vom Gesamtkalkül der politi- schen und militärischen Führungsspitze abhängig blieb.

Als am 31. Januar 1916 auf dem Truppenübungsplatz Munster der »Gasplatz Breloh«

eingerichtet wurde, begann mit der Erprobung, der Herstellung und dem Einsatz che- mischer Kampfstoffe ein neues Kapitel neuzeitlicher Kriegführung. Die erhoffte kriegsentscheidende Wirkung wurde damit indes nicht erzielt, da die anderen Mächte 25 M G M 1 / 8 0 rasch gleichzogen und die anfängliche deutsche Überlegenheit eliminierten. Initiator

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der deutschen Kampfstoffherstellung war der spätere Nobelpreisträger für Chemie, Professor Fritz H a b e r4. Unter seiner Anleitung profilierte sich als Giftgastechniker H u g o Stoltzenberg, dessen Aktivitäten nach beiden Weltkriegen zu Unglücksfällen führten, die in der Öffentlichkeit größtes Aufsehen erregten.

Nach dem Waffenstillstand Ende 1918 verfügte die deutsche Armee noch immer über ein großes Arsenal fertiger und halbfertiger Gaskampfstoffe5, das f ü r die Planungen der militärischen Führung für eine eventuelle Wiederaufnahme des Kampfes von er- heblicher Bedeutung war. N a c h einer Notiz des Truppen-Departements vom 30. Ja- nuar 1919 konnten im Ernstfall insgesamt 201 Züge mit Grünkreuz (Chlorgas, Phos- gen, Perstoff, Chlorpikrin), Blaukreuz (Clark, Adamsit) und Gelbkreuz (Lost) bela- den werden6. Aber weder die bei der Explosion eines mit Giftgasgranaten beladenen Güterzuges in einer der drei Breloher Fabriken am 24. O k t o b e r 1919 deutlich gewor- denen Gefahren, noch die rigorosen Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertra- ges, die ein Verbot jeglicher Aktivitäten auf dem Kampfstoffsektor vorsahen, hinder- ten die Reichswehrführung daran, sich f ü r den Fall kriegerischer Verwicklungen auf den Einsatz von Kampfstoffen vorzubereiten. Ungeachtet der weltweiten Ächtung chemischer Kriegführung galt die Gaswaffe bei den Militärs als brauchbares, ja viel- versprechendes Kriegsmittel.

Bei den Aufräumungsarbeiten in Breloh hatte sich in den ersten Jahren der Weimarer Republik H u g o Stoltzenberg unentbehrlich gemacht. Mit den dabei verdienten Gel- dern erwarb er schließlich die Breloher Fabrikhallen und einen Fabrikplatz im H a m - burger Hafengelände7. Seine Kenntnisse verkaufte er nun in alle Welt, so auch nach Spanien, das zur Niederschlagung des Rif-Kabylen-Aufstandes chemische Kampfmit- tel einsetzte8.

Der Ausbruch der Ruhrkrise mit den damit einhergehenden verstärkten Kriegsvorbe- reitungen der Reichswehr machten Stoltzenberg zu einem gesuchten Partner der Mi- litärs. Bei einer Besprechung mit Vertretern des Heereswaffenamtes ( H . W a . A . ) am 26.127. J a n u a r 1923 wies er zunächst auf die Möglichkeit einer Reaktivierung der noch immer in Breloh lagernden Restbestände des Ersten Weltkrieges hin9. Es han- delte sich immerhin um 400 000 kg Phenylarsinsäure und Diphenylarsinsäure, die von der zivilen Reichstreuhandstelle auf Veranlassung der alliierten Kontrollbehörde ver- brannt werden sollten, sowie um 28 000 kleinere Phosgenflaschen für Blasangriffe und etwa 300 000 Flaschen mit Blaukreuz für Artilleriemunition. Beide Seiten waren sich darüber einig, daß eine Vernichtung dieses Materials unbedingt verhindert wer- den mußte. Stoltzenberg bot außerdem seine in H a m b u r g im Aufbau befindliche Fa- brik an, um drei M o n a t e nach Auftragserteilung je 6 t Grünkreuz und Gelbkreuz und nach sechs M o n a t e n 6 t Blaukreuz täglich zu liefern. Das Reich sollte ihm d a f ü r aller- dings die Apparaturen bezahlen und die notwendigen Rohstoffe bereitstellen. D a r a u f - hin bemühte sich das H . W a . A. darum, den Ankauf von Arsenbergwerken im Kauka- sus, in der Türkei, Spanien, Chile und China, von Arsenhütten in Rußland und Spa- nien sowie von Schwefelminen in der Türkei und in Chile zu unterstützen. Für den Bau einer Phosgen- und Lostfabrik stellte das Reichswehrministerium insgesamt mehr als 20 Millionen Goldmark zur Verfügung1 0. Weil S t o l z e n b e r g s Fabrik in H a m b u r g als luftangriffsgefährdet anzusehen war, wurde ein Neubau in Gräfenhainichen bei Halle in Angriff genommen1 1.

D a weder ein Bruch der Geheimhaltung noch ein möglicher alliierter Vorstoß nach Mitteldeutschland auszuschließen waren, wurden im Sommer 1923 zusätzlich Kon- takte mit der sowjetrussischen Regierung geknüpft, um mit der Verlagerung der deut- schen Kampfstofferprobung und -herstellung nach Sowjetrußland ein Kriegspotential zu schaffen, das den Eingriffsmöglichkeiten der Entente entzogen sein würde1 2. Die Voraussetzungen hierfür waren ausgesprochen günstig. Sowohl auf politischer wie

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auch auf wirtschaftlicher Ebene hatte Moskau bereits sein dringendes Interesse an ei- nem Ausbau der deutsch-russischen Beziehungen bekundet. Der Abschluß des Ra- pallo-Vertrages bot d a f ü r eine entsprechende Basis. Außerdem waren die Gaskampf- vorbereitungen der Roten Armee bereits erheblich fortgeschritten. Vier Gaskampfin- spektionen waren formiert worden und im Moskauer Militärbezirk hatte man einen Gasübungsplatz eingerichtet1 3. Auf Initiative Trotzkis entstand die »Gesellschaft der Freunde der chemischen Landesverteidigung« (Dobrochim), die mehr als eine Million freiwilliger Helfer f ü r eine Unterstützung der Gaskriegführung bzw. Gasabwehr mo- bilisierte. In fieberhafter Eile hatte man mehrere Fabriken zur Kampfstoffherstellung vorbereitet, um gegenüber westlichen Interventionsneigungen gewappnet zu sein.

Praktische Versuche wurden z . T . an Strafgefangenen durchgeführt, die die G . P . U . zur V e r f ü g u n g stellte. Auf den Versammlungen der Dobrochim wetterte Trotzki ge- gen die pazifistischen Tendenzen in der westlichen Welt und rief dazu auf, »die deut- sche Technik mit unseren Naturschätzen zu vereinigen und dadurch das deutsche Volk zu bereichern und uns zu helfen, die Stufenleiter unseres wirtschaftlichen Auf- baus schneller zu erklimmen«1 4.

Unter diesen Vorzeichen war Stoltzenberg im Sommer 1923 im Auftrage des H.Wa.A. nach Sowjetrußland gereist, um eine geeignete Fabrikationsanlage f ü r die gemeinsame Kampfstoffherstellung ausfindig zu machen. Er fand sie in T r o c k bei Sa- mara an der unteren Wolga. Die Vertreter der Gesellschaft zur Förderung gewerbli- cher Unternehmungen (Gefu), einer Tarngesellschaft der Reichswehr f ü r ihre gehei- men rüstungsindustriellen Unternehmungen im Ausland, konnten bereits am 27. Sep- tember 1923 mit führenden Männern der sowjetrussischen Kriegschemie in konkrete Verhandlungen eintreten1 5. Die Gefu war bereit, eine Million Goldrubel f ü r den Auf- bau von Gebäuden und weitere 665 000 Goldrubel für den Betrieb der Anlage zu zah- len. Die sowjetrussische Gesellschaft Metachim wollte ihrerseits 5,67 Millionen Gold- rubel in das Geschäft einbringen. Diese Relation macht noch einmal das dringende Eigeninteresse Moskaus an dem Unternehmen deutlich. M a n einigte sich außerdem darauf, den Aufsichtsrat der noch zu gründenden »Rusk Germanskaja Fabrika Ber- sol« paritätisch zu besetzen. Die von Stoltzenberg aufzubauende Anlage sollte dann von einem deutschen Technischen Direktor und einem Russen als kaufmännischem Leiter geführt werden. Ein entsprechender Vertrag wurde bereits im O k t o b e r 1923 zwischen Stoltzenberg und der Gefu ausgehandelt. Für das von der Reichswehr zur V e r f ü g u n g gestellte Kapital von mehr als zehn Millionen Goldmark beschaffte Stol- tzenberg elektrische Anlagen von Siemens-Schuckert, Kompressoren von Linde und Fernheizungsanlagen der Firma Rudolf Meyer in Hamburg1 6. Die Anlagen wurden im Laufe des Jahres 1925 in T r o c k unter deutscher Leitung von russischen Arbeitern montiert. Z u r Inbetriebnahme des Werkes rekrutierte Stoltzenberg im Dezember 1925 schließlich etwa 15 Werkmeister und 30 Arbeiter an verschiedenen O r t e n des Reiches. Seiner mangelnden Vorsicht ist es zu danken, daß in das Arbeitskommando auch zwei langjährige SPD-Mitglieder gerieten, die nach ihrer Rückkehr aus Sowjet- rußland Einzelheiten des streng geheimen Unternehmens an die Öffentlichkeit brachten.

Die deutschen Arbeiter reisten in kleinen Gruppen über Riga und Moskau nach Trock. Ihre Bezahlung war überdurchschnittlich; Arbeitsbedingungen, Isolation und Einschüchterungen allerdings streng. Z u r ärztlichen Betreuung wurden über die Gefu zwei Stabsärzte der Reichswehr nach T r o c k kommandiert1 7. Bei häufigen Besuchen konnten sich Angehörige des Verbindungsstabes der Reichswehr in Moskau von dem Fortschritt der von Stoltzenberg geleiteten Arbeit überzeugen. Es ging dabei vorran- gig um den Aufbau von Spezialmaschinen zur Herstellung von Phosgen und Lost f ü r mehr als eine Million Granaten. Damit hätte die Reichswehr im Kriegsfalle ihren Be-

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stand legaler, konventioneller Artilleriemunition um mehr als das Doppelte mit in Rußland gefertigten Giftgasgranaten vermehren können. Da in den zwanziger Jahren die Kampfstoffaktivitäten der westlichen Großmächte wegen der anhaltenden welt- weiten Achtung des chemischen Krieges nahezu zum Erliegen kamen1 8, schien sich f ü r die deutschen Militärs auf diese Weise die Möglichkeit eines Ausgleichs ihrer kon- ventionellen Unterlegenheit zu bieten. In der Militärpublizistik setzte deshalb seit

1925 eine breite Erörterung der als positiv beurteilten strategischen und taktischen Einsatzmöglichkeiten von Kampfstoffen ein19.

Auf politischer Ebene hatten Bemühungen der US-Regierung zum Abschluß des Gen- fer Gas-Protokolls am 17. Juni 1925 geführt, in dem sich auch Deutschland verpflich- tete, auf Vorbereitung und D u r c h f ü h r u n g eines chemischen Krieges zu verzichten.

Die mit den Locarno-Verträgen und dem Beitritt zum Völkerbund vollzogene Anleh- nung der Weimarer Republik an die Siegermächte sowie die offiziellen Erklärungen des mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten deutschen Außenministers Strese- mann standen aber in einem deutlichen Gegensatz zu den geheimen Rüstungsmaß- nahmen der Reichswehr, die trotz gewisser Einschränkungen von allen Weimarer Ka- binetten gebilligt wurden2 0. Das Rußland-Projekt war jedoch sehr rasch durch die mangelhafte Arbeit Stoltzenbergs und eine Laune der N a t u r in Schwierigkeiten gera- ten. Ein Frühjahrshochwasser der Wolga hatte Stoltzenbergs Fabrik Anfang 1926 wo- chenlang unter Wasser gesetzt und die Gefahr heraufbeschworen, daß die bereits pro- duzierten Giftgasmengen freigesetzt wurden. N a c h d e m die Maschinen wieder not- dürftig instandgesetzt worden waren, wurden Verhandlungen über eine erneute Inbe- triebnahme eingeleitet. Die Anlage hatte wegen erheblicher technischer Schwierigkei- ten bisher nur zwei T o n n e n Phosgen erzeugen können. Sie war weder von der Gefu noch von der zuständigen russischen Kommission abgenommen worden. Die Russen aber bemühten sich jetzt darum, den Wiederaufbau in eigene H ä n d e zu nehmen und die Reichswehr lediglich als Finanzier und Kunden zu beteiligen. Stoltzenberg wurde von ihnen als Schwindler bezeichnet und wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten bei der Reichswehr denunziert.

Inzwischen war Stoltzenbergs Stellung aber auch in Deutschland ins W a n k e n gera- ten. Im M ä r z 1925 hatte die Großchemie dagegen protestiert, daß bei Stoltzenberg in einem »von dem Staat in weitgehendster Weise subventionierten Werk« trotz eines allgemeinen Chlorüberschusses im Reich Chlor produziert wurde. Sie weigerte sich deshalb, Stoltzenberg weiterhin mit Rohstoffen und V o r p r o d u k t e n zu beliefern2 1. Es ging dabei allerdings nicht nur um die Ausschaltung eines lästigen Konkurrenten. Im Vordergrund stand vielmehr die durchaus begründete Furcht, daß die Aufdeckung der illegalen Kampfstoffherstellung bzw. ihrer fabrikatorischen Vorbereitung die Stel- lung der deutschen Chemieindustrie auf den wichtigen Exportmärkten gefährden und erneute Eingriffe der Siegermächte in die deutsche Chemieproduktion provozieren könnte.

Auf der anderen Seite konnte die Reichswehr seit der Einstellung des Ruhrkampfes nicht mehr in dem U m f a n g wie zuvor über größere finanzielle Mittel frei verfügen, so daß sich die Frage stellte, ob diese vorrangig für das zweifellos risikoreiche Unterneh- men in Rußland oder aber zum Aufbau einer eigenen deutschen Rüstungskapazität eingesetzt werden sollten. Stoltzenberg selbst hatte sich durch sein Engagement in Rußland finanziell verausgabt. Als ihm trotz mehrmaliger Vorstellungen selbst im Auswärtigen Amt2 2 die Reichswehr jegliche weitere Unterstützung verweigerte, drohte ihm der Konkurs. Die Anlage in T r o c k übernahm darauf die Gefu und über- gab sie den Russen, die sich vergeblich bemühten, die für den weiteren Ausbau not- wendigen Apparaturen von der deutschen Großchemie geliefert zu bekommen. Erst nach längeren Verhandlungen fanden sich mittelständische Hersteller zu überhöhten

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Preisen dazu bereit. Auch Stoltzenbergs Anlagen in Deutschland wurden vom H. Wa.A. im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs unter Geschäftsaufsicht ge- stellt. Nachdem Stoltzenbergs Aktivitäten in Rußland Ende 1926 durch eine große Pressekampagne bekanntgeworden waren und zum Sturz der Regierung Mar* beige- tragen hatten, schied Stoltzenberg als Fabrikant endgültig aus den Planungen der Mi- litärs aus. Die Lösung dieser Verbindung geschah indes nicht reibungslos. Das H.Wa.A. hatte am 2. Dezember 1926 festgestellt, daß Stoltzenberg noch immer 8000 Phosgenflaschen, die er nach den USA verkaufen wollte, im Sennelager deponierte23. Sie befanden sich in einem derart bedenklichen Zustand, daß das H.Wa.A. bei einem Abtransport »Unfälle schwerster Art« und Schadenersatzansprüche befürchtete. »Da die Firma Stoltzenberg pekuniär nicht leistungsfähig ist«, so vermutete das H.Wa.A.,

»werden, auch angesichts des von uns verbotener Weise bisher aufbewahrten Kampf- stoffes, Schadensersatz fordernde Geschädigte sicher an uns herantreten.«24 Mit der Anordnung, die Gasflaschen zunächst im Sennelager in sichere Behälter umzufüllen und erst dann abzutransportieren, glaubten sich die Militärs ihrer Verantwortung ent- ledigen zu können. Als zwei der von Stoltzenberg nach Hamburg verbrachten Groß- behälter am 20. Mai 1928 explodierten, wurden mindestens zehn Menschen getötet.

Es gelang aber der Reichswehr, den vorhergesehenen Schadenersatzprozeß in einem langwierigen Verfahren abzuwenden.

Das H.Wa.A. konzentrierte sich bereits vor Abschluß der Affäre Stoltzenberg darauf, die Kampfstofferprobung und -herstellung in Deutschland auf eine neue Basis zu stel- len. Bei einer Besprechung im Stab der Heeresleitung am 11. Januar 1924 hatte man neben den von Stoltzenberg geplanten Anlagen noch die Firma Heyden in Radebeul (Phosgen) und das Agfa-Unternehmen (Blaukreuz) in die Planung einbeziehen kön- nen25. Daneben wurde auch daran gedacht, einen Mob-Bestand an Lost zu beschaf- fen, der den Bedarf bis zum Anlauf der vorbereiteten Fabrikation decken sollte. Da die Herstellung größerer Kampfstoffmengen in Deutschland derzeit nicht riskiert werden konnte, wollte sich die Reichswehr am Bau einer ungarischen Kampfstoff- fabrik in Stuhlweißenburg beteiligen und die Hälfte der Produktion für Deutschland sichern. Bei einer weiteren Besprechung im Truppenamt am 15. Dezember 1925 wurde diese Rüstungsstrategie auf dem Gebiet chemischer Waffen noch einmal aus- drücklich bestätigt. Es galt demnach im Inland selbst eine Fabrikationsbasis zumindest für Lost zu schaffen, die ausreichen würde, zusammen mit den Mob-Vorräten und

»mit der zur Verfügung stehenden Auslandsfertigung [!], den vorauszusehenden gro- ßen Bedarf für Gastruppen, Flieger, Artl. usw. laufend zu decken«. Deshalb sei schon jetzt die Kampfstoffabrikation in Kleinanlagen so zu entwickeln, daß eine rasche und reibungslose Einrichtung von Großanlagen im Bedarfsfalle sichergestellt wäre26. Eine Bestandsaufnahme des Nachschubstabes im H.Wa.A. legte allerdings scho- nungslos offen, daß die Voraussetzungen für dieses Programm denkbar schlecht seien: »Während alle größeren Staaten Vorbereitungen für den chemischen Krieg treffen, sind in Deutschland alle Anlagen und Keimzellen zur Erzeugung von Kampfga- sen vernichtet oder zerstreut.«27 Im geschützten Innerdeutschland sei jetzt nur noch der Kleinbetrieb der Firma Heyden einsatzbereit, der täglich höchstens 2 t Phosgen liefern könne.

Der Zusammenbruch der Stoltzenberg-Unternehmungen machte also eine Neuord- nung der deutschen Gaskampfvorbereitungen unumgänglich. Die Reichswehr be- schritt dazu drei Wege. Auf militärpolitischer Ebene bemühte sie sich, alle Bestrebun- gen der Genfer Abrüstungsverhandlungen zu blockieren, die zur Durchführung des Gaskriegsverbots auf eine internationale Kontrolle der deutschen Chemieindustrie unter dem Gesichtspunkt des »potentiel de guerre« zielten2". Hierbei bahnte sich ebenso wie auf dem fabrikatorischen Sektor eine Kooperation mit der Großchemie

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an. Die geplante Einrichtung von ausbaufähigen Kleinbetrieben fiel dieser Entwick- lung rasch zum Opfer. Zwar mußte nach Auffassung der Experten in der Artilleriein- spektion darauf geachtet werden, daß die Bereitstellung von Rohstoffen und Appara- turen an mehreren Orten durchgeführt wurde, »um hierdurch die Fertigung auf eine breitere Grundlage zu stellen und bei Ausfall einer Fabrikationsstätte auf eine andere zurückgreifen zu können«2 9. Im Sommer 1927 wurde in diesem Sinne ein Probebe- trieb in H a m b u r g errichtet, der unter Leitung des Chemikers Dr. Czmentek stand3 0. Bei einer Sitzung am 24. April 1928 wies aber H a u p t m a n n Thomas, später als Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im O K W einer der führenden M ä n n e r in der Rüstungswirtschaft des Dritten Reiches, darauf hin, »daß alle weiteren M a ß n a h - men von einer Rücksprache mit den leitenden Persönlichkeiten der einschlägigen che- mischen Industrie abhängig« seien31.

Ein solcher Richtungswechsel resultierte vor allem aus dem Bemühen der Reichs- wehrführung, mit Hilfe eines ersten, auf fünf Jahre angelegten Rüstungsplanes die Aufrüstung Deutschlands zu systematisieren und aus der Phase improvisierter, sprunghafter und mangelhaft koordinierter Einzelmaßnahmen herauszukommen3 2. Hierzu war die Einschaltung der Großindustrie erforderlich. Der Schwerpunkt aller größeren Rüstungsmaßnahmen lag jetzt nämlich nicht mehr im fabrikatorischen, son- dern im technisch-konstruktiven Bereich. So wurde auch die bisher unter dem Deck- mantel eines Vertriebs von Dünge- und Futtermitteln operierende Tarn-»Gesellschaft f ü r landwirtschaftliche Artikel«, deren Aufgabe die Bereitstellung von Rohstoffen zur Kampfstoffherstellung gewesen war, liquidiert33. Statt dessen entstanden 1927 in Zu- sammenarbeit mit der Deutschen Gasglühlicht Auer Gesellschaft Versuchsanlagen in Oranienburg, um die Herstellungsmethoden f ü r Kampfstoffe zu verbessern.

Ungeachtet aller Kontrollen und Verbote wurde daneben auch die Gaskampffor- schung an geeigneten wissenschaftlichen Instituten intensiviert und koordiniert. Als Forscher, ζ. B. auf dem Gebiet der Lewesite und der Verfestigung von Lost, w a r Stol- tzenberg wieder gefragt3 4. Beteiligt wurden außerdem die Biologische Reichsanstalt und das Reichsgesundheitsamt ebenso wie zahlreiche Universitäten und Technische Hochschulen3 5. Auf jährlichen Besprechungen tauschten Reichswehr und Wissen- schaftler ihre Erfahrungen aus. D e r Chef des H . W a . A . wies dabei immer wieder auf die außerordentliche Wichtigkeit dieser Forschungsarbeiten hin. D a das Ausland in diesem Bereich noch keine größeren Fortschritte gemacht habe, sei es notwendig,

»die uns zur V e r f ü g u n g stehenden Kampfstoffe zur vollen Ausnutzung und Wirksam- keit zu bringen, um mit möglichst geringen Mengen ein H ö c h s t m a ß an Wirkung zu erreichen«. Als Hauptrichtungen der Kampfstofforschung bezeichnete er3 6:

»1. Verbesserung der Ausnutzung und Wirksamkeit der bisherigen Kampfstoffe.

2. Feststellung einfachster Fabrikationsverfahren mit hoher Ausbeute.

3. Forschung nach neuen Stoffen.«

Die wissenschaftliche Forschung und Labortätigkeit besaß aber ohne die »praktischen feldmäßigen Versuche« nur geringen W e r t f ü r die Militärs37. Diese Überlegungen wiesen die Reichswehr auf die Fortsetzung ihres Engagements in Sowjetrußland. N e - ben der deutschen Mithilfe beim Aufbau einer sowjetrussischen Rüstungsindustrie ging es um die Organisation des Erfahrungsaustausches. Hieran war auch die Rote Armee nach wie vor interessiert, denn keine der anderen Großmächte war zu einer Weitergabe modernster Militärtechnologien und Kenntnisse bereit.

Für beide Seiten handelte es sich insbesondere darum, erstmalig Grundlagen für einen optimalen N u t z e f f e k t beim Einsatz chemischer Kampfstoffe zu erarbeiten. W ä h r e n d des Ersten Weltkrieges waren diese notgedrungen ohne systematische Großversuche und experimentelle Erfahrungen zum Einsatz gekommen. V o n besonderer Bedeutung

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war daneben auch die Entwicklung und Erprobung neuer Einsatzmittel und -verfah- ren. Im Vordergrund stand dabei die Überlegung, Kampfstoffe mit Hilfe von Flug- zeugen als strategische W a f f e einsetzen zu können3 8. Schon im Jahre 1927 hatten auf- grund einer Vereinbarung mit der Roten Armee deutsche Spezialisten 20 km von Moskau entfernt mit einem deutschen Flugzeug Abregnungsversuche unternommen.

Das Übungsterrain trug den Namen Uchttomskaja, von dem die Bezeichnung für das neue Kooperationsobjekt abgeleitet wurde.

»Tomka« war ein neu errichteter Gasversuchsplatz an der W o l g a in der N ä h e der frü- heren Stoltzenberg-Fabrik. Anfang 1928 wurde dazu eine Gruppe von 29 deutschen Experten in kleineren Trupps nach Wolsk gebracht. In einem unberührten Waldge- lände bauten sie in mühevoller, langwieriger Arbeit den von der Reichswehr als dring- lich angesehenen Versuchsplatz auf. Die notwendigen Hilfsmittel, Kraftfahrzeuge, vier Feldhaubitzen und vier Flugzeuge wurden aus Deutschland herangeschafft. Zur Erprobung der Kampfstoffe hatten die Sowjets ein großes Terrain von D ö r f e r n und Bewohnern räumen lassen, wenn auch offenbar nicht mit letzter Gründlichkeit. Als der deutsche Militärattache Köstring einmal das Abblasen von Gasen bei einer Ü b u n g beobachtete und dagegen protestierte, daß sich auf dem Gelände noch russische Be- wohner befanden, meinte der leitende russische Offizier lediglich: »Wenn die Leute das Gas riechen, werden sie schon fortgehen.«3 9 Die in jährlichen Versuchsperioden von neun M o n a t e n durchgeführten Versuche befaßten sich vorwiegend mit der Ver- w e n d u n g von Gelbkreuz (Lost) in den verschiedensten Einsatzformen. Ziel war u. a.

die Errichtung wirksamer Geländesperren durch chemische Verseuchung. Lost und Diphosgen für diese Versuche lieferten die Russen vermutlich aus der Anlage in T r o c k . Blaukreuz und Grünkreuz kamen 1931 ebenfalls zum Einsatz.

Die in Rußland durchgeführten Tests wurden von den an der geheimen Kampfstoff- forschung beteiligten deutschen Instituten gründlich vorbereitet. Versuchsreihen an Tieren, insbesondere an Pferden und H u n d e n , ergänzten die Erprobung militärischer Einsatzverfahren und -mittel. In T o m k a standen dann jedem deutschen Spezialisten mehrere russische Akademiker und Offiziere zur Seite. Die Versuchsergebnisse wur- den offen ausgetauscht und monatlich nach Berlin gemeldet. Zahlreiche führende Vertreter von Reichswehr und Roter Armee, ζ. B. der sowjetische Generalstabschef Tuchacevskij, konnten sich wiederholt von dem Fortschritt der Arbeiten in T o m k a überzeugen. D a die fabrikatorischen Vorbereitungen in Deutschland vorläufig zu- rückgestellt werden mußten, hatte die enge Verbindung mit der U d S S R f ü r die Reichswehr nicht nur Bedeutung hinsichtlich einer längerfristig orientierten Erpro- bungs- und Entwicklungsarbeit. Auch für den Fall kriegerischer Verwicklungen unter den gegebenen Umständen galt die Sowjetunion als einzig zuverlässiger Lieferant von Rohstoffen und fertigem Kriegsgerät, insbesondere von chemischen Kampfstoffen, deren Lieferung durch andere neutrale Mächte selbst bei Annahme günstigster außen- politischer Verhältnisse f ü r undenkbar galt4 0. Für die erste Ausstattung eines Feldhee- res, wie sie im zweiten Rüstungsprogramm für die Zeit ab 1933 vorgesehen wurde, hatte man zwar die neuentwickelten Gasmasken, nicht aber größere Mengen an Kampfstoffen eingeplant. In der Annahme, daß ein Kampfstoffeinsatz in der ersten Phase einer kriegerischen Auseinandersetzung weder möglich noch von seilen des Feindes zu erwarten sei, konnte sich die Reichswehr wie bisher darauf beschränken, die Kampfstoffherstellung in Deutschland lediglich planerisch vorzubereiten. Als wünschenswertes Ausbauziel galt eine Fertigungskapazität von 500 Monatstonnen (moto). D a f ü r waren im zweiten Rüstungsprogramm 4,6 Mill. Reichsmark, f ü r Gas- schutzmaßnahmen, die über den Etat des Reichsinnenministeriums finanziert wurden, zusätzlich 2,8 Mill. Reichsmark bereitgestellt worden4 1.

Die bei den Rüstungsplänen der Reichswehr offenkundige Priorität konventioneller

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Waffen tangierte allerdings zu keiner Zeit die überragende strategische Bedeutung, die man der Gaswaffe beimaß. Dies galt insbesondere für eine nach militärökonomi- schen Gesichtspunkten ausgerichtete Strategie, wie sie in militärischen Kreisen viel- fach erörtert wurde. Mit einem schnellen, beweglichen Stoßheer hoffte man die feind- lichen Industriezentren erobern und damit die unzulängliche deutsche Kriegswirt- schaftsbasis ausweiten zu können. Um die Industrieanlagen unzerstört in die Hand zu bekommen, schlug ein anerkannter Militärtheoretiker in aller Offenheit den Einsatz von Giftgasen vor, denn es seien »heute in der höchstentwickelten Technik einige Tausend Menschen stets entbehrlich«42. Die Propagierung des chemischen Krieges übernahm eine rührige Militärpublizistik, die Anfang der dreißiger Jahre einen neuen Höhepunkt erreichte, während es das H.Wa. A. zur gleichen Zeit als vordringlich be- zeichnete, zumindest einen Offensivkampfstoff zur Massenherstellung vorzuberei- ten43.

Die für einen möglichen Einsatz notwendigen Versuche setzten allerdings bereits im Jahre 1932 in Tomka aus. Zum einen wollte die Rote Armee nunmehr Großeinsätze chemischer Kampfstoffe erproben, für die aber die eigene Gasproduktion nicht aus- reichte. Sie forderte daher die Reichswehr auf, jetzt auch in Deutschland selbst che- mische Kampfstoffe zu produzieren, und zwar durch ein leistungsfähiges Unterneh- men, wobei die Russen vor allem an den IG-Farbenkonzern dachten44. Der Leiter der sowjetischen Verhandlungsdelegation für das Tomka-Programm des Jahres 1933 er- klärte dazu, ohne die Großchemie könne Deutschland keinen Krieg führen, deshalb müsse der IG-Farbenkonzern unbedingt in die Kriegsvorbereitungen eingeschaltet werden. Die Russen dachten dabei keineswegs uneigennützig. Sie forderten als Vor- aussetzung für einen Vertragsabschluß vielmehr, daß der Konzern der Roten Armee technische Hilfe bei der Herstellung verschiedener chemischer Vorprodukte leisten und für beide Armeen einen neuen Kampfstoff entwickeln sollte, der stärker und schneller wirksam sein sollte als Lost. Obwohl die deutsche Forschung keine spekta- kulären Neuerungen gegenüber dem wissenschaftlichen Stand von 1918 aufzuweisen hatte, äußerten die Russen wiederholt den Verdacht, Berlin verfüge längst über mo- derne chemische Kampfmittel, über deren Vorhandensein und Wirkung man die So- wjetunion bewußt im unklaren lasse. Ursache für dieses Mißtrauen mögen einige Vorfälle gewesen sein, bei denen Offizieren der Roten Armee die Teilnahme an deut- schen Gasschutzmanövern verweigert worden war. Der Reichswehrminister hatte in diesem Zusammenhang schon 1927 eine volle Einsichtnahme der Russen in den Be- reich der deutschen Gaskampfvorbereitungen untersagt, weil die Sowjets »schließlich auch einmal als unsere Gegner in Betracht kommen könnten«45. In Tomka selbst hatte die Rote Armee seit 1931 begonnen, den Versuchsplatz mit eigenen Mitteln und für eigene Bedürfnisse auszubauen. Truppen in Regimentsstärke wurden dorthin ver- legt und ein Lazarett für Gaskranke errichtet. Auf der anderen Seite gab es seit Be- ginn des Jahres 1932 von Seiten der Reichswehr Überlegungen, die Versuche in Tomka vor allem aus finanziellen Gründen einzuschränken und allmählich nach Deutschland zu verlagern46. Die Inspektion der Artillerie hielt jedoch daran fest, daß weitere Fortschritte auf dem Gebiet der chemischen Kriegführung von Übungen mit scharfem Kampfstoff abhängig seien, die unter den gegebenen Umständen nur in Tomka durchgeführt werden könnten. An großräumige Geländevergiftungen auf dem Reichsgebiet war selbst im Zeichen der bevorstehenden nationalsozialistischen Machtübernahme und einer verstärkten Militarisierung nicht zu denken. Die intensive deutsch-sowjetische Interessenkoalition auf dem Gaskampfsektor dauerte deshalb länger als das gemeinsame Interesse an den Versuchsstationen für konventionelle Waffen4 7. In mehreren Gesprächen erklärte Tuchafcevskij seine Bereitschaft, die Kampfstoffversuche trotz der problematischen politischen Beziehungen fortzuset-

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zen4 8. Als Stabschef des H . W a . A . konnte sich Oberstleutnant T h o m a s als einer der letzten deutschen Offiziere bei einer Besichtigungsreise im Frühjahr 1933 von den ge- waltigen wirtschaftlichen Ressourcen der UdSSR überzeugen, die sich Deutschland bei einer Fortsetzung der bisherigen Beziehungen würde nutzbar machen können4 9. In einem Bericht über diese Reise erklärte das H . W a . A . noch einmal sein unbedingtes Interesse an einer Weiterführung der Versuche, insbesondere der Gaserprobung in T o m k a5 0. Ehe aber die nach komplizierten Verhandlungen zwischen Tuchacevskij und dem deutschen Militärattache in Moskau noch im Frühjahr 1933 zustandege- kommenen Vereinbarungen über künftige deutsche Versuche in T o m k a zum Tragen kamen, setzte im Sommer 1933 der M a n n , von dessen Regierung sich die deutschen Militärs eine schnelle und möglichst unbegrenzte Aufrüstung erhofft hatten, dem Kriegsspiel mit Giftgasen auf russischem Boden ein Ende. Adolf Hitler, der im Früh- jahr 1918 als Gefreiter an der Westfront selbst O p f e r eines Kampfstoffeinsatzes ge- worden war, ließ als Reichskanzler im Sommer 1933 alle Versuche mit Giftgasen in Rußland einstellen. T o m k a wurde daraufhin geräumt, die dort gelagerten Kampf- stoffe vernichtet und alles Gerät ins Reich zurückgeschafft. N a c h einer Weisung des Reichswehrministers vom 21. Juli 1933 sollten alle Versuche auf chemischem Gebiet künftig nur noch in Deutschland selbst durchgeführt werden5 1. Bemühungen der Ar- tillerieinspektion, hierfür den Gasplatz Breloh zu aktivieren, scheiterten jedoch vor- erst am Einspruch des Ministers.

Hitlers mangelndes Interesse an einer Intensivierung der Gaskriegsvorbereitungen be- ruhte keineswegs auf einem prinzipiell andersartigen Kriegsbild. N o c h im Mai 1933 fand eine geheime Denkschrift zum Aufbau der Luftwaffe die ausdrückliche Billigung der obersten Führung5 2. In ihr war entsprechend den Gedankengängen des italieni- schen Luftkriegstheoretikers D o u h e t der überraschende Masseneinsatz von Spreng-, Brand- und Gasbomben gegen die Zivilbevölkerung feindlicher Großstädte einge- plant, um durch eine »Terrorisierung der Bevölkerung« den Gegner zur Aufgabe des Kampfes zu zwingen. Die dilatorische Haltung gegenüber der weiteren Entwicklung von Kampfstoffmunition beruhte vielmehr auf dem Junktim, das die Militärs mit der Weiterführung der geheimen Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Sowjetar- mee formuliert hatten. Hitler scheute nicht nur aus ideologischen Gründen vor einer solchen Kooperation bei der geplanten Aufrüstung und Kriegsvorbereitung Deutsch- lands zurück, wie sie zur selben Zeit noch einmal Seeckt in einer vielbeachteten Schrift propagiert hatte5 3. Eine solche Bündnispolitik gegenüber der Sowjetunion war aber auch in militärischen Kreisen umstritten. Schon vor der Machtübernahme Hitlers war Rußland von einigen Stimmen offen als Hauptfeind in einem künftigen Krieg be- zeichnet und Seeckts Bündnisvorstellungen verworfen worden. Statt sich den »vergif- tenden Einflüssen« des Bolschewismus auszusetzen und den Russen eine zweifelhafte Unterstützung angedeihen zu lassen, wäre es sinnvoller, sich die W a f f e n aus eigener Kraft zu schaffen, um sie dann im Kampf um den »Wiederaufstieg« Deutschlands ge- gen Frankreich und Sowjetrußland einzusetzen5 4.

Bei der nun einsetzenden forcierten Aufrüstung der W e h r m a c h t bemühten sich die zuständigen militärischen Stellen wiederholt darum, die oberste Führung von der Notwendigkeit einer Einbeziehung der Kampfstoffwaffe in die Ausbildungs- und Rü- stungsprogramme zu überzeugen. Im Anschluß an eine Gasschutzübung vor der H e e - resführung formulierte die neu formierte Inspektion der Nebeltruppe am 19. Juni 1934 eine eindringliche Denkschrift5 5. Die Gewißheit, so hieß es dort, »daß schon von Kriegsbeginn an mit dem Auftreten von Kampfstoffen gerechnet werden muß«, zwinge dazu, alle Improvisationen aufzugeben und endlich in das Stadium systemati- scher Vorbereitungen f ü r eine chemische Kriegführung einzutreten. »Ob der Führer

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im kommenden Krieg die Chem. Waffe einsetzen will, mag von politischen und ande- ren Rücksichten entscheidend abhängen. Kein Zweifel ist aber darüber erlaubt, daß ihm durch sorgfältige Friedensarbeit die Möglichkeit hierzu gesichert werden muß und daß ihm die künftige Entscheidungsfreiheit nicht durch irgendwelche Unterlas- sung in der Kriegsvorbereitung vorweg genommen werden darf.«56

Im Augenblick sei Deutschland nicht in der Lage, auch nur im kleinsten Ausmaß Kampfstoffe einzusetzen, weil seit den letzten Versuchen in Tomka im Jahre 1931 jegliche Gelegenheit fehle, »die wissenschaftliche Forschung nach neuen K.Stoffen durch die unbedingt notwendigen praktischen Versuche entsprechend vorwärts zu trei- ben«57.

Als Sofortprogramm wurde vorgeschlagen, kleinere Versuche auf dem Übungsplatz Munster-Nord zu erlauben, Waffen, Munition und Geräte für den Kampfstoffeinsatz bis zur Truppenreife zu entwickeln und die fabrikatorischen Vorbereitungen, soweit dies möglich sei, zu verstärken. Einer späteren Entscheidung sei dann die Frage vor- behalten, wann die Truppe erstmals den Einsatz scharfer Kampfstoffe üben dürfe.

Solche Truppenversuche seien notwendig, um Unterlagen für eine zweckmäßige Gliederung, Bewaffnung und Ausrüstung der Nebeltruppe zu gewinnen. Bisher sei zwar jegliche Schulung der Truppe im Einsatz der Gaswaffe »streng verboten«. Zu- mindest die Verwendung von Übungsstoffen sollte aber jetzt erlaubt werden.

Dieses Sofortprogramm wurde von der Heeresführung genehmigt und ein Jahr später auf seinen Erfolg hin überprüft58. Die Fachinspektion hatte sofort ein großangelegtes Versuchsprogramm in Angriff genommen, um die Methoden der Geländevergiftung im Rahmen taktischer und operativer Aufgaben zu verbessern. Dafür standen die Heeres-Gasschutz-Laboratorien in Berlin-Spandau und die Heeresversuchsstelle Raubkammer zur Verfügung5 9. Eine Zusammenarbeit mit der Luftwaffe zur Durch- führung von Sprühtests zeigte bereits erste Ergebnisse. Die Entwicklung neuer wirk- samerer Blaukreuz- und Grünkreuz-Kampfstoffe durch die Gasschutz-Abteilung im H.Wa. A. (Wa Prw 9) war bereits eingeleitet. Damit war eine Fortführung der frühe- ren Tomka-Tests gewährleistet. Auf fabrikatorischem Sektor konzentrierte man sich auf die Herstellung von Lost und Augenreizstoffen. Eine Anlage zur Lostgewinnung in Ammendorf bei Halle sollte bereits Ende des Jahres 1935 fertiggestellt sein. Der ge- plante Mob-Vorrat von 1000 t Oxol (Vorprodukt für Lost) und 1000 t Chloraceto- phenon (Reizstoff) würde genügen, um 500 000 leichte — und 50 000 schwere Feld- haubitzen-Granaten zu füllen. Eine kurz vor der Fertigstellung befindliche Füllan- lage in Munster-Nord war für die Abfüllung von täglich 12 t Kampfstoff ausgelegt.

Die Zahl der auf Vorrat zu legenden Geschoßhüllen sollte aber so gering wie möglich gehalten werden, da die zu erwartenden Fortschritte bei der Entwicklung neuer Kampfstoffe größere Lagerbestände rasch wertlos machen konnten. Als Einsatz- truppe für den Gaskrieg galt die neu formierte Nebeltruppe, die das Gasschießen der Artillerie durch Sprühgeräte und Raketen wirkungsvoll unterstützen sollte60. Bis März 1936 hatte die laufende Bevorratung einen Bestand von 1000 t Lost und 300 t Chloracetophenon erreicht, der vorläufig noch in einzelnen Industriebetrieben in Mitteldeutschland gelagert wurde61. Bei einer Vergiftungsvorführung in Munster am 25. November 1935 wurde der Oberbefehlshaber des Heeres davon überzeugt, daß nunmehr eine Ausstattung des Heeres mit brauchbaren Kampfstoffen möglich war62. In seinem Auftrag sollte daher die Inspektion der Nebeltruppe Vorschläge für ein entsprechendes Vorgehen machen. Sie lagen bereits vier Wochen später dem Ge- neralstab vor63. Der Inspektion ging es vor allem darum, trotz aller noch bestehenden Mängel möglichst rasch einsatzfähige Gastruppen aufzustellen und auszurüsten. Ge- tarnt werden sollten diese Vorbereitungen für eine chemische Kriegführung mit dem Vorwand, »daß wir in der Lage sein müssen, einem Gegner, der gegen das Genfer

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Protokoll von 1925 verstoßen sollte, mit gleicher M ü n z e zu zahlen. Dieses Verfahren wird befürwortet, weil es die Ausbildung von allen störenden Beschränkungen be- freit.«6 4 Für jedes Korps sei eine Nebelabteilung aufzustellen, deren 2. und 3. Batterie als Entgiftungs- und Vergiftungseinheit vorgesehen waren. Bei diesen, am Ende nur in wesentlich verringertem Rahmen durchgeführten Aufstellungen orientierte man sich weitgehend an den Erfahrungen und dem Kriegsbild des Ersten Weltkrieges. Im V o r - dergrund stand die Schaffung einer Gaswaffe, die im taktischen und operativen Be- reich f ü r die D u r c h f ü h r u n g und Beseitigung chemischer Geländesperren eingesetzt werden konnte. Die Ausbildung d a f ü r wurde an der neu geschaffenen Heeres-Gas- schutz-Schule in Celle ab Januar 1939 aufgenommen. Die vorgesehene und z . T . schon aufgenommene Fertigung von Augenreizstoffen in Ludwigshafen, Seelze und Staßfurt sowie von Lost, dem vielfach erprobten Geländekampfstoff, bewegte sich in einer G r ö ß e n o r d n u n g , wie sie bei Ende des Ersten Weltkrieges erreicht worden war (30 t pro Tag)6 5.

Gemessen an der kriegsentscheidenden Wirkung, die man sich vielfach in militäri- schen Kreisen von einer chemischen Kriegführung versprach, waren die Bemühungen von W a Prw 9 allzusehr auf den taktischen Einsatz beschränkt. Die strategischen Aspekte waren zwar vor allem Sache der Luftwaffe (bezüglich des Einsatzverfahrens) und des Generalstabes; das Allgemeine Heeresamt bemängelte dennoch an den Be- richten von W a Prw 9, daß keine »klaren Schlußfolgerungen über die in Gegenwart und Z u k u n f t möglichen Anwendungsformen chemischer Kampfmittel gezogen sind«66. Vom Standpunkt der militärischen Führung sei insbesondere die Entwicklung eines wirksamen Angriffskampfstoffes zu fordern, »der in mäßiger Menge eine tödli- che Wirkung auf den ungeschützten Menschen oder eine schnelle Wirkung auf die Körperoberfläche des maskengeschützten Gegners ausübt«.

Mit welcher operativen und kriegsentscheidenden Wirkung Kampfstoffe eingesetzt werden konnten, hatte der Abessinien-Feldzug der italienischen Armee deutlich ge- macht6 7. Gegen eine neuzeitliche, im Gasschutz gerüstete W e h r m a c h t versprachen herkömmliche Kampfstoffe, zumal wenn sie nur im taktischen Rahmen eingesetzt wurden, keine vergleichbare Wirkung. Die Entdeckung des Nervengiftes T a b u n durch den IG-Farbenkonzern im Jahre 1936 aber, der einzige Durchbruch in der Kampfstofforschung bis 1945, konnte der deutschen Gaswaffe, nach Überwindung einiger produktionstechnischer H e m m u n g e n , die gewünschte Überlegenheit in einem noch immer die militärstrategische Diskussion beherrschenden totalen Krieg6 8 ver- schaffen, hätte es nicht an einigen materiellen Voraussetzungen gemangelt.

Hitlers Denkschrift vom August 1936, in der er forderte, die Wehrmacht müsse in vier Jahren kriegsbereit sein, leitete eine Phase beschleunigter Kriegsvorbereitungen ein. Sie standen unter dem Diktat ökonomischer Engpässe und zunehmender Friktio- nen, die zu einer straffen Schwerpunktbildung auch in der Rüstung zwangen. Als Folge der sich allmählich durchsetzenden Blitzkrieg-Strategie erhielt die konventio- nelle Breitenrüstung eindeutige Priorität zu Lasten auch einer möglichen Intensivie- rung der Gaskriegsvorbereitungen. D e m Vorrang der Waffenproduktion gegenüber der Munitionsherstellung fiel schließlich auch die Herstellung größerer Mengen von Kampfstoffmunition zum Opfer. Darüber hinaus sprachen folgende Umstände gegen den Einsatz der Gaswaffe: zum einen wurde die W e h r m a c h t nunmehr mit jener gro- ßen Zahl von Verbänden und W a f f e n ausgestattet, die eine Überlegenheit im konven- tionellen Bereich erwarten ließ. Zum anderen war die Gaswaffe nach ihren Einsatz- möglichkeiten und Wirkungen sicherlich wenig geeignet, den im Zeichen des Blitz- krieges geplanten schnellen und entscheidungssuchenden Vorstoß motorisierter Ar- meen zu unterstützen. Zur Abschreckung des Gegners vor einem Übergang zur che- mischen Kriegführung behielt die Gaswaffe aber unverändert ihren Wert. Anstöße,

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die deutschen Gaskriegsvorbereitungen dennoch auf den Aufbau einer strategischen Waffe zu konzentrieren, kamen in der Folgezeit hauptsächlich aus zwei Richtungen:

von Seiten der Großchemie, die ein zusätzliches Geschäft witterte, und von Seiten ein- zelner engagierter Militärs, die noch immer den bevorstehenden Krieg mit Hilfe der Gaswaffe für Deutschland gewinnen wollten.

Bei einer Besprechung im Wehrwirtschaftsstab über Kampfstoff-Fragen am 11. No- vember 1936 erfolgte ein erster Vorstoß des IG-Farbenkonzerns69. Ein Firmenvertre- ter überzeugte die Militärs davon, daß die Kampfstoffe Lost und Chloräzetophenon in beliebiger Menge hergestellt werden könnten, da hier die Rohstofflage besonders günstig sei. Es gelte daraus auch militärtaktische Konsequenzen zu ziehen und den Kampfstoff nicht in material- und rohstoffmäßig aufwendiger Weise durch Granaten zu verschießen, sondern »durch Abgießen oder Abwerfen aus Flugzeugen in einfa- chen Hüllen (Papier usw.) zu verwenden«. Beide Seiten einigten sich darauf, eine Ka- pazität von monatlich 5000 t Lost und 1150 t Chloräzetophenon anzustreben. Bei ei- ner internen Besprechung der Experten des H.Wa.A. am 5. Januar 1937 wurde dar- aufhin vorgeschlagen, »das innerhalb des Vierjahresplanes zu stellende Ziel in der Weise einzuteilen, daß jährlich 25% zu erreichen sind«70. Als Vorrat sollten in der Nähe von drei noch zu errichtenden Füllstellen deponiert werden: a) ein Monatssatz Kampfstoffe, b) als Vorrat für den 2. und 3. Monat eine entsprechende Menge an Vorprodukten, die bei Bedarf rasch zu Kampfstoff verarbeitet werden konnte.

Um die zögernde Haltung einiger Militärs zu überwinden, die wegen des allgemeinen Rohstoffmangels von bescheideneren Größenordnungen ausgingen, bedienten sich die Vertreter des IG-Farbenkonzerns im Vierjahresplan auch eines Gutachtens von Stolzenberg7 1, in dem dieser die Kampfstoffe als eine strategische Hauptwaffe ein- stufte und Vorschläge für Einsatzverfahren und -mittel machte. Im Juli 1938 legte IG-Farbendirektor Krauch dann auf Anregung Görings einen detaillierten Plan zum beschleunigten Ausbau der Kapazitäten für synthetisches Ol, Gummi, Leichtmetall, Pulver, Spreng- und Kampfstoffe vor. Ausgehend von der bisher erreichten Kapazität von 700 moto Lost sollte innerhalb der nächsten vier Jahre ein Ausbau bis zu 9300 moto erreicht werden72. Diese Größenordnung lag knapp über dem Entente-Pro- gramm für 1919 (8300 moto). Ab 1942 ließ sich nach Krauchs Planungen sogar ein weiterer Ausbau vornehmen, der bis 1945 eine Kapazität von 19 300 moto erreichen konnte. Insgesamt wurde ein Verhältnis von 1:2 bei den Ausbauzielen von Kampf- und Sprengstoffen vorgesehen.

Die Industrievertreter bemühten sich wiederholt darum, der Wehrmacht den hervor- ragenden Wert der Gaswaffe vor Augen zu führen, galt es doch, für die projektierte Kapazitätsausweitung auch eine entsprechende Nachfrage zu schaffen. Vermutlich in Zusammenarbeit mit Görings Luftkriegsstrategen entstand daher eine Denkschrift, in der die militärischen Vorteile der chemischen Munition gegenüber der konventionel- len dargestellt wurden73. Während ζ. B. die Schäden bei Spreng- und Brandbomben relativ begrenzt und rasch behebbar seien, so hieß es dort, müßte die Wirkung von Kampfstoffen erheblich höher eingeschätzt werden. Vor allem im Kampf gegen die feindliche Zivilbevölkerung sei der Geländekampfstoff berufen, »die kriegsentschei- dende Waffe zu sein. Auch hier werden seine unberechenbaren und unheimlichen Wirkungen auf lange Zeit hin Panik und völligen Stillstand im Leben einer begifteten Stadt erzwingen. Er verbreitet in der Bevölkerung eine derartige Unsicherheit, daß Arbeit und Verkehr lange Zeit ruhen werden, die Psychose erfolgter Vergiftungen läßt die Krankenhäuser überfüllen und die Sanitäts- und Entgiftungsmaßnahmen er- schöpfen. Hilfs- und Entgiftungsmaßnahmen verschlingen das Vielfache an einge- setztem W e n an Kampfmittel. In den Kellern zerstörter oder durch Brand vernichte- ter Häuser kann das Leben der Zivilbevölkerung notfalls eine Zeit lang weitergeführt

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werden. Nicht aber, wenn Geländekampfstoff jede Türklinke, jeden Zaun und jeden Pflasterstein zur Waffe des Gegners macht.« Dem möglichen Einwand, daß feindliche Gegenschläge die eigene Zivilbevölkerung in gleicher Weise treffen und demoralisie- ren könnten, wurde mit dem Hinweis zuvorgekommen, daß gegenüber dem Einsatz von Kampfstoffen »moralisch aufs höchste gefestigte und disziplinierte und technisch gerüstete Bevölkerungen standhalten können«. Im Zeichen von Führerstaat und Volksgemeinschaft galt die deutsche Bevölkerung im Kalkül einiger führender Mili- tärs als in eben dieser Weise belastbar und den anderen Völkern überlegen. Die Denkschrift der Krauch-Gruppe schloß daher mit der Behauptung, »daß die chemi- sche Waffe die Waffe der überlegenen Intelligenz und des überlegenen technisch-natur- wissenschaftlichen Denkens ist. Als solche ist sie berufen in deutscher Hand kriegs- entscheidend sowohl an der Front als auch gegen das feindliche Hinterland eingesetzt zu werden.«

Die Ausbaupläne der Großchemie wurden vom zuständigen H.Wa.A. durchaus unter- stützt. Den Militärs ging es aber darum, die Kontrolle über die chemische Kriegsrü- stung und die Rüstungssteuerung zu behalten. Die Industrie hingegen hoffte auf ei- nen Investitionsboom74, der sich überaus positiv auf die Absatz- und Gewinnchancen auswirken konnte, sofern nicht, wie in der Vergangenheit wiederholt geschehen, die Militärs bürokratisch reglementierend in die Wirtschaft eingreifen würden. Krauch hatte wegen des erbitterten Widerstands des H.Wa.A. gegen eine sich verselbständi- gende Rüstungsorganisation, in der sich unter der Ägide Görings die Luftwaffe, der Vierjahresplan und die Privatwirtschaft arrangierten, zugleich mit seinem Ausbaupro- gramm Vorschläge zur Bildung eines »Chemiker-Offizierkorps« vorgelegt75. Er ver- sprach darin noch einmal, daß die deutsche Chemieindustrie allen materiellen Anfor- derungen gerecht werden und Deutschland »eine überragende Überlegenheit* sichern könnte, »wenn es sich zu dem Gedanken vom Wert der chemischen Waffe bekennt und die gegebenen Möglichkeiten in großzügiger Weise nutzbar zu machen beginnt«.

Krauchs Vorschlag zielte auf die Gründung eines Chemiker-Offizierkorps innerhalb der Wehrmacht, in das die Chemiker der Wirtschaft und Technik als Reserveoffiziere aufzunehmen wären. In enger Verzahnung mit den Hochschulen und der Chemiein- dustrie sollten die Führungskader für eine auf zwölf Regimenter aufgestockte Nebel- truppe herangebildet werden, deren Mannschaften sich aus den Arbeitern und Labo- ranten der chemischen Industrie rekrutieren ließen. »Aus dem Chemiker-Offizier- korps werden die Führer erwachsen, die an den höchsten militärischen Kommando- stellen dem Gedanken des Wertes und des Einsatzes der chemischen Waffe die ent- sprechende Geltung verschaffen werden. Im Verlaufe von mehreren Jahren wird da- mit in Deutschland eine, in keinem sonstigen Lande der Welt mögliche oder beste- hende Truppe geschaffen werden, die dem überlegenen Material der deutschen che- mischen Waffe auch den überlegenen Einsatz verbürgt.«76 Krauch stand mit seinem Vorschlag in Konkurrenz zu den Offizieren des Wehrwirtschaftsstabes, welche die Heranbildung eines »Wehrwirtschaftsführer-Korps« verfolgten. Die Titelverleihung und Schulung für Betriebsführer sollte helfen, den militärischen Einfluß in der Rü- stungsindustrie zu verstärken77.

Die Großchemie schien also nicht nur darauf zu hoffen, die staatlichen Rüstungs- pläne mit den eigenen Expansionszielen besser koordinieren zu können. Die Etablie- rung direkter Einflußkanäle innerhalb der Wehrmacht sollte darüber hinaus auch die Nachfrage nach chemischen Rüstungsgütern steuerbar machen. Dazu wurden die ex- tremsten Formen der Kriegführung propagiert und in offener Anspielung auf verbrei- tete Superioritätsgefühle die Möglichkeit suggeriert, diese auch in militärische Er- folge ummünzen zu können. Die teilweise gespannte Atmosphäre zwischen Rüstungs- offizieren und Privatwirtschaft wurde z.B. erkennbar, als Vertreter des Wehrwirt-

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schaftsstabes einen Siemens-Ingenieur denunzierten, der in einem Vortrag auf der Chemiker-Tagung am 11. Juni 1938 die gestiegene Bedeutung der Chlorerzeugung öffentlich auf die gestiegene Nachfrage der Wehrmacht für die Herstellung von Kampfstoffen zurückführte7 8.

Das H.Wa.A. unterlag schließlich in diesem Kampf gegen die Großchemie. Krauch wurde bereits am 22. August 1938 von Göring zu seinem »Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung« ernannt. Unter dem Eindruck der Su- detenkrise und in Erwartung eines kurz bevorstehenden Kriegsausbruches blieb für die Ausbaupläne allerdings weniger Zeit als man angenommen hatte. In einem Schnellplan wurden daher zunächst Kapazitäten für eine Kampfstoffherstellung in Höhe von 7800 moto vorgesehen79. Dafür waren zwar, wie sich rasch zeigen sollte, die entsprechenden chemischen Rohstoffe vorhanden, nicht aber ζ. B. die für den Aufbau von Fabrikationsstätten, Lagern und Abfüllstellen notwendigen Eisenmengen, die vorrangig für die ebenfalls verstärkte Fertigung von konventionellen Waffen und Geräten beansprucht wurden. Im Oktober 1938 wurden beispielsweise nur 50% des notwendigen Zements geliefert und im Januar 1939 kürzte die Wehrmacht die Stahl- zuteilung um 30%, da der Ausbau des Westwalles höchste Priorität einnahm. Als Krauch daraufhin in einer warnenden Denkschrift an alle beteiligten Stellen eine Ver- zögerung des Ausbauplanes von sechs bis neun Monaten ankündigte, kam es am 13.

Januar 1939 zu einer Besprechung zwischen der Inspektion der Nebeltruppe und Gö- ring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe, in der eine Bilanz der Kampfstoffsituation gezogen wurde80. Demnach hatte der Nachschubvorrat am 1. Oktober 1938 bei Gelb- kreuz 1400 t und bei Weißkreuz 1500 t erreicht. Die fertiggestellten Kapazitäten von 350 moto Gelbkreuz und 165 moto Weißkreuz standen in einem auffälligen Mißver- hältnis zu Krauchs gigantischen Ausbauplänen. Angesichts dieser prekären, im Kriegsfalle aussichtslosen Lage war die Luftwaffe bereit, schon jetzt eine gewisse Menge mit Kampfstoff gefüllter Bomben auf Lager zu legen, um den Einsatzwert der Gaswaffe zu steigern. Weitere Lager mit ungefüllten Bomben sollten nahe den beste- henden Füllstellen Munster, Löcknitz und Hohenbrunn errichtet werden. Die Forde- rung der Luftwaffe, ihr für die Erfüllung strategischer Kampfstoffaufgaben eine Nachschubkapazität von 1450 moto Winterlost und 700 moto Zählost zu schaffen, wurde erst ab 1941 für erreichbar gehalten. Selbst der Aufbau der notwendigen Vor- ratslager war angesichts der Kürzung der Eisenzuteilung zeitlich völlig ungewiß. Es wurde sogar befürchtet, daß im Sommer 1939 bestehende Lostfabriken stillgelegt werden müßten, weil aus Eisenmangel die für die Lagerung produzierter Mengen notwendigen Behälter nicht beschafft werden konnten.

Trotz Unterstützung Görings verlangsamte sich der weitere Ausbau des Kampfstoff- bereiches als Folge wachsender Engpässe bei der Rüstungsproduktion auf rund die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Tempos. In seinem Bericht vor dem Generalrat des Vierjahresplanes am 20. April 1939 zog daher Krauch eine zu raschen außenpoli- tischen Entschlüssen zwingende wirtschaftliche Bilanz81. Die von ihm vertretenen Ausbauziele im Chemiebereich sah er als das Minimum dessen an, was Deutschland bei seinem Kampf um die Vorherrschaft in Europa benötigen würde. Auf die Dauer würden aber nach seiner Einschätzung die deutschen Ressourcen dafür nicht ausrei- chen. Er forderte deshalb nachdrücklich den Ausbau der Handelsbeziehungen mit Rußland, die allmähliche Verlagerung des deutschen Wirtschaftsschwerpunktes nach dem Osten und eine Einstellung auf die »zwingende N o t w e n d i g k e i t . . . im Kriegsfalle die Ukraine wehrwirtschaftlich auszunutzen (Eisen)«82. Diese in der deutschen Wirt- schaft und Politik seit dem Ersten Weltkrieg tradierte Grundrichtung83 führte über den Hitler-Stalin-Pakt unmittelbar in die Eröffnung des Zweiten Weltkrieges.

Auf dem Höhepunkt des militärischen Aufmarsches legte der Inspekteur der Nebel-

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truppe, Oberst Ochsner, für die 1. Abteilung des Generalstabes des Heeres seine Vor- schläge für den Kampfstoffeinsatz im bevorstehenden Krieg vor84. An ihnen ist vor al- lem die Identität mit den Kriegsvorstellungen auffällig, die bereits im Krauch-Plan zum Ausdruck gekommen waren. Ausgehend von der Erwartung, daß im nächsten Krieg chemische Kampfmittel eine noch größere Rolle spielen würden als in der Ver- gangenheit, und Deutschland dank seiner in der Welt führenden chemischen Indu- strie einen Vorsprung vor den anderen Nationen erreichen könnte, berief sich Ochs- ner auf ein Schreiben Krauchs vom 20. Juni 1939, in dem dieser den militärischen Führungsstellen gegenüber noch einmal das Kampfstoffgroßprogramm »auch entge- gen den Bedenken des WaA heute noch für voll durchführbar h ä l t . . . Wenn die politi- sche oder militärische Führung heute in der chemischen Waffe ein Mittel für eine rasche Kriegsentscheidung sehen würde, so wäre bei klarer Schwerpunktverlegung in den Mob. Vorbereitungen auf den chemischen Krieg auch heute noch die in der Denk- schrift aufgezeigte Gelegenheit gegeben, ein Kampfstoff-Großprogramm durchzu- führen.« 85 Ochsner präzisierte sodann noch einmal die seit den frühen dreißiger Jah- ren entwickelten Einsatzvorstellungen. Kampfstoffangriffe müßten »in ganz großem Ausmaß gegen das feindliche Hinterland durch die Luftstreitkräfte, insbesondere ge- gen Industrie-Mittelpunkte und Großstädte« geführt werden. Kriegsentscheidend könnten sich die Kampfstoffe vor allem wegen ihrer seelischen Wirkung auswirken, denn »die alberne und unsachliche Propaganda des früheren Völkerbundes hat hier die Weltmeinung so beeinflußt, daß Paniken unvermeidlich sind«. Ochsners Einsatz- grundsätze sahen deshalb einen überraschend und massiv geführten Kampfstoffein- satz vor, bei dem ohne Unterbrechung zunehmende Mengen von Giftgasen verwen- det werden sollten, »um die feindlichen Sanitätseinrichtungen mit einer wahren Flut Gaskranker und Kampfstoffverletzter lawinenartig zu überschwemmen und zu ver- stopfen. Diese Angriffe müssen verbunden sein mit Fliegerangriffen gegen die feindli- che Gasschutzindustrie, besonders gegen die feindlichen Gasmaskenfabriken, um den Nachschub an diesen Schutzmitteln zu unterbinden. Nur dann werden sie beim feind- lichen Heer die große seelische Beanspruchung erreichen, die schließlich zum Zusam- menbruch des Heeres beitragen kann. Erst wenn dem feindlichen Soldaten zum Be- wußtsein kommt, daß die notwendigen Gasschutzmittel nicht mehr nachgeschoben werden können, daß Ärzte und Pflegepersonal ihren immer größer werdenden Auf- gaben erliegen, werden die Kampfstoffe ihre volle seelische Wirkung auslösen.« Im Hinblick auf den bevorstehenden Kampf gegen England schlug Ochsner planmäßige tägliche Luftangriffe vor, bei denen Kampfstoffe jeder Art zum Einsatz gelangen soll- ten. »Es ist außer Zweifel, daß eine Stadt wie London so in eine unerträgliche Aufre- gung versetzt werden könnte und dadurch einen gewaltigen Druck auf die feindliche Regierung ausüben würde.« Die »sachliche und seelische Wirkung« der Kampfstoffe zwinge dazu, »sie einzusetzen, und zwar ganz planmäßig, nicht nur als Gegenmittel oder als Antwort auf feindlichen Kampfstoffeinsatz. Politische Gründe, diesen not- wendigen Kampfstoffeinsatz in der Meinung des eigenen Volkes und der Welt zu rechtfertigen, wird eine entschlossene Führung zu finden wissen.«

Dieses Konzept für einen Aufstieg Deutschlands zur kontinentalbeherrschenden Großmacht mit Hilfe der Gaswaffe, das hier ausführlicher zitiert wurde, weil es lang- jährige und von verschiedenen Machtträgern des NS-Regimes verfochtene Vorstel- lungen wiedergibt, die ohne direkten Einfluß von Seiten der politischen Führung ent- wickelt wurden, war offensichtlich an dem Vorbild des Ersten Weltkrieges orientiert.

Da mit einer schnellen Kriegsentscheidung durch konventionellen Waffeneinsatz nicht gerechnet wurde, ein langer Abnutzungskrieg aber unbedingt vermieden werden mußte, sollte die Gaswaffe das strategische »Wunder« vollbringen.

Die von deutscher und britischer Seite bei Kriegsbeginn abgegebenen Erklärungen,

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auf den Einsatz von Kampfstoffen verzichten zu wollen, wurden von keiner Seite für glaubhaft gehalten86. Hitlers sofort ergangene Anweisung, unbedingt den Gaskampf vorzubereiten, führte deshalb zu fieberhaften Aktivitäten der beteiligten militärischen Stellen. Nach Berechnungen der zuständigen Fachinspektion würde man innerhalb ei- nes Jahres Kampfstoffabriken in Trostberg, Piesteritz, Chorzow, Hamborn und Fal- kenau mit zusammen 19 000 moto errichten können, vorausgesetzt, daß die dafür be- nötigten 4500 moto Eisen, etwa 50 bis 60 Techniker und 4000 Bauarbeiter von der Wehrmacht zur Verfügung gestellt wurden87. Das Beharren auf dem Krauch-Pro- gramm durch die Fachmilitärs ist unverkennbar. Auch der Chef des Wehrwirtschafts- stabes hatte sich, bevor er die zuständigen Heeresstellen zu einer Besprechung am 5.

September 1939 einlud88, um mit ihnen über die Ausführung von Hitlers Weisung zur Gaskriegsvorbereitung zu verhandeln, zuvor beim IG-Farbenkonzern informiert.

Dort war ihm das Lostgroßprogramm Krauchs als Empfehlung vorgelegt worden. Als er nun die Vertreter des Heeres nach ihren Wünschen für ein neues Kampfstoffrü- stungsprogramm fragte, kam man daher rasch zu der Übereinkunft, der obersten Führung den lange geplanten Ausbau der Lostbasis vorzuschlagen. Einzelheiten dazu wurden bei einer internen Besprechung der Heeresstellen am 8. September 1939 fest- gelegt89. Die Gesamtforderung an Lost belief sich nun von Seiten der Militärs auf eine Kapazität von 15 000 moto. Außerdem sollten 800 moto bei Weißring, 850 moto He- xachloräthan und die Erweiterung der Grünring (Perstoff)-Anlage in Wolfen auf 500 moto erreicht werden. Ergänzend dazu galt es, die Herstellung von Entgiftungsmit- teln (Losantin) und Schutzbekleidung erheblich zu erhöhen, um dringende Voraus- setzungen für den Übergang zur chemischen Kriegführung zu schaffen.

Oberst Ochsner trug dem Generalstabschef Haider am 1. Oktober 1939 dieses Ergeb- nis vor und setzte, um einen Beurteilungsmaßstab für die angestrebten Ziele zu lie- fern, die aufgestellten Planziele bei Lost in Vergleich zu den Zahlen des Ersten Welt- krieges90:

Deutschland: Leistung ab 1. 11. 1939 900 moto Ausbauziel 15 000 moto Jahresproduktion 1918 7 038 t Höchstleistung 1918 1 000 moto Frankreich: Höchstleistung 1918 510 moto England: Höchstleistung 1918 3 000 moto USA: Höchstleistung 1918 6 000 moto.

Haider erklärte daraufhin, daß nunmehr ein detaillierter Gesamtplan aufgestellt wer- den müsse, dessen Durchführung dann angeordnet werden könne.

Krauch erreichte am 28. November 1939 bei einer Besprechung mit Göring91 außer- dem die Zusage einer starken Erhöhung des Eisenkontingents für sein Programm, so daß bei seinen weiteren Absprachen mit den Militärs der Neubau weiterer Kampf- stoffabriken vereinbart werden konnte92. Der Wehrwirtschaftsstab sicherte die dafür notwendigen materiellen Voraussetzungen zu, und die Fertigstellung bzw. der Neu- bau der geplanten Lostlager und Füllstellen wurde als dringende Sofortforderung des H.Wa.A. eingestuft93.

Damit schienen alle Voraussetzungen geschaffen worden zu sein, um Hitler die ge- wünschte Möglichkeit zu einer chemischen Kriegführung zu geben. Da aber bis zum Beginn des Feldzugs gegen Frankreich trotz aller Bemühungen nicht an einen recht- zeitigen Abschluß der Vorbereitungen gedacht werden konnte, — so mußte ζ. B. die Produktion leichter Gasschutzbekleidung im Januar 1940 wegen Kasein-Mangels ein- gestellt werden94 — bot die Gaswaffe lediglich eine Option für den Fall, daß der Blitz- krieg im Westen, was Teile der militärischen Führung durchaus befürchteten, schei- tern und wie schon im Ersten Weltkrieg im Stellungskrieg erstarren würde. Daß

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Deutschland aus wirtschaftlichen und politischen Gründen einer solchen Belastung auf die Dauer nicht gewachsen sein würde, darüber waren sich die NS-Führung und auch die Militärs weithin einig. Für diesen Fall also hätte sich die Gaswaffe als letzter Trumpf deutscher Kriegführung angeboten. Vier Wochen vor Beginn des Frankreich- feldzugs ließ Krauch von seiner Dienststelle eine entsprechende Übersicht über Pla- nung und Lage auf dem Kampfstoffgebiet für Göring anfertigen. Demnach hatte sich der Bau von Kampfstoffabriken wie folgt entwickelt95:

In Monatstonnen Werk 1.4. 1940 1. 10. 1940 1.4. 1941 1. 10. 1941

Lost Ammendorf 900 900 900 900

(Gelbkreuz) Hüls 600 1 400 1 400 1 400

Trostberg 800 4 000 4 000

Gesamt 1 500 3 100 6 300 6 300

Arsen K-Stoffe

(Blaukreuz) Staßfurt 180 180 180 180

Hahnenberg I 400 400 400

Omega-Salz Ludwigshafen 60 60 60 60

(Reizstoffe) Seelze 120 120 120 120

Hahnenberg II 1 000 1 000

Gesamt 360 760 1 760 1 760

Projekt »Oder« - 1 000

Summe aller K-Stoffe 1 860 3 860 8 060 9 060

Über die konkreten Vorbereitungen für eine Kapazitätserweiterung auf 8300 moto bis Oktober 1941 hinaus wurde eine Steigerung auf 14 300 moto für möglich gehal- ten. Als besonders wichtig galt der Aufbau einer IG-Farbenanlage in Dyhernfurth/

Oder, in der ab 1. April 1942 6000 moto Tabun produziert werden sollten. Bis zum Beginn des Frankreichfeldzugs hatten Produktions- und Vorratszahlen indes nicht die erwartete bzw. für notwendig gehaltene Höhe erreicht96:

Effektiv-Produktion (in Monatstonnen)

Okt. 1939 Nov. 1939 Dez. 1939 Jan. 1940 Febr. 1940 März 1940

Lost 580 480 493 371 426 1 062

Arsen Kampfstoffe 187 221 228 197 199 209

Reizstoffe 160 126 169 120 96 156

Gesamt 927 827 890 688 721 1 427

Juni 1940 Juli 1940 Aug. 1940 Sept. 1940 Okt. 1940 Kampfstoffe insges.: 1 206 947 680 620 590

Bis zum 1. April 1940 waren insgesamt 14 632 t Kampfstoff auf Vorrat, davon 8485 t eingelagert und 6147 t fertig munitioniert. Nach vollem Anlauf der Kapazitäten würde man nach den Berechnungen Krauchs bis 1. Oktober 1941 Kampfstoffvorräte in Höhe von 94 300 t anhäufen können. Er forderte daher noch einmal einen grund- sätzlichen »Befehl zur Ausnutzung aller K-Stoff-Kapazitäten und zum Anstreben ma- ximaler Bevorratung« sowie die Bereitstellung der dafür notwendigen Arbeitskräfte97. Zur gleichen Zeit waren aber vom O K W die Ausbauziele auf dem gesamten Pulver- Sprengstoffe und Vorprodukte (PSV)-Gebiet herabgesetzt worden, um den sich stän-

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